Die Explosion der Möglichkeiten
Seit dem 19. Jahrhundert haben uns Verkehrsmittel immer grössere Räume zugänglich gemacht. Das brachte den Menschen mehr Autonomie, aber auch neue Zwänge.
Mobilität ist viel mehr als Verkehr, wie er in Fahrleistungen oder Personenkilometern gemessen wird. Mobilität ist ein zentrales Phänomen unseres Alltags. Sie ist existenzielles Bedürfnis, kulturelle Praxis, hedonistischer Konsum. Unterwegssein ist anthropologische Notwendigkeit, sie ist Erfahrung, Welterschliessung, Risiko, Lust und Last zugleich. Mobilitätshandeln ist in der Regel zweckgebunden, mehr oder weniger routiniert, manchmal bewusst inszeniert, oft wenig reflektiert oder spontan und nicht weiter begründbar. Und nicht zuletzt ist Mobilität ein gesellschaftspolitisches und damit ein historisch wandelbares Phänomen. Eine erfolgreiche politische Steuerung des Verkehrs muss deshalb immer über die traditionelle Verkehrspolitik hinausgreifen. Gefragt ist eine umfassend reflektierte Mobilitätspolitik, die alle oben skizzierten Facetten unserer Mobilitätsbedürfnisse umfasst. Und die Herausforderungen sind im Zeichen des Klimawandels gross.
Von der Exklusivität zur Inklusion
Blicken wir zunächst aber zurück: Wie ist das alles gekommen? Die Zahl der Mobilitätsoptionen ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem vorher nie dagewesenen Ausmass gestiegen. Die denkbaren Aktionsräume sind inzwischen global. Immer mehr Menschen sind diese Optionen auch tatsächlich zugänglich geworden. Am Anfang steht der fundamentale Wandel durch die Eisenbahn und das Dampfschiff. Nicht länger bildete menschliche oder tierische Arbeit den limitierenden Faktor bei der räumlichen Fortbewegung. Die grosse gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist selbstverständlich nicht nur durch die Eisenbahn bedingt – Mobilität ist nie nur Ursache, sondern immer auch Wirkung –, sie ist aber ohne sie schwer vorstellbar.
Neben die Eisenbahn und ihre lokale Ausprägung, das Tram, traten bald weitere Optionen. Noch im 19. Jahrhundert erschien das Velo auf der Bildfläche, etwas später das Motorrad und das Automobil sowie ab der Zwischenkriegszeit das Flugzeug. Jedes dieser Verkehrsmittel bot aufgrund seiner spezifischen Charakteristika neue Optionen des Unterwegsseins, aber auch der Selbstdarstellung, die es aus individueller wie auch gesamtgesellschaftlicher Sicht optimal zu nutzen galt. Und keines dieser Verkehrsmittel ist von einem neueren ganz verdrängt worden, jedes hat eine bedeutende Position im Mobilitätssystem wahren können und blieb gewissermassen unverzichtbar. Dies auch, weil die einzelnen Verkehrsmittel ihre Angebote auf die immer subtileren individuellen Wünsche auszurichten vermochten: Die Bahn schuf Abonnemente aller Art; das Auto muss heute nicht gekauft, sondern kann auch bei Carsharing-Anbietern gemietet werden; es gibt Stadtvelos, Mountainbikes oder Cargobikes, mit oder ohne Elektromotor; geflogen werden kann eingepfercht im Billigflieger oder luxuriös in der Business Class. Heute können wir deshalb ganz selbstverständlich unsere Mobilitätswünsche sehr unterschiedlich und oft massgeschneidert abdecken.
Interessanterweise ist die Mobilität in gewissen Bereichen exklusiv geblieben, hat in anderen aber zur Inklusion vieler beigetragen. Neue Verkehrsmittel und damit auch neue Mobilitätsoptionen standen zunächst nur Begüterten zur Verfügung, wurden dann aber im Laufe der Zeit zu Massenverkehrsmitteln für Männer, Frauen und Kinder aller Schichten. Zuerst galt diese allgemeine Zugänglichkeit für das Velo, danach für die Eisenbahn, dann für das Auto und zuletzt für das Flugzeug. In diesem Sinn ist die Mobilität letztlich weniger als Phänomen der Exklusivität – dies ist sie teilweise selbstredend nach wie vor –, sondern vielmehr als Beitrag zur Inklusion von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppierungen zu sehen. Das gilt zuallererst für Frauen, die in der Schweiz oft schon Auto fuhren, bevor sie an der Urne mitentscheiden durften. Dies gilt aber beispielsweise auch für Kinder, alte Menschen oder Gruppen mit körperlichen oder geistigen Handicaps.
Die zunehmenden Optionen verleiten oft dazu, die Mobilitätsgeschichte als klassische Fortschrittsgeschichte zu lesen. In Zeitdiagnosen schwingt denn auch sehr häufig die meist positiv, je nach politischer Überzeugung aber auch negativ gewertete Annahme mit, dass die Menschen im Laufe der Moderne immer mobiler geworden seien. Diese Sicht gilt es zu hinterfragen, wie die Ergebnisse der neueren historischen Forschung zeigen. Die Menschen waren im 19. Jahrhundert nicht in jedem Fall weniger, sondern häufig einfach anders, eher nahräumlich mobil. Wir sollten uns verabschieden vom Bild einer kontinuierlichen Mobilitätszunahme, auch wenn wir heute viel mehr Kilometer zurücklegen. Dies könnte uns helfen bei der Verabschiedung von einer traditionellen Verkehrspolitik, die stark in einer Maximierungslogik verhaftet geblieben ist.
Die Stilisierung der Mobilität
Die neue Vielfalt der Mobilitätsoptionen hat sicher entscheidend dazu beigetragen, dass mit Mobilität zunehmend ein individualisiertes Lebensgefühl transportiert werden konnte. Distinktion über Mobilitätspraktiken war lange Zeit einigen Begüterten vorbehalten. In dem Mass, in welchem sich Mobilität vom «Müssen» zum «Wollen» entwickelt hat, konnten nun hierzulande fast alle ihren Lebensstil mit ihren Verkehrsmitteln oder ihren Reisezielen demonstrieren. Gut bekannt ist der oft ikonische Charakter von Automobilen, vom eleganten und mondänen Bugatti zum fortschrittsoptimistischen amerikanischen Strassenkreuzer, vom «Döschwo» (Citroën 2CV) der alternativen Szene zum Elektromobil der technophilen Ökobewegten.
Letztlich wurde aber mit der Stilisierung von persönlichen Lebensentwürfen über Mobilitätspraktiken auch die Mobilität selbst stilisiert. Es gab eine diskursive Verknüpfung von Mobilität und Modernisierung. Der Kerngedanke dahinter ist, dass Individualismus und soziale Differenzierung als Grundmerkmale der Moderne und die Mobilität sich gegenseitig aufschaukeln. In diesem Sinne hat die Stilisierung von Mobilität dazu geführt, dass besonders «mobile» Menschen (gemeint ist hier: eine hohe Zahl zurückgelegter Kilometer) auch besonders «moderne» und damit «gute» und «erfolgreiche» Menschen sind, und im Umkehrschluss, dass Immobilität als etwas Negatives, Rückwärtsgewandtes zu gelten hat. Das Beharren wird gegenüber der Bewegung begründungspflichtig. Diese Stilisierung von Mobilität ist nicht an das Auto gebunden, auch wenn sie sich dort vielleicht am augenfälligsten manifestierte. Sie zeigte sich vielmehr schon viel früher bei den Kutschen oder in der Begeisterung für die Eisenbahn.
Mobilität ohne Grenzen?
Die Mobilitätsentwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat uns die Welt in einem vorher völlig unvorstellbaren Ausmass zugänglich gemacht. Gleichzeitig hat sie neue Zwänge gebracht, und ihre Überhöhung hat einen realistischen Blick auf eine gesellschaftlich wünschbare Mobilität oft verstellt. In vielem wurden neue Ketten geschmiedet, an die gebunden sich viele Menschen heute plötzlich wiederfinden. Der Siegeszug des Autos beispielsweise drängte die anderen Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer an den Rand und definierte den öffentlichen Raum vielerorts in eine Verkehrsmaschine um. Die Freiheit, die vielen Optionen selbstbestimmt und manchmal auch gar nicht zu nutzen, ist in vielen Lebenssituationen einem subtilen, unausgesprochenen Zwang gewichen.
Lassen sich aus der historischen Analyse Orientierungshilfen für eine zukunftsfähige Mobilitätspolitik ableiten? Der Rückgriff auf die theoretischen Zeitdiagnosen des deutschen Soziologen und Politikwissenschafters Hartmut Rosa mag dabei hilfreich sein.1 Die «Wahlverwandtschaft» von Mobilität und Moderne zeigt sich nicht zuletzt in ihrer fortwährenden, wechselseitigen Beschleunigung. Der Hunger nach mehr scheint unstillbar. Hartmut Rosa hat diese «Steigerungslogik» in seinen Analysen zur Veränderung von Zeitstrukturen als konstituierendes Merkmal von modernen Gesellschaften überhaupt bezeichnet. Diese seien dadurch gekennzeichnet, «dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen, das heisst, dass sie fortwährend auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen sind, um ihre Struktur beziehungsweise den Status quo zu erhalten». Gemäss Rosas Diagnose hat uns diese Beschleunigungsspirale aber inzwischen in eine Sackgasse geführt: Habe das Steigerungsgeschehen zunächst tatsächlich dazu geführt, dass neue Autonomiespielräume geschaffen und gesichert worden seien, so hätten sich die Verhältnisse inzwischen umgekehrt. Die individuellen Lebensentwürfe dienten mehr und mehr nur noch dazu, im permanenten Steigerungslauf durch immer verzweifeltere und oft krankmachende Anstrengungen den Anschluss nicht zu verlieren. Das Grundversprechen der Moderne sei damit gebrochen, die individuellen und politischen Autonomiespielräume seien durch die Steigerungszwänge aufgezehrt.
Rosas Thesen lassen sich in vielem gut auf die Mobilität oder – hier vielleicht präziser – auf den Verkehr übertragen. Ob die gesellschaftliche Verstrickung in diesen «Steigerungslauf» als schicksalhaft gesehen wird oder ob doch Alternativen denkbar sind, soll hier offenbleiben, das Oszillieren zwischen Kulturpessimismus und Fortschrittsgläubigkeit wird uns weiter begleiten. Klar ist allerdings, dass der Steigerungslauf ungebrochen ist und gleichzeitig zunehmend an Grenzen stösst. Ein erster Hinweis auf letzteres sind die in den letzten Jahren erstmals seit Jahrzehnten wieder steigenden Zeitaufwände für den Pendlerverkehr. Die oft nervtötende Zeit, die viele in den überfüllten Pendlerzügen oder seit Corona vermehrt auf der Autobahn im Stau verbringen, wird von immer mehr Menschen als Belastung empfunden. Der Trend zu mehr Homeoffice könnte eine gewisse Entlastung bringen, aber er hat in der Vergangenheit eher dazu geführt, dass wir nur noch weiter von zu Hause entfernte Jobs annehmen, zu denen wir dann doch mehrmals pro Woche pendeln müssen.
«Das gewaltige Wachstum des Flugverkehrs reibt sich mehr und mehr mit den Anforderungen einer zukunftsfähigen Klimapolitik.»
Kritische Feedbacks gibt uns als weiterer Hinweis auch die natürliche Umwelt: Das gewaltige Wachstum des Flugverkehrs reibt sich mehr und mehr mit den Anforderungen einer zukunftsfähigen Klimapolitik. Und gleichzeitig definiert das automatisierte Fahrzeug als neuer Aussenraum unserer Wohnung womöglich die Grenzen der Mobilität neu: Denn können wir darin nicht fast alles machen, was wir zu Hause auch tun? Das Ringen um eine nachhaltige Verkehrsentwicklung könnte zur prototypischen Herausforderung für einen nachhaltigen Konsum ganz allgemein werden.
Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M., 2005. ↩