Die EU-Zyniker
Wohin geht Europa? Das fragen sich immer mehr EU-Bürger. Und werden zu konsequent inkonsequenten Nein-Sagern.
Es gibt Momente, in denen man sich schämt, Bürger zu sein – dann nämlich, wenn die politischen Leader des eigenen Landes ihre Wähler in öffentlichen Statements verhöhnen. Solche Schamgefühle empfand ich, als ich las, wie der slowenische Aussenminister auf das irische Nein zum Vertrag von Lissabon reagierte. Er verkündete in aller Öffentlichkeit, dass die europäische Einigung zu wichtig sei, um gewöhnlichen Leuten und ihren Referenden überlassen zu werden. Wenn man stets der Mehrheit folge, liessen sich weder grosse Veränderungen noch Visionen verwirklichen. Die politischen «Eliten» seien imstande, weiter in die Zukunft zu blicken. Die Demonstration politischer Arroganz gipfelte in der Aussage: «Wenn wir auf irgendeine Volksinitiative gewartet hätten, so würden sich die Franzosen und die Deutschen heute wohl noch immer über die Visiere ihrer Waffen hinweg betrachten.»
Es ist kein Zufall, dass es der Politiker eines kleines Landes war, der sich so äusserte. Führer grosser Mächte können es sich nicht leisten, den Zynismus des Denkens offen auszusprechen, der ihrem Handeln zugrunde liegt – dieses Privileg ist kleinen Ländern vorbehalten. Welches also waren in diesem Fall die Überlegungen?
Das irische Nein am 13. Juni 2008 ist eine Wiederholung der französischen und holländischen Ablehnung des Projekts einer EU-Verfassung (2005). Viele Interpretationen des irischen Neins wurden seither herumgereicht, wobei sich einige von ihnen obendrein widersprechen: das Nein sei die Explosion eines beschränkten, in Europa verbreiteten Nationalismus, der sich von der durch die USA verkörperten Globalisierung fürchte; die USA selbst stünden hinter dem Nein, weil sie die Konkurrenz des vereinten Europa fürchteten und deshalb lieber auf bilaterale Abkommen mit schwachen Partnern setzten… Wie dem auch sei, solche Ad-hoc-Deutungen verfehlen den entscheidenden Punkt: dass wir es nämlich mit einer Wiederholung zu tun haben. Dahinter steckt kein Zufall und ebensowenig die Verschwörung irgendeiner Grossmacht, sondern die wachsende Unzufriedenheit von Menschen, von Bürgern wie dir und mir.
Nachdem nun einige Monate vergangen sind, können wir klarer sehen, wo das wahre Problem liegt: unheilverkündender als das Nein selbst ist die Reaktion der europäischen Politklasse auf dieses Nein. Die Politiker scheinen nichts aus den ablehnenden Voten von 2005 gelernt zu haben und wollen die Botschaft der Europäer einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Am EU-Treffen in Brüssel vom 19. Juni zeigten sie ihr wahres Gesicht – nach den obligaten Lippenbekentnissen, den Entscheid der irischen Bevölkerung respektieren zu wollen. Die irische Regierung sei ein schlechter Lehrer, der es versäumt habe, die zurückgebliebenen Schüler zu disziplinieren und zu erziehen. Deshalb sollen die irische Regierung (und die irischen Schüler) eine zweite Chance erhalten, einige zusätzliche Monate, um den Fehler zu korrigieren. Die angebliche zweite Chance ist freilich nichts anderes als eine erzwungene Wahl: die Wähler sind aufgerufen, das Unvermeidliche zu ratifizieren, das Resultat erleuchteter Sachkenntnis.
Das war schon beim ersten Referendum so. Die EU-freundlichen Medien und die politische Klasse in Irland präsentierten das Referendum als eine Wahl zwischen Wissen und Unwissenheit, zwischen Sachkenntnis und Ideologie, zwischen postideologischer Regierung und alten politischen Leidenschaften. Eine solche Wahl erlaubt eigentlich kein Nein – das tatsächliche Nein muss deshalb ein Monument der Unfähigkeit der medialen und politischen Klasse sein, die Sehnsüchte und Sorgen vieler Menschen für eine neue politische Vision fruchtbar zu machen.
Das Referendum hatte deshalb durchaus etwas Unheimliches. Das negative Resultat wurde erwartet und stellte dennoch eine Überraschung dar – als hätte man gewusst, was kommen würde, hätte aber nicht wirklich daran geglaubt, dass es käme. Diese unter Politikern verbreitete Realitätsverweigerung widerspiegelt eine sehr unheilvolle Spaltung zwischen Wählern und Politikern: die Mehrheit (der Minderheit, die überhaupt abstimmte) war dagegen, obwohl alle im Parlament vertretenen Parteien (mit Ausnahme der Sinn Fein) sich emphatisch dafür aussprachen.
Dasselbe Phänomen lässt sich auch in anderen Ländern beobachten, zum Beispiel im benachbarten Grossbritannien, wo Tony Blair vor dem Sieg in den letzten Wahlen 2005 von einer grossen Mehrheit der Briten zur meistgehassten Person im eigenen Land gewählt wurde. Der mündige Wähler weiss zwar (oder glaubt zu wissen), dass Blairs Politik die einzig vernünftige Option ist, aber dennoch… Er ist buchstäblich gespalten: er wählt, und distanziert sich zugleich von seiner Wahl. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die auf dem Mehrparteiensystem beruhende repräsentative Demokratie die Leute nicht mehr abzuholen versteht. So wächst ein diffuses Ressentiment heran, das in Ermangelung einer demokratischen Repräsentanz zu obskuren, irrationalen Ausbrüchen führt.
Viele Politiker pflegen diesen Widerstand als blossen Ausdruck der Engstirnigkeit des simplen Wählers abzutun, als Problem mithin, das sich mit besserer Kommunikation und Erklärungen überwinden lasse – wobei eine solche Haltung natürlich ihrerseits Ausdruck politischer Engstirnigkeit ist. Damit wären wir wieder beim ungeschickt agierenden slowenischen Aussenminister angelangt. Seine Äusserungen sind nicht nur faktisch falsch – der grosse französisch-deutsche Konflikt explodierte nicht wegen der Leidenschaften gewöhnlicher Leute, sondern die Entscheidung dafür wurde vielmehr von den politischen «Eliten» hinter dem Rücken der gewöhnlichen Leute getroffen. Die Äusserungen enthalten darüber hinaus auch eine falsche Auffassung über die Funktion der Eliten. In einer Demokratie besteht ihre Rolle nämlich nicht nur darin, Entscheidungen zu treffen, sondern auch darin, die Mehrheit von der Richtigkeit der Entscheidungen zu überzeugen, sie mithin instand zu setzen, in der staatlichen Politik die eigenen Bemühungen um Wohlstand und Gerechtigkeit zu erkennen.
Die Wette der Demokratie besteht darin, dass man zwar alle Leute einige Zeit und einige Leute alle Zeit, aber nicht alle Leute alle Zeit zum Narren halten kann (wie Abraham Lincoln es einst formulierte). Ja, gewiss, Hitler kam demokratisch an die Macht. Doch längerfristig, trotz aller Irrungen und Wirrungen, bleibt uns nichts übrig, als der Mehrheit zu vertrauen (unter der Bedingung freilich, dass die elementaren Grundrechte gewahrt bleiben). Es ist diese Wette, die die Demokratie am Leben erhält, weil sie eine lebendige Auseinandersetzung garantiert – wenn wir diese aufgeben, haben wir auch die Demokratie aufgegeben.
Und genau an diesem Punkt sind die europäischen Eliten kläglich gescheitert. Wenn sie wirklich bereitgewesen wären, den Willen der Wähler zu respektieren, wie sie beteuern, so hätten sie die Botschaft des anhaltenden Misstrauens akzeptieren müssen. Sie hätten sich eingestehen müssen, dass das Projekt der europäischen Einigung in der heute bestehenden Form Schiffbruch erlitten hat. Die Wähler haben sich vom politischen und medialen Klimbim nicht betören lassen und den Finger auf den wunden Punkt gelegt: den Mangel einer wahren politischen Vision (und vielleicht wäre der Mangel einer politischen Vision die höchste politische Vision, aber das ist eine andere Geschichte). Das irische Nein ist jedenfalls keine Ablehnung, sondern eine Einladung – eine Einladung an alle europäischen Politiker, endlich eine Debatte darüber zu lancieren, welches Europa wir wirklich wollen.
aus dem Englischen von René Scheu
Slavoj Žižek, geboren 1949 in Ljubljana, ist Philosoph und Psychoanalytiker. Sein Werk erscheint im Suhrkamp-Verlag.