Die EU-Frage…
…wird selbst von den Sozialdemokraten ausgeklammert. Die Mitte-Bürgerlichen verstecken sich hinter dem Fetisch Bilateralismus. Die Beschwörungen der Konservativen sind vor allem Rhetorik. Und ein EU-Beitritt der Schweiz ist ohnehin tabu. Falsch!
Zugegeben, die These, mit der ich für diesen Essay konfrontiert wurde, ist steil: Der Bilateralismus sei zum Fetisch geworden, hinter dem sich die Bürgerlichen verschanzen würden. Eine offene Diskussion über die Kosten einer Kündigung der Verträge oder – alternativ – einer vollen europäischen Integration werde tabuisiert. Darum solle ich mit einem Plädoyer für den EU-Beitritt der Tabuisierung entgegenwirken.
Die Fetischthese hat ihre Berechtigung. Die öffentliche Debatte um die Rolle der Schweiz in Europa ist kümmerlich. Statt mit zukunftsgerichteten Argumenten zu streiten, betreiben Konservative rückwärtsgewandte Nabelschau. Und Liberale wie Progressive beschränken sich auf die Verteidigung des Status quo. Klar, dass angesichts dieser Mutlosigkeit die opportunistische Formel des «bilateralen Wegs» zur heiligen Kuh wird. Dieser Fetisch ist allerdings nur eine Folge, nicht die Ursache des helvetischen Malaises mit der EU. Dieses liegt vielmehr in der Schwäche der liberalen und progressiven Kräfte, die politische und wirtschaftliche Stellung der Schweiz in Europa richtig zu analysieren, ihre Geschichte innerhalb des Weltgefüges sauber einzuordnen und die positiven Zukunftsperspektiven der europäischen Integration wirksam zu erzählen.
Realistische Selbstwahrnehmung der Schweiz
Statt sich auf diese zugegebenermassen schwierige Arbeit einzulassen, hat man sich links der SVP stillschweigend darauf geeinigt, Europa im Wahljahr auszuklammern. Dabei wurde spätestens nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und der Aufhebung des Euromindestkurses klar: Abschottung, Alleingang, nationale Nabelschau und die Verklärung eines verkürzten Souveränitätsbegriffs funktionieren heute nicht – und werden es in Zukunft ebenso wenig. Die Schweiz ist im 21. Jahrhundert keine Insel der gesellschaftlichen und ökonomischen Glückseligkeit. Wir sind, ob wir wollen oder nicht, Teil der europäischen Werte- und Völkergemeinschaft mit all ihren Stärken und Schwächen. Und wir sind Teil des europäischen Binnenmarktes mit all seinen Vorzügen und Verwerfungen. Darum können wir die Grundsatzfrage unserer politischen Rolle in Europa nicht länger aussitzen. Wem an der Schweiz gelegen ist, tut gut daran, diese Frage mit Neugier und Mut zu debattieren.
Für eine sachliche Debatte brauchen wir eine realistische historische und aktuelle Selbstwahrnehmung. Zentral ist ein Geschichtsbild, das sich an der Forschung und nicht an Mythen orientiert. Wir können entweder den Legenden des Rütli-Morgarten-Marignano-Reduit-Sonderfalls aufsitzen oder die moderne Schweiz endlich als das begreifen, was sie ist: eine europäische Erfindung. Der Bundesstaat, auf dessen Fundament wir noch heute stehen, wurde im Zuge des innerschweizerischen Sonderbundskrieges, aber eben auch der europäischen Revolutionen von 1848 geboren. Die wichtigsten konstitutionellen Grundlagen dieser Staatsgründung stammen aus dem Ausland. Napoleon brachte uns mit dem Ende der territorialen Untertanenverhältnisse den gleichberechtigten Föderalismus. Einheit, Neutralität und Souveränität wurden uns 1815 am Wiener Kongress im Interesse der Grossmächte zugestanden. Das parlamentarische Zweikammersystem hat die US-Verfassung zum Vorbild. Der politische Liberalismus als Leitideologie unseres Bundesstaates stammt von englischen und französischen Denkern wie John Locke, dem Baron de Montesquieu oder John Stuart Mill. Und die Ideen für die direktdemokratischen Elemente unseres politischen Systems stammen aus der Feder von Jean-Jacques Rousseau. Der Genfer Philosoph, in ganz Europa wandernder Gelehrter und Inspirator der jakobinischen Revolution, kann – aus heutiger Perspektive – als ausgezeichnetes Beispiel eines wahrhaft europäischen Schweizers betrachtet werden. Zudem sind drei von vier Schweizer Amts- und Landessprachen die Sprachen von grossen europäischen Kulturnationen.
Auch unser 20. Jahrhundert war viel europäischer, als viele wahrhaben wollen. Zwar förderten das unversehrte Überstehen der Weltkriege und die geistige Landesverteidigung das Sonderfalldenken. Doch faktisch machte auch die Schweiz europäische Erfahrungen: Auch wir wurden von den Alliierten vor den Fängen des Nationalsozialismus und des Faschismus befreit. Auch unser Land profitierte vom Marschallplan, der das Nachkriegswirtschaftswunder Westeuropas initiierte. Die Nato schirmte auch die Schweiz im Kalten Krieg ab. Und: die europäische Friedensordnung und die Europäische Menschenrechtskonvention brachten auch unserer Bevölkerung Sicherheit und Freiheit. Es gibt darum keinen historischen oder ideellen Grund, warum die Schweiz keine europäische Selbstwahrnehmung haben und darum nicht Teil der europäischen Gemeinschaft sein sollte.
Mit Blick auf die Zukunft gibt es umso mehr gute Gründe für ein Mitmachen bei der europäischen Integration. Alle grossen Zukunftsfragen sind global und erfordern zumindest eine handlungsfähige kontinentale Politik: geopolitische Konflikte, Klimawandel, Migration, gerechte Verteilung des Reichtums, demographischer und wirtschaftlicher Bedeutungsverlust Europas und des atlantischen Raumes, Regulierung des Cyberspace, Religionsfrieden. Wer diese und andere Herausforderungen in der Isolation des einzelnen Nationalstaats anzugehen versucht, wird scheitern. Das betrifft auch die Schweiz. Darum gehört auch diese Einsicht zu einer realistischen Selbstwahrnehmung unseres Landes.
Raus aus der wirtschaftlichen Sackgasse
Eine europäische Schweiz ist aber nicht nur das Ergebnis einer realistischen Selbstwahrnehmung, sondern auch ein vitales Interesse unserer Volkswirtschaft. Viele Schweizerinnen und Schweizer glauben zwar, der wirtschaftliche Erfolg unseres Landes gründe darauf, dass wir der europäischen Integration ferngeblieben seien und den politischen Alleingang gewählt hätten. Richtig ist das Gegenteil. Als Beleg genügt ein Blick in die 1990er Jahre. Nach der knappen Ablehnung des EWR-Beitritts 1992 geriet die Schweizer Wirtschaft in eine lange Stagnation mit einer starken Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Der politische Alleingang, eine hausgemachte Immobilienkrise und eine schweizerisch-souveräne, aber nachweislich schädliche Hochzinspolitik der Nationalbank führten zu einem «verlorenen Jahrzehnt» für die Wirtschaftsentwicklung unseres Landes. Die jüngste Variante des «Erfolgsmodells Schweiz» kam erst zum Vorschein, als im neuen Jahrtausend die bilateralen Verträge samt Personenfreizügigkeit geregelte Wirtschaftsbeziehungen zu Europa ermöglichten. Auf europäischer wie auf globaler Ebene gilt: die Vernetzung, nicht die Isolation, war und ist der Schlüssel unserer wirtschaftlichen Stärke. Die gegenteilige Erzählung mag derzeit populär sein, falsch ist sie trotzdem.
Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative droht uns ein ähnliches Szenario wie nach dem EWR-Nein. Europa wird – zu Recht! – nie akzeptieren, dass die Schweiz vom europäischen Binnenmarkt profitiert, ohne zugleich den freien Personenverkehr als Herzstück der europäischen Integration zu respektieren. Das mögliche Scheitern der derzeitigen Verhandlungen verbreitet am Investitions-, Forschungs- und Bildungsstandort Schweiz Unsicherheit. Das ist Gift für eine prosperierende Zukunft. Ein politischer Alleingang führt direkt in die wirtschaftliche Sackgasse.
Natürlich darf und soll die wirtschaftspolitische Rolle der europäischen Institutionen seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 sehr kritisch beurteilt werden. Heute sind sich EU-Freundinnen und -Freunde wie -Kritikerinnen und -Kritiker einig, dass der Euro gravierende Geburtsfehler aufweist. Zudem lässt sich kaum bestreiten, dass die unter deutscher Führung von der EU mitgeprägte Austeritätspolitik und die dafür verantwortlichen Ungleichgewichte in den nationalen Handelsbilanzen weder sozial verträglich noch wirtschaftlich tragbar sind. Insofern ist aus einer gesamteuropäischen Sicht wirtschaftspolitische Kritik an die Adresse der EU gerechtfertigt und wichtig.
Aus Schweizer Perspektive ist es aber intellektuell unredlich, zu behaupten, unser Land sei gut durch die Krise gekommen, weil wir abseits standen. Denn die Rechnung ist und bleibt für die Schweiz eindeutig: Als kleine offene Volkswirtschaft mitten in Europa haben wir vom europäischen Binnenmarkt und zumindest bis zur Eurokrise 2010 auch von der Einheitswährung, welche auch unsere Kosten des Exports tief hielt, stark profitiert. Als Exportland gehören wir dank und nicht trotz der wirtschaftspolitischen Öffnung gegenüber den EU-Ländern zu den Krisengewinnern. Dass gewisse Eurogegnerinnen und -gegner mit Herablassung auf ein äusserst unwahrscheinliches Scheitern des Euro spekulieren, zeugt von Zynismus und Ignoranz. Gegen solche Beschwörungen müssen wir uns im Interesse unserer wirtschaftlichen Zukunft wehren.
Angesichts der aktuellen Schwierigkeiten unserer Exportwirtschaft und des Tourismus sollten wir auch den Mut haben, uns vorurteilsfrei zu fragen, wie lange wir uns angesichts des überstarken Frankens und seiner Volatilität noch die währungspolitische Scheinselbständigkeit leisten wollen. Entspricht es unserem Interesse, dass sich die Schweiz als Tresor des weltweiten Kapitals positioniert – und sich damit die Chance entgehen lässt, alle Energien darauf zu verwenden, die Position als innovativer Forschungs- und Werkplatz zu stärken? Lässt man die Wechselkurse frei spielen, ist unsere Währung den weltweiten Kapitalströmen ausgeliefert. Das schadet direkt der Wettbewerbsfähigkeit der Realwirtschaft. Oder: Notmassnahmen wie Negativzinsen und/oder massive Aufblähungen der Nationalbankbilanz verkommen zum Dauerzustand.
In einer etwas weitsichtigeren volkswirtschaftlichen Perspektive ist es generell wenig plausibel, warum so ähnliche und eng vernetzte Wirtschaftsregionen wie zum Beispiel Baden-Württemberg und Zürich, die Ostschweiz und Vorarlberg oder Graubünden und Tirol/Südtirol auf ewig unterschiedliche Währungen haben sollten. Darum ist eine noch tabuisierte Frage äusserst virulent: Wann fordert der Schweizer Werkplatz den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Währungsunion?
Eine demokratische Vision für Europa
Der schweizerische Alleingang überzeugt weder aus historischen noch aus wirtschaftlichen Gründen. Bleibt das beste Argument der Gegner eines EU-Beitritts, die direkte Demokratie. Diese vorbildliche Schweizer Institution der unmittelbaren Einflussnahme der Bürgerinnen und Bürger auf den legislativen Prozess hat sicher eine staatsbildende, integrierende und identitätsstiftende Bedeutung für unser Land. Sie würde von einem Beitritt in die heutige EU mindestens zum Teil tangiert.
Generell sollten die demokratischen Defizite der heutigen EU von Pro-Europäerinnen und -Europäern nicht schöngeredet werden. Die Schwäche des Parlaments gegenüber der Kommission und insbesondere dem Rat – also den nationalen Regierungen – ist ein grosses Legitimations- und Funktionsproblem der EU. Auch die schlecht legitimierte Macht der EU-Technokratie – man denke an die Untaten der Troika im Falle Griechenlands – sowie das von Deutschland vorangetriebene Austeritätsdogma widersprechen der Idee eines demokratischen Europas fundamental. Aber auch die Unfähigkeit der europäischen Regierungen und indirekt darum auch der EU-Institutionen, die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer wirksam anzugehen und eine menschliche wie solidarische gemeinsame Asylpolitik zu entwickeln, lassen die Hoffnung der Menschen auf ein wahrhaft demokratisches Europa kleiner werden.
Letztlich sind die demokratischen Schwächen der EU ein Beispiel für die Tücken der Politik im globalen Zeitalter. Wenn nationale Lösungen nicht mehr ausreichen, aber zugleich die übernationalen Institutionen noch keine sauberen demokratischen Strukturen und keine gefestigte gemeinsame politische Kultur kennen, löst dies politische Zentrifugalkräfte aus. Im schlimmsten Fall zerreissen diese den Glauben an die Demokratie und an die politische Integration und befeuern einen kruden Nationalismus.
Darum gibt es für Progressive nur eine zukunftsträchtige Option: Europa braucht mehr Demokratie. Am besten in Form eines modernen europäischen Föderalismus. Schweizer Progressive sollten unbedingt europäische Föderalisten sein. Als solche wollen sie die nationalen, regionalen und historischen Identitäten respektieren und schützen. Die Sprachen- und Kulturvielfalt, das Erbe der Antike, die christliche Sozialethik, die Renaissance und die Reformation, die Aufklärung und die Moderne mit ihren bürgerlichen Revolutionen. All das macht Europa aus. Diese Kulturwerte sind in jedem Land in ihren jeweiligen Ausprägungen zu erhalten. Aber es gibt auch einen anderen Wert Europas. Das Erbe der Arbeiter- und Frauenbewegung, die in allen Nationen Europas ein demokratisches und soziales Gesellschaftsmodell erkämpft haben, in der Gleichberechtigung herrscht und die Wirtschaft nicht dem Reichtum der wenigen, sondern der Wohlfahrt aller dient. Dieses Gesellschaftsmodell wird in der Welt des 21. Jahrhunderts weit mehr bedroht als die nationalen Besonderheiten. Die einzige Antwort auf diese Bedrohung ist eine Internationalisierung der Politik, gekoppelt mit einer Demokratisierung der internationalen Institutionen. Darum müssen Progressive auf dem ganzen Kontinent für ein vereinigtes, demokratisches und föderalistisches Europa einstehen.
Für diese Vision lohnt es sich politisch zu kämpfen. Auch und gerade in der Schweiz. Aus dem «bilateralen Weg» einen Fetisch zu machen, lenkt letztlich von den Grundsatzfragen ab. Als Vielvölkerstaat und Willensnation mitten in unserem Kontinent sind wir prädestiniert, einen wichtigen Beitrag für mehr Demokratie und Föderalismus in Europa zu leisten: Eine europäische Schweiz für ein demokratisches Europa.