Die Erwartung der anderen

Vor einiger Zeit führte ich mit einer Freundin in der Sauna ein Frauengespräch. Besuchen wir die Sauna, steht im voraus fest, worum sich die Unterhaltung drehen wird: um einen Mann. Es ist zur Tradition geworden, uns in der Sauna zu treffen, wenn eine von uns in einer Beziehungskrise steckt. Dieses Mal ging es um meine Freundin.

Rasch stellte sich heraus: Es ist kompliziert. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie den Mann, mit dem sie zusammen war, noch liebte. Gleichzeitig erklärte sie mir, dass sie mit ihm zusammenziehen wollte.

Meine Freundin hat noch nie mit einem Partner zusammengewohnt. Dass sie nun ausgerechnet mit jenem Mann zusammenziehen wollte, von dem sie nicht mehr wusste, ob sie ihn liebte, liess Runzeln auf meine Stirn treten. Ich fragte, wie sie auf die Idee komme. Sie erklärte mir, sie sei nun fast fünfzig – es sei an der Zeit, zu beweisen, dass auch sie fähig sei, mit jemandem zusammenzuleben. Wem genau sie das beweisen müsse, wollte ich wissen. «Mir selbst», antwortete sie. «Warum?», hakte ich nach. «Weil alle anderen es können. Jeder normale Mensch wohnt mit seinem Partner zusammen.»

Nach einer heissen Stunde in der Sauna fanden wir heraus, dass es um mehr ging als um einen Selbstbeweis. Nicht sich selbst, sondern der Gesellschaft wollte meine Freundin beweisen, dass sie «gesellschaftskonform» leben konnte. Noch eine schweisstreibende Stunde später kamen wir darauf, dass es nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Eltern waren, deren unausgesprochenen Erwartungen meine Freundin erfüllen wollte. Auch jetzt, nach fünfzig Lebensjahren, hallt die Erziehung in unseren Köpfen nach – obwohl genau diese Furcht, die Erwartung der anderen nicht zu erfüllen, uns unfrei macht. Ich wünschte mir, wir wären dazu erzogen worden, uns nicht so sehr darum zu scheren, was die anderen denken – es hätte uns das Leben einfacher gemacht.

Nach unserem Saunabesuch trennte sich meine Freundin von ihrem Partner. Sie hat jetzt einen neuen Freund. Vor wenigen Wochen sind sie zusammengezogen.