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Die erlesenen Perspektiven des Claus Helmut Drese

Das Theater ist in der Krise, heftiger und grundlegender, als man es noch vor zehn Jahren für möglich gehalten hätte. Längst ist sein Anspruch zerronnen in der fortwährenden Verwässerung des Kulturbegriffs, der von der «Unternehmens-» bis hin zur «Szenekultur» keinem, auch noch so marginalen, Lebensbereich vorenthalten wird. Die Mahnung, es handle sich im Theater um […]

Das Theater ist in der Krise, heftiger und grundlegender, als man es noch vor zehn Jahren für möglich gehalten hätte. Längst ist sein Anspruch zerronnen in der fortwährenden Verwässerung des Kulturbegriffs, der von der «Unternehmens-» bis hin zur «Szenekultur» keinem, auch noch so marginalen, Lebensbereich vorenthalten wird. Die Mahnung, es handle sich im Theater um den Umgang mit Kunstwerken, gilt als heillos gestrig. Und längst sind die Texte, die in der Regel der Vergangenheit entstammen, zum Freiwild hemmungsloser Regisseure verkommen, denen ihr entgrenztes Assoziationsvermögen als letzte interpretatorische Instanz gilt, bejubelt von einer publizistischen und gesellschaftlichen Schickeria, der es auf den Bühnen nicht «interessant», «provozierend» und «verstörend» genug zugehen kann. Was soll man von einem namhaften Regisseur und Intendanten halten, der zum ersten Tristan-Akt (erste Szenenanweisung: «auf dem Vorderdeck eines Seeschiffes») erklärt, selbstverständlich spiele das bei ihm nicht auf einem Schiff? Wer hier historische Verantwortung anmahnt und derlei unerträgliche Borniertheiten für unzulässig erklärt, gilt heute gemeinhin als jemand, der von den Erfordernissen des gegenwärtigen Theaters eben nichts verstehe.

Die Zeiten waren anders, und es ist noch nicht lange her. Claus Helmut Drese ist einer der bedeutendsten, einflussreichsten Theaterleute des 20. Jahrhunderts, Intendant an grossen Bühnen, darunter Köln, Zürich und die Wiener Staatsoper, einer der letzten, der – wie in Köln – noch zuständig war für alle Theatersparten, zudem ein Intendant, der selbst immer wieder Regie geführt hat. Er ist natürlich ein Impresario alten Schlages, aber einer, der sich seiner Verantwortung stets bewusst war: im Theater und speziell im Opernhaus Werke in aller Verantwortlichkeit präsent zu halten. Immer wieder hat er appelliert, dass dies im produktiven Spannungsfeld zwischen Historie und Gegenwart, zwischen dem Wissen um das Vergangene und seiner angemessenen Vergegenwärtigung, zwischen Distanz und Nähe zu geschehen habe. Seit seinem Abschied aus dem aktiven Theaterleben in den 1990er Jahren hat Drese etliche Bücher geschrieben, und in diesen Büchern zeigt er sich, mehr und mehr, als ein Leser, ein Leser von Werken, von Partituren, von Deutungen. So lag es eigentlich nahe, irgendwann das eigene Leben gewissermassen in die Leseerfahrungen aufzulösen. Das so entstandene Buch mit dem schönen und doppeldeutigen Titel «Erlesene Jahre» ist eine Chronologie der persönlichen Lektüren, beginnend in der Gegenwart des heute 87jährigen und rücklaufend in die Robinson-Begeisterung des Knaben.

Jedem Jahreskapitel sind in Stichworten jene Persönlichkeiten vorangestellt, deren Verlust Drese beklagt. Was anderswo als Eitelkeit gelten könnte, erweist sich hier als gelebte Erfahrung. Ein halbes Jahrhundert in hoher Verantwortlichkeit gestalteten Theaters hat ihn mit nahezu allen von dessen Grössen in persönliche Verbindung gebracht, von Freundschaften wie derjenigen mit István Kertész oder Jean-Pierre Ponnelle bis hin zu den zahlreichen beruflichen Begegnungen, die von Günter Wand bis zu Luciano Pavarotti reichen. Immer wieder wird erkennbar, dass Dreses lesende Lebensreise auch eine stete, nie nachlassende Bemühung ist, die Kunstwerke, die doch den eigentlichen Lebensinhalt ausmachen, besser, genauer, angemessener zu verstehen. Stets ist dabei das von den Beliebigkeiten des gegenwärtigen Theaters ausgelöste Befremden erkennbar. Wie bei Joachim Fest, dessen späte Erinnerungen ebenfalls gewürdigt werden, tönt die Erfahrung des Zeugen schlimmer Zeiten durch. Wer erleben konnte, wie labil die Identität von Texten sein konnte in Zeiten von Diktatur und Krieg, als Instrument des Missbrauchs für die einen, als Refugium der Identitätsstiftung für die anderen, hält den Raum der Deutungen nicht für grenzenlos.

Gerade deswegen besitzen Dreses Lektüren aber auch keinen Appellcharakter; sie fordern zu nichts auf es sei denn, zur fortwährenden Nachdenklichkeit. All dies erscheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts merkwürdig unzeitgemäss und entrückt und doch: das Theater und die Oper der Gegenwart bedürfen dieser Nachdenklichkeit mehr denn je. Dreses «erlesene Jahre» bergen demnach in sich nicht bloss einen Rückblick, sondern eine Perspektive für einen über weite Strecken entgleisten Betrieb. Das ist wahrlich nicht wenig.

vorgestellt von Laurenz Lütteken, Zürich

Claus Helmut Drese: «Erlesene Jahre. Begegnungen – Erfahrungen – Inszenierungen. 2007-1932». Berlin: Dittrich, 2008

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