Die Einheitsgrösse passt nicht mehr
Sonja Studer, zvg.

Die Einheitsgrösse passt nicht mehr

Technologischer Wandel und gesellschaftliche Veränderungen stellen die Berufslehre vor Herausforderungen. Um ihnen zu begegnen, wird in der technischen Industrie nun ein berufsübergreifendes, modulares Ausbildungsmodell entwickelt.

 

Ein Elternabend irgendwo in der Zürcher Agglomeration. Zwei Stunden lang haben Bildungsfachleute, Lehrpersonen und ­Berufsleute mit unterschiedlichstem Hintergrund den Eltern die Vielfalt des Schweizer Bildungssystems nähergebracht und von ihren persönlichen Entwicklungs- und Karrierepfaden berichtet. Bei der abschliessenden Fragerunde dominiert jedoch ein einziges Thema: «Wie bringe ich mein Kind erfolgreich ins Gymnasium?» Die Berufsbildung – ein Auslaufmodell?

Ein Konferenzraum irgendwo in Bern. Eine hochrangige ausländische Delegation lässt sich von Schweizer Bildungsfachleuten das Prinzip der dualen Berufsbildung erläutern und diskutiert, wie sie Elemente davon auf das Bildungssystem ihres Herkunftslands übertragen könnte. Beim Bund ist man solche Besucher ­gewohnt: Das Schweizer Berufsbildungssystem interessiert ­Bildungspolitiker und Wirtschaftsvertreter rund um die Welt. Die Berufsbildung – ein Vorzeigemodell?

Die zwei Szenen illustrieren, wie unterschiedlich die Berufsbildung heute wahrgenommen wird. Tatsache ist: Zwei Drittel der Jugendlichen in der Schweiz entscheiden sich für eine Berufslehre. Kein anderes Land verfügt über ein derart vielfältiges und fest in der Gesellschaft verankertes Berufsbildungssystem. Rund 240 Lehrberufe stehen zur Auswahl – wobei fast die Hälfte der ­Jugendlichen sich für einen der 10 populärsten Berufe entscheidet. Jungen wählen dabei übrigens ein deutlich breiteres Berufsspektrum als Mädchen.

Welche Kompetenzen braucht es in Zukunft?

Auch wenn immer mehr Schweizerinnen und Schweizer einen Maturitätsabschluss in der Tasche haben (gemäss Bundesamt für Statistik sind es gegenwärtig 40,9 Prozent), ist die gymnasiale ­Maturitätsquote in den letzten Jahren bei rund 21 Prozent weit­gehend stabil geblieben. Zugenommen haben vor allem die Abschlüsse der Berufsmaturität. Wir Schweizer sind also auch heute noch geprägt von der Berufsbildung. Und das ist gut so.

Dass die Kultur eines dualen Bildungssystems zu tiefer Jugendarbeitslosigkeit führe, wie in internationalen Vergleichs­studien wiederholt postuliert, ist statistisch bisher zwar weder eindeutig bewiesen noch widerlegt worden. Doch die gängigen Wirtschafts- und Bildungsrankings legen nahe, dass die Schweiz mit ihrem praxisnahen und am Arbeitsmarkt orientierten Bildungssystem insgesamt gut fährt.

Was in anderen Ländern als «Vocational Education and Training» oder kurz VET bezeichnet wird, hat mit dem, was wir im deutschsprachigen Raum unter Berufsbildung verstehen, meist wenig zu tun. Zwei Merkmale zeichnen das Schweizer Berufs­bildungssystem aus: Die Dualität aus Theorie und Praxis und die Partnerschaft von Staat und Privatwirtschaft.

Die duale Berufsbildung kombiniert Theorie und Praxis, indem sie die Ausbildung auf die drei Lernorte Betrieb, Berufsfachschule und überbetriebliche Kurse aufteilt. Durch die praktische Ausbildung im Betrieb tauchen die Lernenden schon früh in die Arbeitswelt ein. Nach Abschluss ihrer Ausbildung können die ­jungen Berufsleute darum rasch im Arbeitsalltag Fuss fassen und selbständig arbeiten. Die Aufteilung auf drei Lernorte macht das System praxisnäher, aber auch komplexer als eine rein schulische Ausbildung.

Auch für die Steuerung und Entwicklung des Berufsbildungssystems ist eine Dreierkonstellation verantwortlich, nämlich Bund, Kantone und Privatwirtschaft. Der wichtigste Kompass ist der Arbeitsmarkt. Schliesslich soll die Berufsbildung jene Kompetenzen fördern, die in der Wirtschaft aktuell gefragt sind. Darum legen die verschiedenen Branchen selbst die Bildungsinhalte und die Anforderungen an die Berufsabschlüsse fest. Die dafür zuständigen Branchenverbände, die «Organisationen der Arbeitswelt», arbeiten eng mit Bund und Kantonen zusammen. Gemeinsam ­bilden sie die Verbundpartnerschaft. Dieses historisch gewachsene und fein austarierte Netzwerk dürfte ein Hauptgrund dafür sein, dass sich das Schweizer Berufsbildungssystem nur sehr bedingt auf andere Länder übertragen lässt. Im urschweizerischen Stil ist es auf den steten Interessenausgleich zwischen den Akteuren ausgerichtet und sorgt dafür, dass das System stabil ist und breit akzeptiert wird. Diese Stabilität hat allerdings auch eine Kehrseite: Wo viele Akteure abgeholt und eingebunden werden müssen, werden Prozesse schwerfälliger und Entscheidungen dauern länger.

Darin liegt gegenwärtig die wohl grösste Herausforderung für die Berufsbildung. Neue Technologien, demografischer Wandel und veränderte gesellschaftliche Wertvorstellungen verändern die Arbeitswelt. Berufsbilder wandeln sich, gewisse Kompetenzen werden wichtiger und andere verlieren an Bedeutung. Neue Berufe entstehen,…

«Kurvt unentwegt jenseits
der Staatsgläubigkeit.»
Beat Kappeler, Ökonom und Publizist,
über den «Schweizer Monat»