Die Eidgenossenschaft als
Staatsidee hat Zukunft
Die Gesellschaft wird fragmentierter. Doch das ist ein Steilpass für das genossenschaftliche Staatsverständnis der Schweiz.

Digitalisierung, Globalisierung und Migration bewirken eine zunehmende Ausdifferenzierung sozialer Beziehungen. Die immer wieder beklagte Fragmentierung aller Lebensbereiche ist nicht das Problem, sondern das Wesen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Erwartungen, unterschiedlichen Wertvorstellungen und unterschiedlichen kulturellen Hintergründen leben und arbeiten zur gleichen Zeit und am gleichen Ort. Fragmentierte soziale Strukturen treten an die Stelle einer bisher zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung hochgehaltenen Einheitlichkeit von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt.
Die damit verbundenen Herausforderungen lassen sich mit der Logik der industriellen Gesellschaft nicht bewältigen. Der Versuch, die Unsicherheiten einer sich verändernden Welt mit immer mehr Vorschriften und Kontrollen, mit dem Ausbau der öffentlichen Verwaltung und staatlich finanzierten Programmen in den Griff zu bekommen, scheitert an der Komplexität einer fragmentierten Gesellschaft. Das Streben nach Einheitlichkeit und perfekter Organisation führt in die Sackgasse. Dies zeigen die allgegenwärtigen politischen Krisen, die explodierenden Staatsschulden und der Vertrauensverlust in die politischen Institutionen.
«Der Versuch, die Unsicherheiten einer sich verändernden Welt mit
immer mehr Vorschriften und Kontrollen, mit dem Ausbau der
öffentlichen Verwaltung und staatlich finanzierten Programmen in den Griff zu bekommen, scheitert an der Komplexität einer fragmentierten Gesellschaft.»
Verschiedenheit mit Verschiedenheit bewältigen
Kennzeichnend für diese Verwerfungen ist, dass sie sich den gewohnten politischen Differenzierungen entziehen. Mal sind es linke, mal bürgerliche Regierungen, die von Massenprotesten herausgefordert werden. Selbst gefestigte Rechtsstaaten wie die Schweiz greifen zu Notrecht. Verfassungsmässig garantierte Grundrechte und geltende Gesetze werden kurzerhand ausser Kraft gesetzt, politische Überzeugungen über Nacht entsorgt. Wer gestern für den Frieden kämpfte, fordert heute Waffenlieferungen. Bürgerliche setzen darauf, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.
Die Tatsache, dass diese politischen Erschütterungen alle westlichen Länder erfassen, unabhängig von der institutionellen Ausgestaltung und unabhängig von aktuellen Mehrheitsverhältnissen, weist darauf hin, dass wir es nicht mit den Problemen einzelner Politikerinnen und Politiker, den Schwierigkeiten von Parteien oder bestimmten Ideologien zu tun haben, sondern mit einer Systemkrise.
In Zeiten radikaler Veränderungen ist immer mehr vom Gleichen und vor allem immer mehr vom Bisherigen kein taugliches Rezept. Auch für den Übergang von der industriellen zur digitalen Gesellschaft gilt, dass neue Zeiten neue Antworten brauchen. Die weltweite Systemkrise kann nur gelöst werden, wenn es gelingt, den politischen Handlungs- und Referenzrahmen den neuen Herausforderungen entsprechend weiterzuentwickeln. Gefordert ist ein gesamtgesellschaftliches Betriebssystem, das nicht alten Mustern gehorcht, sondern die Komplexität fragmentierter sozialer Systeme absorbiert und neue Spielregeln für alle Bereiche des Zusammenlebens definiert. Mit Blick auf die Bewältigung dieser Komplexität finden sich wegweisende Überlegungen beim «Gesetz der erforderlichen Varietät» des britischen Kybernetikers W. Ross Ashby: «Only variety can absorb variety.» Die Stabilität eines sozialen Systems kann nur sichergestellt werden, wenn das Regelungssystem mindestens so komplex ist wie das System selbst. Verschiedenheit lässt sich nur mit Verschiedenheit bewältigen.
Zeitgemässe Weiterentwicklung
In der industriellen Gesellschaft regiert die Norm. Beispielhaft dafür stehen die in Fabriken massenhaft hergestellten Produkte, die von den Kundinnen und Kunden mit einem standardisierten Nutzwert gebraucht und verbraucht werden. Erziehung und Bildung zielen auf gleichförmige Kompetenzen und Verhalten ab, auf sozial angepasste Persönlichkeiten und gesellschaftliche Disziplinierung. Unsere Städte und Dörfer werden nach strikten technokratischen Vorgaben geplant und gebaut. Staatlich regulierte und kontrollierte Arbeits- und Präsenzzeiten diktieren den Arbeitsalltag. Diese Einheitlichkeit, die Notwendigkeit der Normierung, der Gleichschaltung und damit der Durchschnitt verlieren in Zeiten von Digitalisierung, Globalisierung und Migration an Relevanz.
In einer fragmentierten Gesellschaft tritt der Aspekt der Verschiedenheit in den Vordergrund. Das ist ein Steilpass für das politische System der Schweiz, das seit jeher auf die Bewältigung von Verschiedenheit ausgerichtet war. Die alte Eidgenossenschaft funktionierte als Zusammenschluss von unterschiedlichen, aber gleichberechtigten Stadt- und Länderorten. Mit dem Föderalismus, der direkten Demokratie und dem Milizsystem gelang der modernen Schweiz eine zeitgemässe Weiterentwicklung des genossenschaftlichen Staatsverständnisses.
In der jüngeren Vergangenheit hat dieses allerdings viel von seiner Kraft verloren. Die Forderung nach materieller Gleichheit verdrängt den Grundsatz der Chancengleichheit. Selbsthilfe ist für viele zu einem Fremdwort geworden. Das Parlament und die Verwaltung in Bundesbern bestimmen die politische Entwicklung. Die grosse Zahl von Berufspolitikern und Staatsangestellten stellt das Milizsystem in Frage. Internationale Verpflichtungen und die Annäherung an die Europäische Union belasten die direkte Demokratie.
«Die Forderung nach materieller Gleichheit verdrängt den Grundsatz der Chancengleichheit. Selbsthilfe ist für viele zu einem Fremdwort geworden.»
Wer befiehlt, zahlt
Verspielt werden damit staatspolitische Alleinstellungsmerkmale, die in besonderem Masse zukunftstauglich sind. Eine Fehlentwicklung, die es zu korrigieren gilt. Der Weg dazu führt über im Grundsatz einfache, in ihren Konsequenzen aber tiefgreifende Reformen. Dazu gehört die monistische Staatsfinanzierung. Das bedeutet, dass jede Staatsaufgabe aus einer Hand zu finanzieren ist. Für jede öffentliche Aufgabe gibt es nur einen Kostenträger. Wer befiehlt, zahlt. Wer zahlt, befiehlt. Die gemischte Finanzierung von Verbundaufgaben fällt weg. Kantone und Gemeinden können nicht länger ihre politischen Vorhaben auf Kosten des Bundeshaushalts vorantreiben. Im Gegenzug erhalten die unteren Staatsebenen ihre Autonomie zurück. Ein radikaler Vorschlag, der eine umfassende Entflechtung der Aufgaben und eine neue Aufteilung der Finanzströme von Bund und Kantonen zur Folge hätte.
Reformbedarf besteht auch bei der Ausgestaltung der direkten Demokratie. Auf nationaler Ebene fehlt ein Finanzreferendum. Diese Lücke könnte das partielle Budgetreferendum schliessen. Ein solches richtet sich nicht gegen eine einmalige oder wiederkehrende Staatsausgabe, sondern gegen den vom Parlament verabschiedeten Voranschlag einer einzelnen Verwaltungseinheit der Bundesverwaltung. Das partielle Budgetreferendum zielt als finanzpolitische Richtlinienkompetenz des Volkes auf die strategische Ebene der hoheitlichen Aufgabenerfüllung und stärkt die direktdemokratische Legitimation von finanzpolitischen Weichenstellungen.
Viele Fehlentwicklungen in Richtung von Verstaatlichung und Zentralverwaltung sind die Folge von Fehlanreizen in der Staatsfinanzierung. Es braucht eine ökonomische Steuerreform. Das Prinzip Leistung und Gegenleistung ist auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Staat und Bürgern zu übertragen. Öffentliche Leistungen, die allen zugutekommen, sollen auch in Zukunft von allen gemeinsam nach Massgabe ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit finanziert werden. Bei staatlich erbrachten Sonderleistungen zugunsten einzelner Personen oder einzelner Nutzergruppen hingegen sind die Empfänger dieser Sonderleistungen im Sinne des Vorteilsprinzips zur Finanzierung der speziellen Staatsausgaben heranzuziehen. Im Bereich der Hochschulbildung beispielsweise durch eine nachlaufende Studiengebühr. Wer profitiert, bezahlt.
«Viele Fehlentwicklungen in Richtung von Verstaatlichung und
Zentralverwaltung sind die Folge von Fehlanreizen in der Staatsfinanzierung.»
Die Eidgenossenschaft als Staatsidee hat Zukunft. Ein von unten nach oben aufgebautes Gemeinwesen ist weit besser auf die Herausforderungen einer fragmentierten Gesellschaft vorbereitet als zentral verwaltete politische Systeme. Die Schweiz tut gut daran, sich auf ihre traditionellen Werte zu besinnen. Und dies nicht mit einem verklärten Blick in den Rückspiegel und auch nicht mit dem sturen Festhalten am Bisherigen. Das genossenschaftliche Staatsverständnis ist nicht verhandelbar. Es macht das Erfolgsmodell Schweiz aus und darf keinen kurzfristigen politischen oder wirtschaftlichen Interessen geopfert werden.
Dieser Essay basiert auf dem neuen Buch «Die Eidgenossenschaft im 21. Jahrhundert» (NZZ Libro, 2025).