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Die dünne Luft am Gipfel

Er erkletterte die drei grossen Nordwände der Alpen – Eiger, Mönch und Jungfrau – an einem Tag. Nun stellt er im Himalaya vertikale Geschwindigkeitsrekorde auf. Der Bergsteiger Ueli Steck über kalte Füsse, Halluzinationen auf dem Everest und Köche im Basislager.

Die dünne Luft am Gipfel

Herr Steck, Sie sind soeben aus dem Himalaya zurückgekehrt. Welchen Rekord haben Sie diesmal gebrochen?

Keinen. Ich habe Urlaub gemacht.

Am Mount Everest?

Nein. Ich bin auf die über 6800 Meter hohe Ama Dablam gestiegen. Zum dritten Mal. Diesmal mit meiner Frau.

Wie oft mussten Sie auf Ihre Frau warten?

(lacht) Nur selten. Wenn ich mit meiner Frau oder Freunden am Berg bin, dann bin ich nicht der Bergsteiger Ueli Steck. Ich bin also nicht am Arbeiten und muss auch nicht möglichst schnell von A nach B kommen, nirgendwo raufrennen, keine Rekorde brechen. Ich weiss zwar, dass ich wohl immer schneller sein könnte, aber ich geniesse dann das Gemütliche. Das habe ich lernen müssen.

Sie waren als Bergsteiger irgendwann technisch und konditionell an einen Punkt, an dem Sie niemand anderen mehr mitnehmen konnten – und haben sich deshalb entschieden, vornehmlich solo zu gehen?

Sicher: ab einem gewissen Niveau ist der Kreis der potentiellen Partner ziemlich übersichtlich geworden. Irgendwann merkte ich sogar, dass es mich schon gestresst hat, Kollegen anzurufen, um zu fragen, ob sie mit mir klettern gehen wollen. Es ist so schön simpel, morgens aufzustehen und den ganzen Tag, die ganze Reise und die ganze Tour allein zu bestimmen. Ich brauche die Momente, in denen ich mich verausgaben und Vollgas geben kann. Solo funktioniert das wunderbar, im Team nur mit sehr wenigen Menschen. Die Schattenseite davon: man läuft Gefahr, richtig asozial zu werden.

Inwiefern?

Früher war ich ziemlich ungeduldig, wollte mich nicht aufhalten lassen. Seit ich zwischen beruflichen und privaten Touren unterscheide, wird es besser. Dabei gilt heute: wenn ich das eine nicht hätte, könnte ich das andere nicht tun. Würde ich aber nur noch mit meiner Frau bergsteigen, so wäre das wohl auf längere Sicht unbefriedigend.

Nun haben Sie mit ihr also die Ama Dablam, das «Matterhorn Nepals», bestiegen, das gleich neben dem Mount Everest liegt. Beim Versuch, den Everest zu besteigen, mussten Sie im Frühjahr 2011 auf 8700 Metern, also knapp 180 Meter unter dem Gipfel, umkehren…

…käme ich überall hoch, müsste ich nicht mehr bergsteigen, sondern würde wohl eher Minigolf spielen. Als Bergsteiger muss man auch den Willen zum Scheitern haben, denn dieser gehört zum Beruf, wenn man ihn überleben will.

Wieso sind Sie am Everest gescheitert?

Es gab zwei Gründe für die Umkehr: erstens wollte ich ohne zusätzliche Sauerstoffzufuhr nach oben kommen. Es herrscht da ziemlicher Betrieb, wissen Sie, und als ich am Gipfelaufbau zwei wartende Sherpas traf, hatte ich sogar noch die Chance, mich zwischen Sauerstoffflasche und Umkehr zu entscheiden. Hätte ich denen das nötige Kleingeld in die Finger gedrückt, hätten sie mir eine gegeben. Damit wäre der alpinistische Stellenwert der Besteigung aber dahin gewesen. Auf den Everest kommt mit Sauerstoffflasche heute so ziemlich jeder, der zwei Beine hat und es sich leisten kann. Das ist gut für die Einheimischen, die so ein Auskommen gefunden haben. Schlecht ist es aber für den Alpinismus, denn die dort oben anzutreffenden Prestigejäger verkaufen ihre Begehung bis heute als besondere Leistung!

Das ist die isolierte Sicht des passionierten Bergsteigers. Nicht jeder schafft es, den höchsten Berg der Erde zu besteigen.

Stimmt. Aber: Wer einen Marathon läuft, vollbringt eine grössere sportliche Leistung. Streng genommen ist zusätzlicher Sauerstoff sogar Beschiss, schliesslich hat man sich damit der grössten Herausforderung am Everest gar nicht gestellt: der Luft.

Aber ist es nicht auch etwas übertrieben, nach Tausenden von aufgestiegenen Höhenmetern wegen weniger als zweihundert «erschummelten» umzukehren?

Mein Problem war nicht nur die Schummelei. Ich bekam als Folge der dünnen Luft wortwörtlich kalte Füsse. Das klingt lapidar, ist aber eine perfide Sache: das Blut wird aufgrund des niedrigen Sauerstoffgehalts über 7000 Meter dicker. Nach und nach werden so die Extremitäten nicht mehr richtig durchblutet. Es beginnt an den Zehen – die sind immer kalt, wenn man nach der Nacht in gefrorene Schuhe steigt – und kriecht über die Fersen die Waden hoch. Zwanzig Minuten sind kein Problem. Nach Stunden wird es aber gefährlich! Wenn man – wie ich – schon einmal schwarze Zehen hatte, weiss man ungefähr, wie lange die Zeit ist, bis es wieder kritisch wird. Auch deshalb, weil die Finger denselben Prozess durchlaufen wie die Zehen. Ich schaute also am Everest immer wieder auf die Uhr und beobachtete meine Finger und Hände. Sie wurden immer kälter, ich zunehmend unruhiger, und schliesslich war es mir zu heikel. Ich entschied mich, umzukehren. Weil ich meine Füsse behalten wollte – nicht, weil meine Lungen nicht mitgemacht hätten.

Sie wollen mir weismachen, die sogenannte «Todeszone» auf über 7000 Metern habe Ihnen keine Schwierigkeiten gemacht?

Meine Erfahrung mit dem Atmen, eigentlich das Hauptproblem dort oben, war sehr positiv. Reinhold Messner, Gerlinde Kaltenbrunner und andere berichteten von Halluzinationen. Ich bemerkte nichts Ungewöhnliches. Bis zuletzt habe ich gedacht: es klappt. Umso schlimmer ist es dann, wenn man unverrichteter Dinge ins Basislager zurückkehrt und die trifft, die mit Sauerstoffflasche oben waren und eigentlich sonst kaum geradeaus gehen können. Sie fragen dich, was denn los gewesen sei: «Der Ueli Steck: zusammengebrochen auf einer Normalroute auf einen 8000er?»

Haben Sie an Ihrer Entscheidung gezweifelt?

Oben: keine Sekunde. Die Sache war für mich klar. Im nachhinein habe ich mir bei all den Kommentaren aber irgendwann die gleiche Frage gestellt. Man darf sich aber bei so etwas nicht zu wichtig nehmen. Anhand der Tatsache, dass ich noch über zwei gesunde Füsse verfüge, darf ich mutmassen, dass die Entscheidung zumindest nicht falsch war. (lacht)

Sie können sich also auf Ihr persönliches Risikomanagement verlassen.

Mit jeder Bergerfahrung wird es besser, ja. Der Umgang mit Rückschlägen ist lernbar: man muss seine Lehren daraus ziehen. So kann man im Vorfeld neuer Projekte die Gefahren besser abschätzen und das Risiko minimieren.

Sie erstellen also eine Art Checkliste, bevor Sie sich in die Wände wagen?

Eine ungeschriebene, ja. Die kann sich aber während der Tour ändern. Am Shishapangma, auch im Frühjahr 2011, wusste ich: im Laufe des nächsten Tages zieht ein Sturm auf. Ich habe also über das Satellitentelefon mit dem Wetterdienst in der Schweiz Kontakt gehalten und mich informieren lassen, wie sich dieser Sturm verhält – während ich weiter anstieg. Sie sagten mir zunächst: er kommt am Mittag. Ich überlegte: wenn ich nun bei 7200 Metern weitergehe, bleibt mir nur der Gipfel und keine Alternative. Bekomme ich weiter oben während des Kletterns kalte Finger, kann ich nicht mehr abbrechen und rechtzeitig vor dem Sturm über die Abstiegsroute zum Lager zurückkehren – dafür fehlen Zeit und Material. Reicht meine Kondition? Reicht die Zeit für den Gipfel? Da muss man innerhalb von Minuten entscheiden. Ich habe mir also gedacht: gut, ich probiere es. Irgendwann schrieb der Wetterdienst: der Sturm kommt schon morgens um sechs! Oben auf dem Grat angekommen, wo die alternative Route zum Basislager abzweigt, musste ich mich erneut fragen: schaffe ich den Gipfel? Bin ich fit genug? Bleibt genug Zeit? Das war unplanbar in den Wochen zuvor, unplanbar am Vortag und auch noch bis vor wenigen Minuten. Ich entschied mich für den Anstieg und setzte mir ein Richtungszeitlimit, bei dessen Erreichung ich dann hätte umkehren müssen. Kurz und gut: ich habe es geschafft.

Viele Bergsteiger bezeichnen nicht Schnee und Eis, sondern die Zeit im Basislager als grösste, weil mental strapazierendste Zerreissprobe.

Das ist so, ja. Man verbringt dort gemeinhin mehr Zeit als am Fels, manchmal wartet man wochenlang auf den einen Tag, an dem die Besteigung möglich ist. Auch hier ist Erfahrung ausschlaggebend: ich habe vor Ort meinen Kontakt, der die Logistik plant und flexibel genug ist, zu garantieren, dass Träger und Fahrzeuge dort sind, wo man sie braucht. Und ich habe einen Koch, der mir gutes Essen macht. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie unangenehm es ist, wenn man da die falschen Leute hat. Mancher Küchenchef kocht ja nicht einmal das Wasser richtig ab – schlimmstenfalls fängt man sich mit einem harmlosen Tee irgendetwas ein und kann dann mit Magenschmerzen direkt wieder abreisen.

Manchmal wartet man aber auch umsonst auf bessere Wetterbedingungen. 

Richtig. Das ist zermürbend. Ich suche deshalb immer schon im Vorfeld nach Alternativen für eine Route.

Nach welchen Kriterien wählen Sie die aus?

Nach Herausforderung.

Das ist einer dieser Bergsteiger-Allgemeinplätze. Die «Herausforderung», der «eigene Weg»…

Bergsteiger sind tendenziell egoistische Menschen, und es steckt hinter jeder Begehung der Wunsch nach Selbstverwirklichung. Das muss auch so sein. Die Bewertung von alpinistischen Leistungen ist jenseits der objektiven Rekorde anhand von Zeiten und Höhen hochindividuell, das macht den Reiz für den einzelnen Bergsteiger aus. Rein medial, also greifbar und nachvollziehbar für andere, ist meine Besteigung der drei grossen Nordwände der Alpen – Eiger, Mönch und Jungfrau – in 25 Stunden von mir wohl nicht mehr zu toppen. Andernorts finde ich aber für mich viel herausforderndere Projekte, die sonst niemanden interessieren.

Konkreter?

Vielleicht illustriert es ein Beispiel: Gehen Sie joggen?

Ja. Ohne Ambitionen.

Gut. Und wahrscheinlich wissen Sie in etwa, wie lange Sie dabei am Stück durchhalten.

Nach einer Stunde wird es harzig.

Gut. Nun nehmen Sie einmal an, Sie würden während eines guten Laufs herausfinden, dass Sie bereits eine Stunde und fünfzehn Minuten joggen. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie zurückkommen?

Besser, stärker als sonst. Glücklicher?

Sehen Sie! Genau so geht es mir, wenn ich feststelle, dass ich die eigene Messlatte wieder ein Stück höher gesetzt habe.

Ich habe gehört, Sie joggen zu Trainings-zwecken täglich auf Interlakens Hausberg.

Auf Harder Kulm, ja. Nicht täglich, aber häufig.

Wie lang brauchen Sie für die 800 Höhenmeter?

Das ist so eine Standardstrecke von mir: 35 Minuten. Je nach Projekt ändert sich aber der Trainingsplan, den ich mit Simon Trachsel, meinem Trainer, gemeinsam erarbeite. Nach dem anspruchsvollen Frühjahr haben wir den Rhythmus runtergefahren und im Sommer bloss etwas Lauftraining für den Jungfraumarathon gemacht. Gegenwärtig sind wir an der Vorbereitung für 2012 – da geht es zurück in den Himalaya. In einer ersten Phase spielt die Ausdauer die Hauptrolle. Nebenher baue ich Kraft auf, auch an Maschinen. Im Februar wird das Training optimiert, sprich: intensiver. Im März warten harte drei Wochen auf mich, in denen ich verschiedene Blöcke sehr harten Trainings absolvieren muss, die strenggenommen den Körper überbeanspruchen, also harte Reize setzen. Mein Tagesablauf, alle Termine, die Ernährung und auch das Privatleben richten sich nach den Trainingsstrukturen.

Sie und andere transformieren das Bergsteigen zum Leistungssport, nehmen ihm seinen mythischen Gehalt. Damit geht eine Kultur verloren.

Früher war das reines Abenteuer, Bergsteiger wussten nichts von Trainings- und Ernährungsplänen, konzentrierten Technikeinheiten und sie haben auch nicht ausgiebig mit Sportmedizinern zusammengearbeitet. Früher ging man zünftig «mehr in die Berge», um zu trainieren, oder «mehr Ski fahren» wie Walter Bonatti. Früher war aber auch die Herausforderung einfacher zu finden, die Eigernordwand vielleicht noch nicht erstiegen – heute muss man dort förmlich anstehen. Der Bergsteiger muss also kreativ werden! Ich fand meine Herausforderung in der Geschwindigkeit und in diesem Licht sehen dann auch die 8000er wieder reizvoll aus. Die Kultur geht nicht verloren, sondern wird ergänzt. Heute ist das Wissen vorhanden und zugänglich, um sie zu professionalisieren. Es brauchte bloss einen Präzedenzfall, der zeigte: das ist möglich! Es wächst ein anderer Typus von Bergsportlern heran…

…dem man – wie Ihnen – vorwirft, den Berg zum Trainingsgerät herabzuwürdigen.

Die neue Sicht auf den Bergsport hat tatsächlich zu vielen Konfrontationen mit Kollegen geführt, mittlerweile ist sie aber weitgehend akzeptiert. Ich habe den Berg nie als Trainingsgerät betrachtet, sondern bloss die sportliche Herausforderung in den Vordergrund gestellt und nicht das emphatische Naturerlebnis. Sicher ist es ein phantastischer Naturmoment, wenn ich unter der Eigernordwand stehe und hinaufschaue. Aber in dem Moment, in dem ich in die Wand einsteige, muss ich mich auf den Fels konzentrieren – also tatsächlich auf den Berg. Ich habe in diesem Zustand nicht die Wahl, doch lieber das Panorama zu geniessen – ich muss fokussieren. Und dieser Fokus, diese Konzentration, ist von einer anderen Intensität als der Gipfelsandwich-Moment eines klassischen Bergsteigers.

Sie sprechen von Intensität, Ihre Kritiker von Fahrlässigkeit.

Zugestanden: es ist sicher gefährlicher, in die Berge zu gehen, als zu Hause vor dem Fernseher zu hocken. Aber: Erhard Loretan zum Beispiel hat als Bergsteiger die wildesten Sachen gemacht, alle vierzehn 8000er der Welt ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiegen und mehr – er ist im Frühjahr dieses Jahres von einem ungefährlichen Wanderweg am Grünhorn tödlich abgestürzt. Unfälle passieren in den ungefährlichsten Situationen, vor allem, wenn man Risiko falsch einschätzt! Die Besteigungen, die ich mache, sehen für den Aussenstehenden wahnsinnig aus, deswegen nennen mich viele einen «Extrembergsteiger». Aber: das bin ich nicht. Das Risiko ist für mich beherrschbar. Weil ich Erfahrung habe.

Sie wollen sagen: Wenn Sie 50mal hochsteigen, verkleinert sich das Einzelrisiko mit jedem Mal. Aber…

…das abnehmende Einzelrisiko vervielfacht sich gleichzeitig durch die Menge der Begehungen, meinen Sie? Ja. Aber wenn das Einzelrisiko gegen null geht, weil ich in Form bin und meine Grenzen kenne, spielt das keine Rolle.

Wie gross ist die Gefahr, sich zu überschätzen? 

Gross. Man darf auch bei wachsender Routine nicht unkonzentriert und nachlässig werden. Und man muss sich eingestehen können, wenn man den Zenit des eigenen Leistungsvermögens erreicht hat. Heute bin ich an einem Punkt, an dem ich mir bewusst bin, dass das so ist. Eine jüngere Generation pulverisiert gegenwärtig meine Rekorde. Und es wird in der Zukunft etliche Bergsteiger geben, die die Fähigkeiten haben, die ich mir antrainiert habe. Die Jahre, in denen ich in der komfortablen Situation war, allen anderen am Berg wegzurennen, sind vorbei. Für mich heisst es also: zunächst mehr trainieren, Ziele neu stecken, irgendwann aber auch loslassen können.

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