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Die direkte Demokratie war Bremse und Gaspedal für das Frauenstimmrecht
Eine Appenzellerin wirft als erste Frau der Schweiz bei einer nationalen Abstimmung ihren Stimmzettel in die Urne, aufgenommen am 5. Juni 1971. Bild: Keystone / Photopress-Archiv / Paul Foschini.

Die direkte Demokratie war Bremse und Gaspedal für das Frauenstimmrecht

Die ausgebauten Volksrechte machten die Einführung des Frauenstimmrechts für die Männer teuer. Doch sie förderten auch dessen Akzeptanz.

 

Gemäss gängiger Meinung gewannen die Frauen 1971 nach ­epischem Endkampf gegen die Männer das eidgenössische Stimmrecht, endlich. Gleichwohl mussten sie in manchen Kantonen noch lange auf ihre vollen politischen Rechte warten. Plötzlich erschien die Schweiz vielen als Hort von Antidemokraten. Was sind die Gründe dahinter?

Manche verdächtigen die für die Schweiz typischen Institu­tionen direkte Demokratie und Föderalismus und meinen, diese begünstigten eine kleingeistige Männerbündelei. Doch auch ein unvoreingenommener Blick erkennt die Rolle der direkten Demokratie. Die Frauenstimmrechtsschnecke Schweiz hat weltweit die am stärksten ausgebaute direkte Demokratie, und das Frauenstimmrecht wurde nur in einem westlichen Land später eingeführt: in Liechtenstein 1984, dem zweiten Land mit starker direkter Demokratie. Ins Bild passt auch, wie anders Bundesrat und Parlament als die männlichen Bürger entschieden haben. Erstere befürwor­teten die Einführung des Frauenstimmrechts schon anlässlich der ersten Vorlage von 1959, während die Schweizer Männer mit 66,9 Prozent klar ablehnten. 1971 waren Ständerat und Nationalrat gar einstimmig für die Einführung des Frauenstimmrechts. Diesmal folgten ihnen die Stimmbürger mit 65,7 Prozent Zustimmung.

Sind also Parlamentarier frauenfreundlicher als Normalmänner? Letztere mussten mit der Einführung des Frauenstimmrechts ­sofort einen wichtigen Teil ihres politischen Einflusses abgeben. Bundesrat und Parlament gaben hingegen nichts Eigenes ab. Kein an den Entscheidungen von 1959 und 1971 beteiligter Bundesrat, kein Ständerat und allenfalls einzelne Nationalräte wurden später von Frauen verdrängt. Auch Angst vor Abstrafung durch ihre männlichen Wähler zählte 1971 kaum. Es war wahltaktisch klüger, die neue feminine Hälfte der Wähler zu umarmen, als eine ­Minderheit der maskulinen Wähler zu verteidigen. Das erklärt die Abstimmungsergebnisse im National- und Ständerat: Einstimmigkeit – allerdings bei Abwesenheit von rund einem Viertel. Die vermeintliche Frauenfreundlichkeit der Parlamentarier beruhte auch auf einer Schweigespirale, oder netter gesagt: voraus­eilendem Gehorsam gegenüber den zukünftigen Wählerinnen.

Direkte Demokratie hat also die Einführung des Frauenstimmrechts sicher gebremst, schlicht weil diejenigen gefragt wurden, die etwas zu verlieren hatten. Die aus unserer Sicht noch interessantere Frage ist, ob die direkte Demokratie auch das Stimmverhalten der Männer beeinflusst hat. Dafür spricht auf den ersten Blick einiges: In den französischsprachigen Kantonen Waadt, Neuenburg und Genf mit eher schwach ausgebauten direktdemokratischen Rechten stimmten die Männer schon 1959 und 1960 für das Frauenstimmrecht auf kanto­naler Ebene. Im ­Gegensatz dazu mussten die Männer in Appenzell Innerrhoden – einem Landsgemeindekanton – 1990 sogar vom Bundesgericht zur Annahme gezwungen werden.

Diese Beobachtungen sind jedoch nicht ausreichend, um die Rolle der direkten Demokratie für die späte Einführung des Frauen­stimmrechts wirklich zu verstehen. Schliesslich spielten bei der Einführung des Frauenstimmrechts auch diverse andere Einflussfaktoren eine Rolle, etwa Kultur, Religion, Urbanisierung oder ­Arbeitsmarktintegration von Frauen.

Ein hoher Preis

Die Abstimmungen zum Frauenstimmrecht bieten einen gewal­tigen, bisher kaum genutzten Datenschatz. Bis die Frauen 1971 auf nationaler Ebene die formale politische Mitsprache erhielten, mussten sie Dutzende abgelehnte Initiativen auf der kantonalen Ebene hinnehmen. Erstaunlicherweise wurden die Ergebnisse der knapp 100 Abstimmungen zur Einführung des Frauenstimmrechts, die zwischen 1919 und 1990 stattfanden, bisher weder syste­matisch erfasst noch analysiert. Mit unserer Forschung schliessen wir diese Lücke, indem wir diese Abstimmungsergebnisse auf Gemeindeebene digitalisieren und ökonometrisch analysieren. So können wir beobachten, wie sich die Zustimmung der Männer im Zeitverlauf verändert und wie sich die Stärke der direkten Demokratie auf die Zustimmung zum Frauenstimmrecht auswirkt. Die verlässlichsten Analysen beruhen auf Gemeindedaten. Damit ist die Stichprobe genügend gross, um für viele Einflussfaktoren zu kontrollieren, und sie ermöglicht Difference-in-Difference-Regres­sionen mit ­fixen Effekten für die Zeit, Kantone oder Gemeinden. So kontrol­lieren wir für den Einfluss von Faktoren, die sich nicht direkt ­beobachten lassen, aber eine Rolle für die Zustimmung zu Frauenstimmrecht spielen, etwa die politische Tradition eines Kantons.

Schweizer Gemeinden unterscheiden sich in der Ausprägung der direkten Demokratie. In Gemeinden mit einer Gemeinde­versammlung diskutieren und entscheiden die Bürger selber über die Lokalpolitik, haben die Möglichkeit, eigene Argumente in den Diskurs einzubringen, können beobachten, wie sich andere Teilnehmer äussern, und zum Ausdruck bringen, wie wichtig ihnen einzelne Themen sind. In Parlamentsgemeinden hingegen wird ein Teil dieser reichhaltigen Einflussmöglichkeiten an Politiker delegiert. Im direkten Vergleich haben die Wähler in stark direktdemokratischen Gemeinden also mehr Einflussmöglichkeiten. Entsprechend geben sie mit dem Frauenstimmrecht mehr Macht an die Frauen ab – das Teilen der politischen Macht ist also relativ teurer. Damit stellt sich die Frage, ob die direkte Demokratie generell zur Diskriminierung der Frauen geführt hat oder ob der beobachtete Zusammenhang allein mit dem höheren Preis für die Männer erklärt werden kann.

Abbau von Vorurteilen

Eine Analyse der beiden eidgenössischen Abstimmungen von 1959 und 1971 gibt darauf eine Antwort. Beide Male ging es um die gleiche Fragestellung – Einführung des Frauenstimmrechts auf eidgenössischer Ebene. Somit kann man das Verhalten der männlichen Wähler in jeder Gemeinde zweimal beobachten. Dabei variiert der Preis im Sinne von Machtverlust für die Männer erstens je nach den politischen Institutionen der Gemeinde und zweitens je nachdem, ob das Frauenstimmrecht im Kanton schon eingeführt wurde. Zwischen 1959 und 1971 führten elf Kantone das Frauenstimmrecht auf Gemeindeebene ein. Damit können wir das Stimmverhalten in vier unterschiedlichen Gemeindetypen ­beobachten: Gemeinden mit starker und schwacher direkter Demo­kratie, jeweils mit und ohne Frauenstimmrecht auf Gemeindeebene. In den Kantonen, die zum Zeitpunkt der eidgenös­sischen Abstimmung das Frauenstimmrecht noch nicht eingeführt hatten, drohte in den Gemeinden mit Gemeindeversammlung den Männern ein speziell hoher Preis, da die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass die Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene schliesslich auch zur Einführung auf Kantons- und Gemeindeebene führen würde. In Kantonen, die das Frauenstimmrecht schon eingeführt hatten, drohte hingegen dieser spezielle Preis nicht mehr. In dieser Situation ging es für die Männer allein um die Präferenzen für die allgemeine Durchsetzung des Frauenstimmrechts und natürlich um den Preis des Macht­verlusts auf Bundesebene, der sich aber zwischen den Männern aus den verschiedenen Gemeindetypen nicht unterschied.

Diese quasiexperimentelle Anlage offenbart ein erstaunliches Resultat. Wir finden robuste Evidenz, dass die direkte Demokratie die Einführung des Frauenstimmrechtes bremste. Das gilt aber nur, wenn Männern in den direktdemokratischen Gemeinden ein höherer Preis im Sinne von politischem Machtverlust auf Gemeinde­ebene droht. Das eigentlich erstaunliche und für die ­direkte Demokratie erfreuliche Resultat zeigt sich in Kantonen, wo das Frauenstimmrecht auf der Gemeindeebene bereits eingeführt worden war. In diesen zeigten Männer aus stark direkt­demokratischen Gemeinden eine deutlich höhere Zustimmung zum Frauenstimmrecht auf föderaler Ebene als Männer aus Gemeinden mit schwächerer direkter Demokratie. Diese Effekte bleiben bestehen, wenn man für andere Aspekte der Gemeinden wie die Bedeutung der Landwirtschaft, die Gemeindegrösse, die Arbeitsmarktpartizipation der Frauen oder die Altersstruktur kontrolliert.

Unsere Ergebnisse zeigen somit, dass für die Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene die direkte Demokratie auf Gemeindeebene zuerst als Bremse wirkte. Sobald aber ein Kanton das Frauenstimmrecht einführte, wirkte die direkte Demokratie auf Gemeindeebene dort als Gaspedal für die Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene. Für Stimmrechtserweiterungen im allgemeinen dürfte die direkte Demokratie deshalb als Bremse wirken. Nur in der auf den ersten Blick eher speziellen Situation mit Stimmrechtserweiterungen auf mehreren politischen Ebenen kann sie die Einführung auch beschleunigen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass Vorurteile gegenüber Frauen im direktdemokratischen Umfeld schneller abgebaut wurden, da man das politische Verhalten dort besser miterleben kann; eine andere, dass die stimmberechtigten Bürger die anderen gerne am Glück der direkten Demokratie teilhaben lassen möchten – ­solange es sie nichts kostet. Tatsächlich zeigen sich für die Abstimmungen über die Senkung des Stimmrechtsalters von 20 auf 18 Jahre fast identische Ergebnisse. Auch da gab es zwei eidgenössische Abstimmungen, zwischen denen in vielen Kantonen das Stimmrechtsalter auf 18 gesenkt wurde. Und auch in diesem Fall haben die Stimmberechtigten – Frauen und Männer – aus Gemeindeversammlungsgemeinden bei der ersten Abstimmung auf die Bremse und bei der zweiten aufs Gas gedrückt.

Die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz bedeutet nicht generell, dass die direkte Demokratie bestimmte Gruppen benachteiligt. Vielmehr zeigen unsere Resultate, dass eine starke ­direkte Demokratie den Preis erhöht, das Stimmrecht auszudehnen, weil der eigene Einfluss gerade in der direkten ­Demokratie sehr hoch ist. Andererseits stärkt direkte Demokratie die Bereitschaft der Bürger, für die demokratischen Rechte anderer einzustehen, solange die Stärkung deren Rechte nicht zur Schmälerung des Werts der eigenen Rechte führt.

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