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Die Dioxingeschichte

Der Dioxinskandal in Deutschland zeigt: Lebensmittelrisiken werden unterschätzt.
Auf die Unterschätzung folgt die politische Überreaktion. Die Konsumenten tragen die gesundheitlichen Folgen. Das müsste nicht sein.

«Power für den Bauer». So steht es auf einem der rostigen Lagertanks des Chemieunternehmens Harles und Jentzsch in Uetersen, Deutschland. Illustriert wird der Werbeslogan mit dem Bild eines Bauern, der mit gestreckter Mistgabel auf einem Schwein davongaloppiert. Tatsächlich haben sich die Kunden fluchtartig von der inzwischen konkursiten Firma verabschiedet. 4760 Betriebe wurden in Deutschland wegen Verdachts auf dioxinverseuchte Futtermittel zeitweilig gesperrt, 8000 Hühner mussten ihr Leben lassen, und in europäischen Kühlhäusern lagern Tonnen von Schweinefleisch, bis sich – so der offizielle Wortlaut – «der Preis wieder erholt hat». Die Behörden versichern, Massnahmen zur Vermeidung solcher Ereignisse getroffen zu haben oder noch zu treffen. Parallel dazu lassen sie verlauten, dass der Konsum der belasteten Lebensmittel keine unmittelbaren gesundheitlichen Folgen habe. Wozu also die ganze Aufregung?

Gesundheitsgefährdung und Täuschung durch schädliche Lebensmittel sind eine bekannte Praxis, die so alt ist wie der Handel mit Lebensmitteln und dessen Normierung. Davon zeugen mannigfaltige Regelungen für die Beurteilung und Kontrolle von Lebensmitteln: von antiken Keilschrifttafeln und altrömischen Marktvorschriften über mittelalterliche Zunftbestimmungen bis hin zum modernen Lebensmittelrecht.

Bis zur Einführung der Eisenbahn wurde lokal produziert und konsumiert, heute werden Lebens- und Futtermittel in grossen Mengen rund um die Erde verschoben: eine chinesische Ente kann in der Schweiz zur Pastete verarbeitet und diese in die USA exportiert werden. Mit dem Wandel von der handwerklichen zur industriellen Herstellung vervielfachte sich die Tragweite von Fehlern. Wird eine Charge von Säuglingsnahrungsmitteln mit Salmonellen einer Ente verunreinigt, ist plötzlich eine Vielzahl von Haushalten auf der ganzen Welt betroffen.

Um unter globalisierten Vorzeichen für sichere Lebensmittel zu sorgen, ist im Rahmen des Codex Alimentarius die Methodik der Risikoanalyse entwickelt worden. Die EU hat sie als Grundlage für Rechtsetzung und Vollzug im Bereich Lebensmittelsicherheit für verbindlich erklärt, wobei sie sich aus der Risikobewertung, dem Risikomanagement und der Risikokommunikation zusammensetzt. Worum geht es dabei?

Grosse Schäden auf lange Sicht

Die wissenschaftliche Grundlage für eine Risikobewertung bilden toxikologische und epidemiologische Daten, die Wirkungen von Substanzen auf den menschlichen Körper anzeigen. Im Vordergrund steht nun beim deutschen Futtermittelskandal nicht die akute Giftwirkung der Dioxine, wie sie beim ukrainischen Ministerpräsidenten Juschtschenko nach einem Vergiftungsanschlag auftrat, sondern der langfristige Effekt. Ein jeder von uns nimmt lebenslang Dioxine in kleinsten Mengen auf, die nur wenig unter der Schwelle dessen liegen, was für alle Bevölkerungsgruppen als unbedenklich eingestuft wird. Eine Zunahme der Dioxinkonzentration in Nahrungsmitteln kann auf lange Sicht deshalb potentiell grossen Schaden anrichten, was dann naturgemäss die Behörden auf den Plan ruft.

Nachdem eine Gefahr erkannt und bestimmt ist, zielt das Risikomanagement darauf, verhältnismässige Präventions- und Kontrollmöglichkeiten zu entwickeln. Im Fall des Dioxinskandals wurden die betroffenen Futter- und Lebensmittel zurückgerufen, um den Schaden zu begrenzen. Zuletzt kommt die Risikokommunikation zum Zug, die die Ergebnisse der Risikobewertung und die Massnahmen des Risikomanagements verständlich macht und eine sinnvolle Umsetzung ermöglicht. Dies erfordert eine aktive Diskussion zwischen Konsumenten, Wirtschaftsvertretern und Behörden. Da der Kenntnisstand der Beteiligten sehr verschieden sein kann, herrschen in der Risikokommunikation zuweilen babylonische Verhältnisse.

Die Hauptverantwortung für die Sicherheit der Lebensmittel fällt nicht den Behörden zu, sondern all jenen Akteuren, die an Herstellung, Lagerung, Transport und Handel von Lebensmitteln beteiligt sind. Grundlage hierfür bildet die Selbstkontrolle der einzelnen Betriebe. Dabei geht die Gesetzgebung davon aus, dass sie im ureigenen Interesse den Kunden Produkte anbieten, die diese wieder kaufen wollen. Diese Selbstkontrolle wird von den Behörden stichprobenartig überwacht. Tritt dennoch ein Schadensfall ein, so ermöglichen es Meldepflicht und Rückverfolgbarkeit, die Auswirkungen einzugrenzen.

Es können jedoch unmöglich alle Lebensmittel kontrolliert werden. Die Forderung, jede Gefahr auf diesem Wege auszuschliessen, ist deshalb unerfüllbar. Kommt hinzu, dass kein wissenschaftlicher Befund abschliessend und vor Irrtümern gefeit ist. Besteht zu grosse Unsicherheit, greift das Vorsorgeprinzip: ein Erzeugnis oder ein Verfahren kann eingeschränkt oder verboten werden, bis sich die Faktenlage geklärt hat. Problematisch wird die Situation dann, wenn aus Wirtschaftsinteressen oder aus populistischen Gründen Gefahren herbeigezaubert werden.

Unsicherheitsfaktor Mensch

Die schwierigste Komponente in der gesamten Konstellation ist allerdings der Faktor Mensch. Sein Verhalten ist mehr oder weniger rational und beruht auf einer emotionalen Risikowahrnehmung, die durch reisserische Medienberichterstattung zunehmend verzerrt wird. Zusatzstoffe und Pestizidrückstände werden von vielen Konsumenten als grosse Bedrohung empfunden, was Erzeugnissen ohne E-Nummern und vor allem Bioprodukten zu erhöhtem Absatz verhilft. Das grösste Lebensmittelrisiko besteht abseits dieses Trends jedoch weiterhin darin, sich unausgewogen zu ernähren. Übergewicht oder Magersucht sind die offensichtlichsten Folgen – sie werden unterschätzt und gehören vielerorts schon zum Alltag. Menschenverstand und Wissenschaft verstehen sich nicht immer.

Widersprüchliche Interessen und mangelnde Kenntnisse finden auch in der Politik ihren Ausdruck, wenn beispielsweise das EU-Parlament Farbstoffe in Gummibärchen als grosses Gesundheitsproblem einstuft und Warnhinweise auf Vorrat fordert. In der Schweiz verurteilen Parlamentarier Ernährungsaufklärung als unzulässige Einmischung in die Privatsphäre. Zugleich bewilligen sie jedoch beachtliche Summen für Produktion und Absatzförderung von Milch, Butter und Vollfettkäse. Politische Kreise weisen einerseits auf die ausserordentliche Qualität einheimischer Erzeugnisse im Vergleich zu Importprodukten hin, blenden andererseits aber aus, dass mit der einseitigen Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips faktisch eine automatische Anpassung des Verordnungsrechts an das jeweils tiefste Niveau innerhalb der EU geschaffen wurde.

Ziemlich emotional und sozusagen wie zu Gotthelfs Zeiten geht es – um ein aktuelles Beispiel zu zitieren – gegenwärtig im Kanton Bern zu und her. Ein Lebensmittelinspektor beanstandete auf einem Bauernmarkt mangelnde Beschriftung vorverpackter Lebensmittel und die fehlende Dokumentation der Selbstkontrolle. In der Folge wurde nicht – wie in solchen Fällen eigentlich vorgesehen – gegen die Verfügungen Einspruch erhoben und die Sachlage geklärt. Der Grosse Rat kürzte stattdessen postwendend das Budget des kantonalen Laboratoriums. Diese Reaktion trägt sicher nicht zu einer Verbesserung der gesetzlichen Bestimmungen, geschweige denn zu einer Steigerung der Lebensmittelsicherheit bei. Politik und Wissenschaft verstehen sich nicht.

Die volkswirtschaftlichen Verluste, die aus mangelnder Lebensmittelsicherheit und falscher Ernährung erwachsen, sind beträchtlich. Schweinefleisch, das in den eingangs erwähnten Kühlhäusern bloss dar-auf wartet, bis «sich der Preis wieder erholt hat», ist ein anschauliches Beispiel dafür, welche Kosten sich aus mangelnder Sorgfalt oder kriminellen Machenschaften nicht nur für einzelne Betriebe, sondern für die gesamte Branche ergeben können. Noch grösser als solche Aufwendungen sind jedoch die Gesundheitskosten, die durch mangelhafte Lebensmittel verursacht werden. Allein 2010 wurden über 8000 Infek-tionen durch fäko-orale Übertragung verzeichnet. Rechnet man mit einem Arbeitsausfall von einer Woche pro Fall, so ergibt dies einen jährlichen Verlust von 160 Arbeitsjahren.

Noch grösser sind die Kosten, die durch die gesellschaftlich tolerierte Fehlernährung verursacht werden. Schätzungen des Bundesamtes für Statistik zufolge leiden in der Schweiz je nach Definition 10’000 bis 50’000 Menschen, vorwiegend junge Frauen, an Magersucht. Die Sterblichkeitsrate ist hoch und beträgt über fünf Prozent innert 20 Jahren nach der Diagnose; mittel- und langfristige Folgen sind Nierenschäden und Osteoporose. Am anderen Ende der Risikoskala steht das ebenfalls notorisch untergewichtete Übergewicht, an dem immer mehr Leute leiden. Die jährlichen Folgekosten werden laut einer Untersuchung des Bundesamts für Gesundheit mit zwischen 2,1 und 3,2 Milliarden Franken pro Jahr veranschlagt.

Was also brauchen wir? Mehr Rationalität in der Politik und besser informierte Konsumenten. Ein rationaler Umgang mit Lebensmittelrisiken auf einer sauberen wissenschaftlichen Grundlage ist nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern auch ein Beitrag zu mehr Lebensqualität und Unabhängigkeit der Menschen bis ins hohe Alter. Die nötigen Instrumente sind vorhanden. An geeigneter Vermittlung zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit hapert es allerdings noch.

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