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Die Diktatur der Mittelmässigkeit

Gesamtschule statt Gymnasium, Grossbildschirm statt Bibliothek, Denkverbot statt Debatte – Bürgertum ade, klagt Thomas Hürlimann. Die einst fortschrittliche und mächtige Gesellschaftsschicht, so der Schriftsteller, wurde von einem Kleinbürgertum abgelöst, das den Gleichheitsmief kultiviert. So erklärt sich der Triumph des Bauchgefühls an der Urne, der Qualitätsverlust in den Medien und nicht zuletzt so mancher Shitstorm gegen Intellektuelle. Gespräch mit einem, der glücklich darüber ist, aus der Zeit gefallen zu sein.

Die Diktatur der Mittelmässigkeit
Thomas Hürlimann, photographiert von Jannis Keil.

Herr Hürlimann, Sie haben kürzlich Ihren mehrjährigen Kampf gegen den Krebs gewonnen – zunächst: Herzliche Glückwünsche dazu! Wie geht es Ihnen?

Danke, mir geht es gut. Mein Immunsystem ist noch etwas angeschlagen, aber ich fühle mich fit.

Sie haben – trotz Krankheit – in den vergangenen Jahren neben der literarischen Arbeit auch viele Essays veröffentlicht, sich vermehrt mit den politischen Entwicklungen in der Schweiz beschäftigt. Am 11. Februar des letzten Jahres etwa erschien in der FAZ ein kurzer, recht persönlicher Text von Ihnen. Der Gegenstand: die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative. Titel: «Der Schweizer als Höhlenmensch». Lassen Sie uns mit dem Inhalt dieses Essays beginnen, er hat hohe Wellen geschlagen. Sie behaupten darin: die Schweiz hat schlecht abgestimmt – und das nicht zum ersten Mal. Sie sprechen, ich zitiere, von einer «Diktatur der Mittelmässigkeit» in Ihrer Heimat – und greifen damit die Schweizer Stimmbürger frontal an. Von Ihnen, einem doch eher bürgerlichen Vertreter der Schriftstellerspezies, kam das überraschend.

Ich nehme zunächst mit Erstaunen zur Kenntnis, dass Sie mich für einen «Bürgerlichen» halten. (lacht)

Sind Sie’s denn nicht?

Solche Zuteilungen stimmen in der Regel nicht mehr. Und ich hätte Mühe, mich selber zu definieren. Als ich in Westberlin studierte, in den siebziger Jahren, wurde das Philosophische Institut der FU in ein Institut für Sozialwissenschaften umbenannt. Mit einigen Freunden zog ich mich zurück, um privat einen Lesezirkel für Heideggers «Sein und Zeit» aufzuziehen. Deshalb wurde ich auf einem Aushang im Institut, einer Art maoistischen Wandzeitung, als «Anarcho-Solipsist» gebrandmarkt. Auf diesen Titel bin ich heute noch stolz. Ich habe nie einer Partei oder einem politischen Lager angehört.

Sie weichen aus.

Nein, ich versuche Ihnen zu erklären, aus was für einer Position ich den von Ihnen zitierten Text geschrieben habe.

Verschieben wir also die Antwort auf die Eingangsfrage um Ihren Artikel und klären zunächst, was das Wort «bürgerlich» eigentlich bedeutet. Ich habe es eben als vagen Sammelbegriff für liberale und gemässigt konservative politische Haltungen gebraucht – das reicht offenbar nicht.

Allem voran bedeutet bürgerlich «vergangen»: Das Bürgertum war einmal. Mit dem Ersten Weltkrieg verabschiedet sich die bürgerliche Gesellschaft von der Weltbühne. In Thomas Manns «Zauberberg» wird erzählt, wie dem Bürgertum buchstäblich die Luft ausgeht. Ich kann also kein Bürgerlicher sein, selbst wenn ich es wollte.

Was zeichnete dieses untergegangene Bürgertum aus?

Seine Hochphase hatte es in der sogenannten Gründerzeit, im neunzehnten Jahrhundert. Zwar existierten Adel und Klerus formal weiter, aber die Bürger hatten die Macht übernommen, sie erschufen mit besseren Strassen, Laternen, Eisenbahnen, Dampfschiffen und der Telegraphie eine neue Welt. Damit verbunden waren auch neue Sitten. Auf einem Schiff zum Beispiel wurden nicht mehr als erstes die vornehmen Herrschaften gerettet, jetzt hiess es: Frauen und Kinder zuerst. Und für den Kapitän war es eine Selbstverständlichkeit, dass er mit seinem Schiff unterging. Der letzte Befehl von Captain Smith auf der sinkenden «Titanic» lautete: «Be british, boys!» In diesem wunderbaren Wort ist eine ganze Ideologie enthalten. Der Bürger fühlte sich seiner Nation zugehörig und er war bereit, für sie sein Leben zu geben. Ein Kapitän Schettino dagegen, der nach der selbst verschuldeten Havarie wohl als einer der ersten von Bord ging, ist der schlagende Beweis, dass bürgerliche Umgangsformen nicht mehr gelten.

Wie kam es aus Ihrer Sicht zum Niedergang?

Der Erste Weltkrieg war zwar ein Krieg zwischen Kaiserreichen, aber die Soldaten waren Bürger – und sie haben den Blutzoll bezahlt. Vielleicht könnte man sogar sagen: Sie haben diesen Krieg verloren. Siehe «Zauberberg»: Zum Schluss verschwindet der bürgerliche Held in den Fluten des Weltkriegs. Jedenfalls lag die strahlende Gründerzeit, die uns die schönen Villen und Mehrfamilienhäuser hinterlassen hat, anno 18 in Schutt und Asche. In Russland kam eine neue Klasse an die Macht, und die bürgerliche Schicht, die den Krieg überlebt hatte, stieg ins Kleinbürgerliche ab.

Sie meinen, der Kleinbürger tarnt sich seither bloss noch als «bürgerlich»? – Die Bezeichnung ist ja weiterhin sehr vital.

Herbert Marcuse sah das anders – und mit ihm die 68er. Marcuse meinte, dass ein Kleinbürger mit Reihenhaus samt Garten, Zaun und Opel keine revolutionäre Kraft mehr darstelle. Insofern war es auch nicht der Konservative, der den Nazis verfiel. Als Beispiel können Sie einen konservativen Dichter wie Rudolf Borchardt nehmen. Er war, wie viele seinesgleichen, ein vehementer Gegner Hitlers. Genauso Thomas Mann. Diese Leute waren weiterhin den Ideen und der Bildung des neunzehnten Jahrhunderts verpflichtet. Sie kamen aus dem humanistischen Gymnasium und blieben ihm treu. Für sie war die Freiheit das höchste Gut. Die Gleichheit hingegen, die Bolschewismus und Nationalsozialismus anstrebten, war ihnen ein Graus. Das war etwas für Kleinbürger mit ihrer Schrebergartenmentalität. Insofern hat Hitler, der prototypische Kleinbürger – Ernst Jünger hat ihm eine Chauffeursmentalität nachgesagt –, auf ganzer Linie gewonnen.

Das ist eine ziemlich steile These. Sie glauben, unsere Gesellschaften, die medial dauernd bezichtigt werden, aus hemmungslosen Individualisten und Egoisten zu bestehen, seien egalitärer denn je?

Wir sind endgültig im Gleichheitsmief angekommen. Das klassische Gymnasium hat abgedankt, die Gesamtschule – nomen est omen – hat übernommen. In Baden-Württemberg machen 60 Prozent eines Jahrgangs Abitur. Fragt sich nur, was für eins. Es genügt jedenfalls, um an einer Massenuni zu landen. Wo früher Bücherschränke standen, steht heute ein Grossbildschirm. Bildung, Bi-bliotheken, Bücher – seinerzeit Insignien des Bürgertums – finden Sie heute nur noch bei wenigen.

Sie sprechen so, als hätten Sie die Wälzer als Kind selbst im Schrank gefunden. Trauern Sie dem Bürgertum nach?

Die Familie meiner Mutter kam aus dieser Welt, und ja, ich bedaure ihren Untergang. Als ich vor einiger Zeit in einem Berliner Tram einer Frau um die 50 meinen Platz anbot, raunzte sie mich an: «Is dat ne Anmache, oder watt?» (lacht) Ich antwortete: «Nein, Madame, ich bin so erzogen.»

Hier kommen wir dann auf die Eingangsfrage zur Schweizer Demokratie zurück: mir scheint, die von Ihnen ausgemachte «Entbürgerlichung» machen Sie auch für das verantwortlich, was Sie die «Diktatur der Mittelmässigkeit» an der Urne nennen.

Ich halte die Schweizer Demokratie für erfolgreich, weil sie von Beginn des modernen Bundesstaats an die Angelegenheit einer intelligenten, interessierten Minderheit war, von sogenannten «Stimm-Bürgern». Die haben sich mit der Materie befasst, bildeten sich eine Meinung und taten sie an der Urne kund.

Ihr Essay legt nahe, dass diese Zeiten vorbei sind. Was genau hat sich also beim Schweizer Urnengang verändert?

Wichtig scheint mir die Feststellung, dass Entscheide, die bei einer niedrigen Stimmbeteiligung zustande kommen, sich hinterher in den meisten Fällen als klug und zukunftstauglich erwiesen haben. Hohe Stimmbeteiligungen hingegen neigen dazu, Ressentiments eines eher dumpfen Volkskörpers auszudrücken. So wurde zum Beispiel das Frauenstimmrecht einige Male wuchtig abgelehnt. Das «Ja» zur Masseneinwanderungsinitiative reiht sich hier nahtlos ein. Es war ein Nein, das mit einer hohen Stimmbeteiligung zustande kam und der Schweiz, wie ich glaube, geschadet hat. Wären weniger Leute an die Urne gegangen, hätte sich vermutlich ein «Nein» ergeben. Denn es war eine schwierige Entscheidung: Man musste die bereits bestehenden Verträge mit der EU bedenken, auch die Forderungen der Wirtschaft berücksichtigen, und diese Argumente dann gegen das ungute Gefühl abwägen, dass unser Land schon jetzt aus allen Nähten platzt. Da stösst die Volksdemokratie an ihre Grenzen.

Das ist auch ein Ergebnis der bewussten politischen Emotionalisierung eigentlich nüchterner Sachfragen. Aber mit Verlaub – so läuft nun mal das Business. Und wer es durchschaut, kann das politisch zu seinem Vorteil nutzen. Fallen Ihnen dafür mehr Beispiele ein?

Im Bezirk Einsiedeln, wo ich lange gelebt habe, hatte es der Bezirksrat in der Hand, was für Resultate die Abstimmungen über Einbürgerungen erbringen sollten. Ging es bei einem Urnengang nur um Gemeindethemen, war die Stimmbeteiligung niedrig, bei kantonalen oder eidgenössischen Abstimmungen jedoch deutlich höher, meist über fünfzig Prozent.

Was  passierte?

Bei einer hohen Stimmbeteiligung drückte der Volkskörper sein Gefühl aus, bei einer niederen setzte sich eher sein Verstand durch. An einem eidgenössischen Wahlsonntag hatte deshalb kaum ein Ausländer eine Chance, das Schweizer Bürgerrecht zu bekommen. Sie sind an der Mehrheit gescheitert.

Sie meinen: der Entscheid über vermeintlich unliebsame Einbürgerungskandidaten wurde auf einen eidgenössischen Abstimmungstag hin terminiert und fiel berechenbar negativ aus. Starker Tobak. Daraus muss man aber nicht zwingend folgern, dass sie, hätten bloss Gemeindeangelegenheiten auf der Agenda gestanden, eingebürgert worden wären. Oder?

Nicht zwingend, in der Regel aber schon.

Dann wäre die Gretchenfrage: Was unterscheidet nun die 20 Prozent, die stets abstimmen, von den zusätzlichen 20 bis 30 Prozent, die den Abstimmungen die entscheidende Wende geben?

Die etwa 20 Prozent setzen sich aus jenen zusammen, die zu den meisten Abstimmungen gehen, weil sie sich für das Land und dessen Zukunft verantwortlich fühlen. Sie nehmen die Souveränität wahr, die ihnen das Gesetz zuspricht. Bei den zusätzlichen 30 Prozent hingegen hat man es vornehmlich mit Leuten zu tun, die selten oder nie wählen und sich von medial aufgebauschten Themen mitreissen lassen. Das Fernsehen spielt da eine üble Rolle. Verglichen mit dem Niveau der TV-Talkrunden war der Stammtisch ein hochintelligent agierendes Gremium! Aber mit den Beizen sterben auch die Stammtische, das können Sie überall beobachten. Die gutbürgerliche Küche, wie es früher so schön hiess, ist landauf, landab im Verschwinden begriffen. Stattdessen boomen Schnellimbisse und Sternerestaurants.

Sagen wir es unverblümt: Sie behaupten, man müsse in Zukunft mit mehr polarisierenden Voten rechnen?

Das ist wahrscheinlich. Die politische Meinungs- und Willensbildung läuft heute deutlich simpler ab als noch vor Jahren oder Jahrzehnten. Bis vor kurzem gab es in jedem kleinen Dorf eine Beiz, in der über die Politik gestritten wurde. Da sassen sich Sozialdemokraten, Konservative und Liberale gegenüber und tauschten sich über Sachfragen aus. Tempi passati. Meinungen bilden sich heute vor dem PC, in sozialen Netzwerken, wo sich Gleichgesinnte gegenseitig bestätigen.

Ähnlich haben, pardon, vor einem Jahrhundert schon Ortega y Gasset und Spengler vor den unheilvollen Auswirkungen der «Vermassung» gewarnt, aber eben nicht recht behalten. Es klingt, als speise sich Ihr Gegenwartspessimismus aus einer leicht eingeschönten Vergangenheit. Trauern Sie der guten alten Zeit hinterher?

Wir reden hier von der Schweiz. Ortega y Gasset oder Spengler gingen von anderen Voraussetzungen aus. Aber Sie haben insofern recht, als nun auch die Schweiz mehr und mehr in eine Massengesellschaft mutiert. Und worauf hört der Massenkörper? Nicht auf seinen Verstand, er gehorcht seinem Gefühl.

Kurzfristig mag das der Fall sein. Aber auch ein gegenläufiger Trend bei medialem Überdruss ist doch durchaus denkbar?

Denkbar ist ja vieles. Ich will nur sagen, dass hierzulande zunehmend dieselben Mechanismen greifen wie in andern Ländern auch: Schlecht informierte Menschen in grosser Zahl stellen für jede Demokratie ein Risiko dar. Schauen Sie sich doch an, was der europaweit herrschende Sozialdemokratismus angerichtet hat. Um gewählt zu werden, versprechen die Parteien ihren Wählerinnen und Wählern auf allen Kanälen das Blaue vom Himmel herunter.

Herrschender Sozialdemokratismus? In der Schweiz ist die SVP die wählerstärkste Partei – als sozialdemokratisch würden sich Toni Brunner und Co. wohl nur widerwillig bezeichnen. Gleiches gilt für Deutschland, Griechenland und nicht zuletzt auch für Frankreich: überall haben konservative Parteien sehr lange grosse Erfolge gefeiert. Und mit dem Versprechen einer heilen Welt samt sicheren Renten stehen die Bürgerlich-Konservativen ihren sozialdemokratischen Kollegen doch genau besehen nur rhetorisch nach.

Halten Sie Angela Merkel für eine konservative Politikerin? Nicht im Ernst. Die Merkel ist vom Scheitel bis zu den Sandalen die personifizierte Sozialdemokratie. Und in der Schweiz haben Sie eindeutig eine sozialdemokratische Mehrheit, zusammengesetzt aus SP, CVP und einem grossen Teil der Freisinnigen. Die SVP hat ja überhaupt keine Macht. Siehe Einwanderungsinitiative: Das so-zialdemokratische Kartell wird sie niemals umsetzen – da können Blocher, Brunner und Co. noch so laut jammern. Im übrigen ist auch die SVP eine Partei des Kleinbürgertums und betreibt ebenfalls eine Politik zugunsten ihrer Klientel.

Dringen wir zum Kern der Sache vor – sofern wir weiter annehmen wollen, dass das eine noch recht junge Erscheinung ist: warum ist die westliche Wohlfühlpolitik so erfolgreich?

Daran sind die Amis schuld.

Ernsthaft? Ich hätte jetzt mit etwas Kreativerem gerechnet.

Der US-amerikanische Sieg über Nazideutschland etablierte im deutschsprachigen Teil Europas das moralische Schema des Wildwestfilms. Es gibt einen Guten und einen Bösen, und weil die Rechten mit dem Faschismus gleichgesetzt wurden, hat man ihnen die Rolle des Bösen angehängt.

Gut, das ist nun durchaus kreativ. Aber: zu Zeiten des Kalten Krieges wurde verbal auch auf Kommunisten eingeschlagen – so starr, wie Sie das hier zeichnen, kann also das Gut-Böse-Denken nicht auf Rechts und Links anwendbar gewesen sein.

Zugegeben, so haben es die Amerikaner ursprünglich gemeint. Sie waren die guten Boys, die Nazis und die Kommunisten waren die Schurken. Aber anno 89 haben sich die Kommunisten von selbst aus der Weltgeschichte verabschiedet. Die Sowjetunion, noch in meiner Jugend das Reich der Finsternis, existiert nicht mehr. Geblieben, vor allem dank Hollywood, sind die Nazis, und den vereinten Linken Europas ist das Kunststück gelungen, sich als deren überzeugteste Feinde aufzuspielen. Dass diese Feindschaft etwas spät kommt, scheint den Helden egal zu sein. Jedenfalls sind sie durchtränkt vom Bewusstsein, auf der richtigen Seite zu stehen, nämlich auf jener, die gegen den Faschismus ist. Das heisst, der grün angestrichene Sozialdemokratismus hat sich auf einer Warte eingerichtet, die die eigenen Werte nicht mehr hinterfragt; sie gelten einfach als gut und richtig, und was dem Weltbild dieser Leute nicht entspricht, wird als faschistisch abgetan.

Das ist nun alles reichlich abstrakt. An welchem konkreten Beispiel können wir die Auswirkungen der simplen Denkschablone Gut–Böse gleich Links–Rechts festmachen?

Ich habe viele Jahre meines Lebens in Berlin verbracht. Anders als etwa Zürich hat diese Stadt echte soziale Probleme. Kaum ein deutscher Politiker wagt es jedoch, die Brennpunkte zu benennen. Warum? Nicht weil er sie verkennt – weil er Schiss hat, als Rechter zu gelten.

Ausnahmen wie der ehemalige SPD-Bürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky, der gefühlt an jedem zweiten Abend bei Frau Maischberger auf die skizzierten Probleme hinweist…

…bestätigen nur die Regel. Mein türkischer Arzt sagte mir kürzlich, dass seine Kinder das Gymnasium in Istanbul besuchen würden. Er empfindet Berlin-Kreuzberg als zu islamistisch. Ich verstehe den Mann. Ab ins «freie Istanbul»! (lacht) Und: ein Teil des Problems sind die Journalisten. Dass Politiker keine Lust haben, in ein Wespennest hineinzugreifen, kann ich nachvollziehen, aber es war stets das erklärte Ziel von Zeitungen, die Dinge beim Namen zu nennen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Der häufig erhobene Vorwurf «Lügenpresse» operiert mit einem schalen, von der Historie diskreditierten Begriff, aber wahr ist, dass viele Leitartikel rein moralisch daherkommen und dass aus weltanschaulichen Gründen weggeschaut und geschwiegen wird.

Sie reden mit einem Publizisten – und derartige Anschuldigungen lasse ich nur ungern auf der ganzen Zunft sitzen. Können Sie hier konkreter werden?

Ich bin einmal mit einem republikweit bekannten Reporter durch Kreuzberg gewandert. Er fand gewisse Dinge, auf die wir gestossen sind, etwa eine Beratungsstelle für Immigranten, die einem erklärte, wie man deutsche Sozialsysteme unterlaufen könne, so interessant, dass er darüber eine Reportage schreiben wollte. Nach einer Woche rief er mich an und sagte: «Ich muss Ihnen leider sagen, dass die Chefredaktion die Sache abgeblasen hat – durch so eine Reportage giesse man unnötig Öl ins Feuer.» Das ist, gelinde gesagt, eine Katastrophe.

Wenn gewisse Journalisten und Politiker diese heissen Eisen nicht mehr anfassen wollen, was ist dann mit Ihnen und Ihren Kollegen? Im deutschen Feuilleton wurde jüngst wieder darüber geklagt, dass die Intellektuellen sich nicht mehr zu den Themen der Zeit äusserten – Debatten anstossen, das ganze Ding aus den 60ern oder 70ern, Sie wissen schon.

Diskurse und Debatten sind nur dann möglich, wenn man neue Wege, neue Ziele sucht. Mit Leuten, die wissen, wo’s langgeht, kann man schlecht debattieren. Gerade die, die die Toleranz auf ihre Fahnen geschrieben haben, sind selten bereit, eine andere Meinung zuzulassen.

Ihr kritischer Beitrag zum Abstimmungsresultat im Februar in der FAZ sorgte sogar für einen kleinen Shitstorm – allerdings kam der nun aus dem bürgerlichen, pardon: kleinbürgerlichen, Milieu: Man warf Ihnen in Onlinekommentaren vor, ein «Nestbeschmutzer» zu sein, Sie sollten doch «in Berlin bleiben» und die Klappe halten. Ganz bewusst schüren auch konservative Kreise hierzulande eine neue Intellektuellenskepsis. Was versprechen diese sich davon?

Echte Konservative sind von ihrer Bildung geprägt und haben nichts gegen Intellektuelle, im Gegenteil. Sie wissen, dass eine Gesellschaft ohne Elite keine Überlebenschance hat. In der «Zeit» las ich übrigens, dass sich auch der EU-Kommissar Martin Schulz über meinen Artikel geärgert habe. Das hätte meine Landsleute doch freuen müssen (lacht).

Offenbar haben Sie diesseits und jenseits des Rheins Ihre «Fans»…

…und beide wies ich im Artikel darauf hin, dass es zwischen den Mentalitäten von Schweizern und Deutschen gewisse Unterschiede gebe, und führte Canettis Nationalsymbole aus «Masse und Macht» an. Was dem Deutschen der Wald sei, sagt Canetti, sei dem Schweizer der Berg und die Höhle. Wir sind Bergler, könnte man mit Canetti sagen, Ver-Bergler. Wir horten und verstecken. In meinem Stück «Der Gesandte» heisst es: «Wir sind ein Volk von Tresoristen.» Das war immer so: Früher lebten die Bauern auf drei Staffeln. Im Winter im Tal, im Frühjahr zog man mit dem Vieh auf die schneefreien Hügel, im Sommer auf die oberste Alp. Und was hat man überall angelegt?

Vorratshöhlen – einfache Kühlschränke, wenn man so will.

Genau. Die historische Linie dieser Vorratshöhlen lässt sich weiterziehen bis zum Reduit, der Alpenfestung. Kein anderes Land der Welt hat sich meines Wissens so sehr im Tunnel- und Höhlenbau hervorgetan wie die Schweiz. Keine andere Nation hat je den Plan gefasst, die eigene Armee in einem monströsen Bunker wegzuschliessen. Calvin und Zwingli haben die Sennenmentalität des Hortens zur Religion gemacht. Calvin sagt: «Wenn du erfolgreich bist, beweist das, dass Gottes Gnade auf dir liegt. Aber einzig und allein Gott soll deinen Erfolg sehen – vor deinen Mitmenschen musst du ihn verbergen!» Das war die Erfindung des Schweizer Bankgeheimnisses. Dadurch war aus der Höhle eine Art Tabernakel geworden… Die Zürcher Bahnhofstrasse wächst deshalb in die Tiefe, wie New York in den Himmel wächst.

Viele Ihrer Schriftstellerkollegen haben dieses Motiv auch schon literarisch ausgeschlachtet: von Dürrenmatts «Winterkrieg in Tibet» über Burgers «Künstliche Mutter» bis zu Krachts «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» dreht sich vieles um den Wahnsinn im helvetischen Schacht. In den allermeisten Fällen erscheint hier die Höhlen- und Bunkermentalität aber nicht als Qualität, sondern als tragisches Missverständnis, als rostendes Ideal.

Die allgemeine Mobilität ist der Höhle nicht förderlich. Auch die Höhlen der Toten, die Gräber, werden vielerorts nicht mehr gepflegt. Zum Glück haben meine Schwester und ich, die beide Zug, den Ort unserer Herkunft, verlassen haben, einen lieben Cousin, der zu unserem Familiengrab Sorge trägt. Mit anderen Worten: wir bewegen uns von den Höhlen mehr und mehr weg. Gerade die Schweiz, die sich früher gern abschloss, ist ein global operierendes Land, denken Sie nur an Nestlé, die Uhrenindustrie oder die Chemie. Aber so richtig haben wir unser Tempo nicht gefunden, vielleicht auch deshalb, weil bei uns schon seit längerem zwei Geschwindigkeiten existieren. Auf der einen Seite haben Sie den bereits erwähnten Stimmbürger, der sonntags immer noch im Spazierschritt zur Urne schreitet. Dieser Typ kommt aus dem 19. Jahrhundert, und in seinem Spaziertempo funktionieren weite Teile des Landes, etwa die langwierigen politischen Vernehmlassungen auf allen Ebenen. Zugleich jedoch ist die kleine Stadt Zug, wo ich noch in einer Biedermeieridylle aufwuchs, heute ein internationaler Ölumschlagsplatz, eine Art Innerschweizer Abu Dhabi. Während am Zuger Zytturm mit den blauweissen Dachschindeln nach wie vor und wie im fernen Mittelalter die goldenen Zeiger kreisen, ticken in den gut gesicherten Konzernzentralen die Uhren buchstäblich anders. Da haben Sie nicht eine Uhr, sondern viele, nämlich die Zeiten von Singapur, Hongkong oder Dallas.

Ich behaupte: diese Parallelität existiert auch in Deutschland, in England, Spanien, den USA. Eigentlich… ja… überall, nicht?

Bis zu einem gewissen Grad mag das stimmen, aber einen Zytturm, der in Zug ganz selbstverständlich seinen Platz behalten hat, hätte in New York oder Singapur höchstens als Folklore überlebt. Bei uns stossen die moderne Welt und die Vergangenheit direkt auf-einander. Dieser Clash of Times, den viele schmerzlich spüren, ist wohl auch Grund für den Erfolg von Christoph Blocher. Er ist gewissermassen ein Zweitakter. In sich verkörpert er beide Geschwindigkeiten, die von früher und die von morgen. Zum einen ist er der Unternehmer, der global operiert, zum andern der wackere Eidgenosse, der in seiner Heimat aufgeht. Er steht mit einem Bein in der Globalität, mit dem andern auf der Rütliwiese.

Stichwort Rütliwiese: Sie haben mal gesagt: «Die Erinnerung lebt von Bildern, nicht von Fakten», das Gedächtnis sei eine Art «Mythenmaschine». Wie stark arbeitet Ihrer Meinung nach diese Mythenmaschine des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz im 21. Jahrhundert?

Ohne Mythos gibt es gar keine Geschichte. Ob die Urschweizer wirklich auf der Rütliwiese gestanden und ihre Schwurfinger in die Höhe gehalten haben oder der Aufstand an einem andern Ort und unter andern Umständen ausgebrochen ist, spielt überhaupt keine Rolle – je weiter wir von jener Zeit entfernt sind, umso weniger. Denn das Bild lebt. Der Mythos existiert. Also ist er real.

Realer Kitsch?

Als es Bundesrat Moritz Leuenberger peinlich war, Václav Havel das Rütli zeigen zu müssen, soll Havel gesagt haben, dass ihm Tell und das Rütli im Gefängnis viel bedeutet hätten. Das soll also Kitsch sein? Die Zukunft ist leer, aber die Geschichte enthält die Bilder, auf die wir zugehen können – das hat der Jetztmensch in seiner Beschränktheit vergessen.

Was ist denn das nun wieder, ein «Jetztmensch»?

Ein Gegenwartsfex. Ein Mensch, der sich vom Historischen und seiner Herkunft abgekoppelt hat. Meine Generation ist noch in einer Vertikalen aufgewachsen. Als Kinder lernten wir die biblischen Geschichten und die Sagen des klassischen Altertums kennen. Wir richteten den Blick nach oben, auf Gott und die Götter, und ganz in die Tiefe, auf die Anfänge der Menschheit. Diese frühen Prägungen sorgten für ein Geschichts- und Weltverständnis, das heute kaum mehr vorhanden ist. Heute bewegt man sich eher in der Horizontalen, in einer Gleichzeitigkeit, die den gesamten Planeten und die überall stattfindenden Ereignisse wahrnimmt.

Wenn man Ihnen so zuhört, muss man einfach fragen: Kommen Sie sich manchmal ein wenig aus der Zeit gefallen vor?

Für einen Schriftsteller ist das selbstverständlich.

Wieso?

Er lebt im Imperfekt. Deshalb interessiert mich auch das Tagesgeschehen nur am Rand – und vielen Kollegen scheint es ähnlich zu gehen.

Na ja, es gibt sie ja schon noch, die Schriftsteller, die sich mit dem Jetzt beschäftigen. Etwa mit dem Für und Wider der Europäischen Union: Das einzige realpolitische Feld, das Literaten noch fleissig in Leitartikeln und Büchern beackern. Wieso glauben Sie eigentlich nicht an eine Zukunft der Europäischen Union?

Weil ich aus der Vergangenheit weiss: Supranationale Gebilde brechen früher oder später in sich zusammen.

Gut, das hätte ich mir denken können. Aber, pardon, das trifft ja auch auf die vielen nationalen Gebilde zu. Staaten kommen, Staaten verschwinden – kaum eine Grenzziehung auf diesem Kontinent existierte vor 200 Jahren schon in ihrer heutigen Form.

Das Zarenreich existierte aber etwas länger als die Sowjetunion, oder? Ein schönes Beispiel ist das ehemalige Jugoslawien. Es funktionierte gut, solange es die starke Hand Titos gab und den Mythos einer Partisanenbewegung, die die deutsche Wehrmacht besiegte. Tito ging dann auf Abstand zur UdSSR und hat eine kluge Politik zwischen den Machtblöcken betrieben, was den einzelnen Völkerschaften, etwa den Serben oder den Bosniern, in gleicher Weise genutzt hat. Als die starke Hand Titos fehlte, ist Jugoslawien über Nacht in seine Bestandteile zerfallen.

Ich muss Ihnen, als Schweizer, aber nicht sagen, dass die Schweiz innerhalb eines Nationalstaats mit genau denselben Problemen kämpft – und immerhin in den letzten Jahrhunderten doch recht stabil war.

Ja. Weil sich die Schweiz von unten her organisiert. An erster Stelle steht die Gemeinde, dann folgt der Kanton und erst dann die Nation. Bei der EU ist es umgekehrt. Sie gleicht mehr und mehr der Sowjetunion, mit einem Politbüro, das sich mit Planungen – in der SU waren es Fünfjahrespläne – die Zukunft unterwerfen möchte.

Wenn das so eindeutig ist: Wie gelingt es dann einigen Ihrer Schrift-stellerkollegen, sich immer wieder am ja durchaus respektablen Ideal der EU aufzurichten, neuerdings gar sehr emotional zu postulieren, dass man dieses Ideal nicht mehr an der profanen, politisch-ökonomischen Empirie messen solle?

Das kommt aus der linken Tradition. Als ich an der FU Berlin studierte, wimmelte es von radikallinken Fraktionen, von den Trotzkisten bis zu den Maoisten. Alle politisierten in der festen Überzeugung, dass die Revolution quasi vor der Tür stehe und wir übermorgen eine kommunistische Gesellschaft sein würden. Kennen Sie Niklaus Meienberg?

Ja, natürlich. Das journalistische Vorbild vieler Kollegen – der Schweizer Archetyp des linken Reportagejournalisten.

Und ehemals ein ganz frommer Katholik, Klosterschüler in Disentis wie ich in Einsiedeln. In Paris hat Meienberg seinen Katholizismus gegen den Kommunismus eingetauscht – und so fromm, wie er früher war, war er auch in seiner neuen Religion. Die alten Griechen sagten: Vor uns liegt die Vergangenheit, hinter uns die Zukunft. Klug, wie sie waren, wandten sie dem Nichts den Rücken zu und orientierten sich am Mythos. Diese Denkhaltung haben die Religionen übernommen. Das himmlische Jerusalem ist überzeitlich, und wir können es nur dann finden, wenn wir unseren Blick auf den Mythos richten, also in die Tiefe der Vergangenheit. Anders die Ideologen: sie haben den mythischen mit dem utopischen Blick vertauscht. Hinter uns liegt die schlechte Vergangenheit, sagen sie, vor uns eine bessere Zukunft. Dabei übersehen sie allerdings, dass Ou-topos Nicht-Ort heisst, kein Ort, nirgends. In diesem Nirgends wird nun das Heil angesiedelt, und durch ein allgemeines Umerziehungs- und Beglückungsprogramm soll es erreicht werden. Die leere Zukunft hat ja den grossen Vorteil, dass man in sie seine Träume hineinschreiben kann, etwa den Traum von einer klassenlosen Gesellschaft oder einem in Seligkeit vereinten Europa, wo es den Deutschen plötzlich Spass macht, für die mediterranen Lebenskünstler das Geld zu verdienen.

Sie sagen: Ihre Kollegen haben den Kontakt zur Realität verloren.

André Gide gehörte zu den Intellektuellen, die seinerzeit die So-wjetunion in den höchsten Tönen besungen haben. Dann hat er den Traum an Ort und Stelle aufgesucht, die UdSSR, und erschrak derart, dass er nach der Rückkehr seinen Irrtum bekannte. Er stellte fest, dass das angebliche Glücks- ein Terrorregime war. Gide war ein grosser Schriftsteller, deshalb konnte er kein Ideologe sein. Schriftsteller denken mythisch, niemals utopisch. Als Meienberg einen Roman schreiben wollte, ist er daran verzweifelt und hat sich umgebracht. Die Grösse eines Gide, nämlich seinen Irrtum zu bekennen, ging ihm ab. Das trifft auch auf einige meiner Kollegen zu.

Ist Ihnen das auch schon passiert, dass Sie Ihre Sicht auf die Welt neu justieren mussten? Ich meine: Sie selbst haben zwei Nahtoder-fahrungen gemacht. Einmal wären Sie nach einem schweren Autounfall am Sihlsee beinahe verblutet, und erst kürzlich erlitten Sie während einer eigentlich lebensrettenden Operation beinah einen Herzstillstand. Wie verändern solche Erlebnisse den Blick auf die Welt?

Wie Sie meinen Worten entnehmen können, bin ich kein Freund des Fortschritts, in dieser Situation jedoch war ich der Medizin äusserst dankbar für die Lebensverlängerung. (lacht) Da haben Sie mich in meinem Widerspruch, und ich denke, diese Erfahrung machen die meisten Menschen: dass sie eine Coincidentia oppositorum sind, eine Einheit gegensätzlicher Meinungen. Nach dem Autounfall habe ich beispielsweise ein halbes Jahr gebraucht, bis ich mich wieder in ein Auto setzen konnte. Ich war traumatisiert. Aber dann genoss ich es, wieder am Steuer zu sitzen und über dieselbe Brücke zu brausen.

Sie wurden bei besagtem Unfall durch die Frontscheibe geschleudert.

Ich bin nach einem anstrengenden Tag auf der langen schmalen schnurgeraden Brücke, die zwischen Gross und Willerzell über den See führt, für eine Sekunde eingenickt, und als ich den Kopf wieder hochriss, raste das Brückengeländer auf mich zu. In so einem Moment erweitert sich die Wahrnehmung. Der Verstand begreift die absolute Ausnahme- und Grenzsituation und die Sinne nehmen innerhalb von Sekunden so viel auf, dass man hinterher das Gefühl eines zeitlupigen Vorgangs hat. Man meint, der Wagen habe sich unendlich langsam gedreht, und ich vermute, dass dieser Eindruck auf die Fülle der Informationen zurückgeht, die man in diesem Augenblick aufnimmt und verarbeitet. Vielleicht wird die Wahrnehmung umso grösser, je näher man der Grenze kommt, dem Tod. Nur davon kann ich reden: von einer Annäherung an den Tod. Solange das Hirn aktiv ist, ist man noch auf der Seite des Lebens, möglicherweise eines sehr konzentrierten, gesteigerten Lebens.

Auch das Sterben, für das wohl ähnliche Gesetze gelten, ist ein zentraler Topos vieler Ihrer Geschichten: Ganz am Anfang Ihrer Karriere, 1981, in der Kurzgeschichte «Die Tessinerin», schauen wir einer alten Frau über 100 Seiten lang dabei zu. Als eindrücklichstes Bild aus «Der grosse Kater» habe ich die bei lebendigem Leibe verbrennenden Kühe in einem verschlossenen, in Flammen stehenden Stall in Erinnerung. Was fasziniert Sie am Weg in den Tod?

Die Faszination geht vermutlich auf meine Kindheit zurück. Weil ich ein guter Schüler war, wurde ich oft als Ministrant zu Beerdigungen hinzugezogen. Dabei machte ich die Erfahrung, dass die Fahrt in die Grube spannende Geschichten auslöste, erst den Nachruf am Grab, dann die lustigen Anekdoten, die über den Verstorbenen beim Leichenmahl erzählt wurden. Haben Sie schon einmal eine Leiche gesehen?

Als mein Opa gestorben war und man seine Enkel zu ihm liess, lag er friedlich – und in seinen liebsten Kleidungsstücken, «Manchesterhose» und Hemd – auf seinem Bett. Die Hände gefaltet, die langen Augenbrauen sich vor dem weissen Laken abzeichnend. Sehr eindrücklich.

Sehen Sie! Das sind Eindrücke, die bleiben. Und so wie Bauernkinder das Werden und Vergehen von Tieren als selbstverständlich empfinden und deshalb ein anderes Verhältnis zum Fleisch haben, habe ich ein anderes Verhältnis zum Tod. Er gehörte in der bäuerlich-archaischen Welt meiner Kindheit einfach dazu, wir hatten keine Angst davor. Als Ministranten haben wir sogar hin und wieder die Decken über den Leichen gelüftet und geschaut, was sich darunter verbirgt. Oft trugen die Männer nur eine Hemdbrust und eine Krawatte; den Anzug haben die Überlebenden für sich behalten.

Auch das ist «typisch Hürlimann», wenn ich das so sagen darf. In Ihrer Prosa bricht sich das Derbe auch immer wieder Bahn in ansonsten streng komponierten, geschmiedeten Geschichten. Mal furzt jemand ungeniert am Totenbett, mal schaut der Klosterschüler den weiblichen Messebesuchern, oder den Toten, unter den Rock – sind diese Brechungen auch Relikte aus Ihrer Kindheit?

Der Blick unter die Röcke geschieht vor dem Portal der St. Galler Klosterbibliothek, wo der Ich-Erzähler an die Besucherinnen Pantoffeln verteilen muss. Denn er hält sich nicht nur an der Schwelle zur Bibliothek, sondern auch an jener zur Pubertät auf, und natürlich ist in dieser Zeit das andere Geschlecht ein erregendes Geheimnis. Aber Sie haben recht: Mein Interesse für den Zusammenklang von Komik und Tragik oder die Lust an Exkursionen ins Geheimnis gehen auf frühe Erlebnisse zurück. Kürzlich hatte ich eine unerwartete Begegnung, die direkt in jene Zeiten führt. Ich traf jemanden, den ich zum letzten Mal im Sandkasten gesehen hatte: meinen Freund Marcel Bertschi. Er war damals sechs Jahre alt, ich vier. Er war mein Häuptling, ich sein Indianer, und wie sich zeigen sollte, hat er dann genau jenes Leben geführt, das ich als kindlicher Bewunderer in ihm vermutet habe.

Inwiefern?

Er wurde Farmer und Grosswildjäger in Afrika. In seiner Hacienda im Busch spazieren Löwen herum, und stellen Sie sich vor, gestern nach der Lesung hat er mich eingeladen, ihn und seine Löwen zu besuchen. Vielleicht werde ich das tun. Marcel Bertschi erlebt die Abenteuer, die ich am Schreibtisch erlebe, in der Wirklichkeit, und das imponiert mir natürlich gewaltig. Mit ihm würde ich sofort wieder ins Getümmel ziehen.

Wir müssen uns also den jungen Thomas Hürlimann als Rabauken vorstellen?

Als gehorsamen Ausführer von Marcels Befehlen. Unter seinem Kommando bin ich als Bub einige Male ausgerückt, um die an der Wäschespinne unseres Mehrfamilienhauses aufgehängten weissen Laken mit einer Paste aus Dreck und Pisse zu beschmieren. Es war noch nicht das weisse Papier, das ich später mit Geschichten füllen sollte, aber eine Vorform davon, und schon meine ersten künstlerischen Äusserungen haben kontroverse Reaktionen hervorgerufen. (lacht)

Herr Hürlimann, danke für dieses ausgiebige Gespräch.

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