Die deutsche Sprachverwirrung
Fehlkonzept Rechtschreibreform
Wie verhält sich die Schule zwischen Amtlichkeit und Wirklichkeit? – In Thomas Manns Menschheitsbuch «Joseph und seine Brüder» ist eine Kluft zwischen Amtlichkeit und Wirklichkeit: der ägyptische Neujahrstag, wie er für den Kalender errechnet wird, fällt nur alle eintausendvierhundertsechzig Jahre mit dem natürlichen zusammen. Die Unterzeichnung der «Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung» (1. Juli 1996) hat amtliche und wirkliche Rechtschreibung gründlich getrennt. In Ägypten kann man es bedauern, daß «diese Schönheit, die Einheit von Wirklichkeit und Amtlichkeit» fast nie «geschaut» wird. Wir aber müssen das Auseinanderklaffen von Amt und Welt (andere Namen dafür: Fehlkonzept, Mißwirtschaft) bezahlen, und in der Schule wird das teure Vertrauen von Schülern und Eltern verspielt. Es ist Zeit, daß die Öffentlichkeit erfährt, was eigentlich los ist.
Erstens: Die neuen Regeln werden abgelehnt. 1998 erschien ein Aufruf von sechshundert Literatur- und Sprachwissenschaftern: «Die sogenannte Rechtschreibreform entspricht nicht dem Stand sprachwissenschaftlicher Forschung.» Die Nachrichtenagenturen trafen eine Auswahl, sie blieben z. B. bei der bisherigen Satzzeichenregelung, «um die Lesbarkeit ihrer Nachrichten zu gewährleisten»; die meisten Zeitungen bieten die neue Rechtschreibung in dieser Form. Die «Neue Zürcher Zeitung» und «Die Zeit» versuchten ihr Glück mit umfangreichen Hausorthographien; die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» hat die neuen Regeln wieder aufgegeben. Nicht nach den neuen Regeln erscheint auch ein Großteil guter Literatur: Verlage, Autorinnen und Autoren wehren sich.
Zweitens: Die Reformer selbst tadeln ihr Werk. 1990 teilten sie noch mit, es handle sich «um den am besten durchdachten Neuregelungsvorschlag zur deutschen Rechtschreibung, der seit der Orthographischen Konferenz von 1901 erarbeitet wurde». Sieben Jahre später, nach dem Erscheinen der neuen Wörterbücher und dem Losbrechen der Kritik, schrieben sie: «Die Auswertung aller kritischen Hinweise macht die Notwendigkeit eines Eingriffs in den Regeltext unumgänglich.» Den Eingriff verboten die Politiker, weil sie neue zwischenstaatliche Verhandlungen vermeiden und auf Verlage Rücksicht nehmen wollten, die schon nach den neuen Regeln gedruckt hatten. Zwei Mitglieder der Reformkommission konnten das Weiterarbeiten mit einem so fehlerhaften Regelwerk nicht verantworten und traten aus: Horst Haider Munske und Peter Eisenberg. Die Verbesserungen, tatsächlich Wiederherstellungen des früheren Zustandes, erfolgten heimlich, in den Wörterbüchern. Ende 2001, im dritten Kommissionsbericht zur Umsetzung der Reform, las man von weiteren «weit gehenden Eingriffen» ins neue Regelwerk.
Drittens:Es geht um Verlagsräson. Günther Drosdowski, als Leiter der Duden-Redaktion selber Kommissionsmitglied, berichtete: «Mir erlegten Anweisungen der Kultusministerien und die Verlagsräson auf, daß ich die Reform mittrage. In der Rechtschreibkommission herrschten mafiaähnliche Zustände. Einige Reformer hatten von der Verschriftung der Sprache und der Funktion der Rechtschreibung für die Sprachgemeinschaft keine Ahnung, von der Grammatik, ohne die es bei Regelungen der Orthographie nun einmal nicht geht, sowieso nicht. Sie mißbrauchten die Reform schamlos, um sich Ansehen im Fach und in der Öffentlichkeit zu verschaffen und mit orthographischen Publikationen Geld zu verdienen. Es ist schon ein Trauerspiel, daß die Sprachgemeinschaft jetzt ausbaden muß, was sich [andere] ausgedacht haben.» 1996 schrieb Horst Sitta, Schweizer Vertreter in der Kommission, dem Sekretär der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Christian Schmid: «Noch gar nicht gesprochen worden ist über die Möglichkeit, dass bei der Arbeit am Regelwerk auch Regeln formuliert worden sein können, die fragwürdig sind.» Er warnte aber nicht etwa davor, das neue Regelwerk ungeprüft in der Schule einzuführen, sondern warb dafür, daß der Duden weiter verbindlich bleibe; er ist, wie der zweite Schweizer Vertreter Peter Gallmann, Autor des Duden-Verlags. Daß es dem Verlag ums Geschäft geht, zeigt seine Richtlinie zum Werbetrick, die Reform habe die Zahl der orthographischen Regeln verringert: «Die inhaltlich falsche, aber politisch wirksame Formel ‹aus 212 (Regeln) mach 112› muß auch im Duden ihren angemessenen Ausdruck finden.»
Viertens: Längst gelöste Fragen werden neu aufgeworfen. Die «alte», bewährte Rechtschreibung ist im Verlauf des 19. Jahrhunderts geklärt und vereinheitlicht worden. Es gab schon damals närrische Reformversuche, z. B. unter dem Titel «Zur fereinfachung unserer ortografi» in der «Schweizerischen Lehrer-Zeitung» von 1869. Damals aber wurde grundsätzlich das allgemein Übliche bewahrt und 1901 auf einer Konferenz, die zweieinhalb Tage dauerte, bestätigt. So war im wesentlichen erreicht, was Gottfried Keller 1860 vermißt hatte: eine «allgemeingültige, klassisch abbrevierte Schreibart». An ihr konnten die Reformer nur ändern, was politisch durchsetzbar schien; dort, wo es nicht um Kinkerlitzchen geht, gerieten sie ins Elend, z. B. mit «es tut mir Leid». In einer Untersuchung von 1863 steht: «Man sagt nicht: Es tut mir großes Leid, es tut große Not, es findet keine Statt, sondern: Es tut mir sehr leid, es tut sehr not, es findet nicht statt.» Heute muß der Dichter Reiner Kunze wieder darauf hinweisen, daß die Schreibweise «wie Leid der Freund ihnen tut» falsch sei: «Wo man ‹Leid› großschreibt, muß man auch ein ‹das› davordenken können, was in diesem Fall zur Folge hätte, daß das Sprachgefühl ausrastet.»
Fünftens: Wir werden lächerlich. Die Reformer verlangen, daß das fachsprachliche Wort «fleischfressend» durch die Wortgruppe ersetzt wird («Fleisch fressend»); «blutstillend» bleibt. Sie schreiben das alte Adjektiv «feind» groß: «Ich bin dir Feind»; «ich bin dir spinnefeind» aber klein, weil man ihnen gesagt hatte, es gebe kein Substantiv «der Spinnefeind». Das finden die Reformer Gerhard Augst und Burkhard Schaeder selber «ärgerlich», «selbst wenn die Schreibenden außerhalb des Unterrichts diese Wendung sehr, sehr selten schreiben werden». Der Unsinn mit «Feind» ist also unveränderbar, während, um das altertümliche «morgen Abend» zu stützen, das verrückte «morgen Früh» nachgetragen wurde. Spätere Zeiten werden sich wundern, daß wir so etwas so lange hingenommen haben.
Seit 1996 haben Schulen und Ämter für viel Geld zwei Duden gekauft, die sich in Hunderten von Fällen widersprechen. Im Juli 2005 läuft die Übergangszeit ab, dann sind, nach weiteren «Verbesserungen», die neuen Regeln verbindlich, und ein weiterer Duden wird erscheinen; es ist zu befürchten, daß auch er nicht der Sprachwirklichkeit folgen wird. Unsere Erziehungsdirektoren haben 1996 die Verantwortung für die Rechtschreibung übernommen. Was tun sie heute angesichts der verfahrenen Lage? Und welches Wörterbuch wird 2005 verbindlich? Die Schule ist der Wirklichkeit verpflichtet.
Stefan Stirnemann, geboren 1960, studierte Theologie und Klassische Philologie, war Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München und unterrichtet nun Latein am Gymnasium Friedberg (Gossau). (s.stirnemann@gmx.ch)