Die Daseinsberechtigung der Schweiz ist bedroht
Paul Widmer ordnet den Sonderfall im grossen Ganzen ein.
«Die Schweiz muss Respekt für ihr Staatswesen einfordern», forderte Paul Widmer 2020 in einem Essay zum Rahmenvertrag im «Schweizer Monat». Unter anderem schlug er vor, die Anbindung an den EU-Gerichtshof zu streichen, um das Abkommen zu retten. Ohne Erfolg: Ein Jahr später begrub es der Bundesrat.
Vielleicht nimmt sich die Regierung ja Widmers Forderung bei der Aushandlung eines neuen Vertrags zu Herzen. Denn er hat durchaus einen Punkt, den er in seinem neuen Buch «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr» unterstreicht. Als langjähriger Diplomat und ausgebildeter Historiker hat er sowohl geografisch als auch zeitlich das grosse Ganze im Blick – und gerade deshalb ein Gespür für den Wert der Besonderheit, die er bedroht sieht. Ausdruck dieser Bedrohung ist aus seiner Sicht der Druck auf die Neutralität im Zuge des Ukrainekriegs. Widmer kritisiert, dass der Bundesrat die Neutralität auf ihre rechtliche Seite reduziere. Denn: «Neutralität ohne Neutralitätspolitik ist ein Ding der Unmöglichkeit.»
Die grundsätzlichere Bedrohung sieht Widmer in der Aushöhlung der einzigartigen politischen Kultur der Schweiz, die auf demokratischer Mitbestimmung, Machtteilung und einer gesunden Skepsis gegenüber dem Staat basiere. Eine Bedrohung, die nicht von aussen, sondern von innen komme: in Form einer Tendenz, den Föderalismus auszuhöhlen und den Staat auszubauen. Setze sich diese Tendenz durch, warnt Widmer, wäre es vorbei mit der Einzigartigkeit der Schweiz – und damit letztlich auch mit der Daseinsberechtigung als Nation. (lz)