Die Crux mit der Parteidisziplin
Die Schweizer Parteien vermitteln derzeit nicht den Eindruck von Grundsatztreue und innerer Geschlossenheit. Im
Hinblick auf Abstimmungsparolen rauft man sich zwar jeweils zusammen, hinter den Kulissen aber wird weiter gestritten.
Fehlt es an Parteidisziplin? Manches deutet darauf hin. Das «Fussvolk» macht nicht oder nur noch teilweise mit, wie die Analysen nach Urnengängen zeigen. Und gelegentlich scheitern taktische Empfehlungen kläglich, wie bei der Regierungsratsersatzwahl im Kanton Zürich. Die FDP reagiert nervös. Ausgerechnet sie, die sowohl ideell wie soziologisch immer der Meinungsvielfalt verpflichtet war, versucht, Wortführer abweichender Meinungen reglementarisch einzubinden. Und vom neuen Parteipräsidenten wird erwartet, dass er die Flügel wieder besser unter Kontrolle bringt. Entsprechende Absichtserklärungen sorgen prompt für mediale Aufmerksamkeit – und so wird es auch weiterhin nicht an hämischen Kommentaren fehlen.
Denn die Parteien sind in der realen Schweizer Politik nicht die Meinungsmacher. Ob eine Partei am Ende des politischen Verhandlungsprozesses zu einem Ja oder zu einem Nein aufruft, lässt sich weder aus ihrer ideologischen Position noch aus einem mehr oder weniger verbindlichen Programm ablesen. Die diesbezüglichen Etiketten werden den Vorlagen dann angeheftet, wenn es zum Kampf kommt. Vorher sind es Kompromisse, die möglichst viele Interessen unter einen Hut bringen sollten. Wie das funktioniert – gegen alle wohltönenden Grundsatzerklärungen – haben die Verhandlungen zum Entlastungsprogramm während der letzten Parlamentssession gezeigt, die zeitweise zur parteiübergreifenden Selbstbedienungsparty ausarteten. Die Koalition der Partikularinteressen hat die Glaubwürdigkeit gerade der bürgerlichen Parteien arg beschädigt.
Oft sind es gerade die «Abweichler», die ihre Parteien unbequem an ihre Grundsätze erinnern. Gegen den gewerkschaftlichen Blockierungskurs sind in der Sozialdemokratischen Partei prominente Opponenten mit einem Buch angetreten, das die sozialen Herausforderungen unter den veränderten Bedingungen einer dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Wirtschaft ernst nimmt. In der Schweizerischen Volkspartei haben sich erfolgreiche Unternehmer gegen das kurzsichtige Nein zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit gewandt, das die mühsam erkämpften Errungenschaften der bilateralen Verhandlungen aufs Spiel setzt. Und bei den Grünen hat sich eine liberale Gruppierung abgespalten, die der etatistischen Sozialpolitik der Linken die Nachhaltigkeit abspricht.
Bleiben die beiden Parteien, die in die «Mitte» gedrängt werden und hier ihre liebe Not mit ihrem Kompass haben. Die Christlichdemokratische Volkspartei hat historische Erfahrungen mit zwei Flügeln ohne starken Rumpf, sie steht einerseits zu ihrem christlichsozialen Erbe und taktiert anderseits geschickt mit dem nach wie vor bürgerlich-konservativen Bollwerk in den Stammlanden. Sie hat mit dem Spiel der Mehrheitsbeschaffung weniger Mühe als die Freisinnig-Demokratische Partei, die gleichzeitig finanz- und wirtschaftspolitisch mit den bürgerlichen Partnern und gesellschaftspolitisch mit den Modernisten aller Parteien paktieren will. Dieser Spagat hat die Partei unübersehbar gespalten, weil in den beiden Bereichen die Rolle des Staates unterschiedlich gesehen wird und weil auch in der Finanz- und Wirtschaftspolitik die bürgerlichen Interessen an der Besitzstanderhaltung oft stärker gewichtet werden als die liberale Eigenverantwortung. Wie keine andere Partei hat die FDP sich mit profilierten Meinungen in einem breiten Spektrum auseinanderzusetzen, das von der starken Vertretung in Behörden und Verwaltung über die zahlreichen Repräsentanten von politischen und wirtschaftlichen Organisationen bis zu den Speerspitzen der liberalen Think-Tanks reicht.
Die Vielfalt der Auffassungen und Interessen zu bündeln, ist der Partei in letzter Zeit eher schlecht als recht gelungen. Es kann auch nicht darum gehen, die Vielfalt zu bekämpfen, sie hat der Partei ja ihre breite Basis verschafft. Der legendäre Gewerbeverbandsdirektor Otto Fischer lag seinerzeit fast dauernd im Clinch mit der Partei und hat trotzdem oder gerade deswegen seine Klientel bei der Stange gehalten. Die Aufgabe besteht darin, die Meinungsbildung offen zu führen, daraus einen identifizierbaren strategischen Kurs zu entwickeln und diesen selbstbewusst zu verfolgen. Wenn dies gelingt, lassen sich auch abweichende Positionen dulden und respektieren. Wenn aber der Kurs nicht klar bestimmt und verständlich kommuniziert wird, nützt auch der Ruf nach Parteidisziplin nichts.
Gerade bei Abstimmungsvorlagen, die in der Regel parteiübergreifende Kompromisse mit Vor- und Nachteilen darstellen, wird es immer und in jeder Partei Meinungsdifferenzen geben. Die Urnengänge des letzten Jahres, aber auch etwa die bevorstehende Abstimmung zu Schengen/Dublin liefern dafür reiches Anschauungsmaterial. Es gab und gibt in allen diesen Fällen keine alleinseligmachende Wahrheit, auch wenn die Kampagnen verständlicherweise diesen Eindruck zu erwecken versuchen. Die Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen zwischen, aber auch innerhalb der Parteien wird damit zum Test der Überzeugungskraft. Mit Appellen oder gar Verboten wird gar nichts gewonnen. Der Kampf der Argumente entscheidet, nicht die Parteidisziplin.
Ulrich Pfister, geboren 1941, ist Publizist in Zürich.