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Die Coronapolitik zeigt, wie sich die Gesellschaft gewandelt hat
Peter Kuster, fotografiert von Daniel Jung.

Die Coronapolitik zeigt, wie sich die Gesellschaft gewandelt hat

Um die richtigen Lehren aus der Pandemie zu ziehen, müssen wir verstehen, weshalb die Mehrheit der Bevölkerung das freiheitsfeindliche Krisenmanagement des Bundesrats unterstützte. Fünf Erklärungsansätze zum Weiterdenken.

Man erinnert sich nicht gerne zurück an die Zeit vor zwei Jahren, doch vielleicht sollte man es trotzdem tun. Damals befand sich die Schweiz noch im Ausnahmezustand, die Coronapolitik trieb die absonderlichsten Blüten.

Die «Aargauer Zeitung» kommentierte Mitte Dezember den Entscheid, grosse Bevölkerungskreise vom öffentlichen Leben auszuschliessen, mit Genugtuung: «Es ist höchste Zeit, dass der Bundesrat nun mit der 2G-Regel die Schrauben anzieht», befand das Blatt1 und verwies dabei auf die sich mit der neuen Virusvariante Omikron angeblich noch zuspitzende Lage. Der Bundesrat limitierte auch die Anzahl Personen, die im trauten Heim gemeinsam Weihnachten feiern durften, auf maximal zehn, sofern ein mindestens 16jähriger Ungeimpfter oder Nichtgenesener dabei war. Wer in Zürich einen Gottesdienst oder einen kleinen Adventsmarkt besuchen wollte, brauchte dafür ein 2G-Zertifikat. In Italien galt eine allgemeine Impfpflicht, Österreich hatte sie beschlossen, und Deutschland wollte sie einführen. In seinem Jahresausblick rechnete der «Tages-Anzeiger» damit, dass 2022 eine Abstimmung über eine Covid-Impfpflicht bevorstehe.2 Und die Zürcher Regierungspräsidentin Jacqueline Fehr, welche die Debatte wenige Tage zuvor in einem Tamedia-Interview befeuert hatte, konzedierte gegenüber der Konkurrenz, eine Impfpflicht sei zwar «unschön und nicht gerade liberal», doch «besser als eine Zweiklassenmedizin, eine unethische Triage oder noch mehr Zorn der Geimpften auf die Ungeimpften».3 Glücklicherweise setzte die Macht des Faktischen im Februar/März 2022 dem ganzen Spuk ein Ende. Das Schreckensvirus Omikron hatte sich als weniger gefährlich erwiesen als befürchtet und die Wunderwaffe Impfung als weniger wirksam als erhofft.

Seit dem Ende der Pandemie ist viel Energie darauf verwendet worden, Antworten auf zwei miteinander verknüpfte Fragen zu finden.

 

1. Welches Land hat mit welchen Massnahmen am ­besten abgeschnitten?

Die Antwort hängt davon ab, welcher Massstab angelegt wird: Todesfälle infolge Corona (gestorben an/mit?), entgangene Lebensjahre, Übersterblichkeit, volkswirtschaftliche Kosten gemessen am Bruttoinlandsprodukt oder am Anstieg der Staatsverschuldung, Lernrückstände und psychische Schäden bei den Jugendlichen? Und wie wäre, wenn mehrere Kriterien gewählt werden, zu gewichten?

 

2. Welche Lehren sind aus der Pandemie zu ziehen?

Bund und Kantone, aber auch Unternehmen und Institutionen haben umfangreiche Berichte abgeliefert, die aufzeigen, wo – auf strategischer und operativer Ebene, in der Koordination und Kommunikation – bei einer nächsten Krise Verbesserungspotenzial besteht. Global ist derzeit die Weltgesundheitsorganisation WHO dar­an, mit dem neuen Pandemieabkommen und den revidierten Internationalen Gesundheitsvorschriften Lehren zu ziehen, wobei zweifelhaft ist, ob sie dies unbefangen und unvoreingenommen tut.4

Lektionen aus einer Krise zu ziehen, ist wichtig, um sich für die Zukunft zu wappnen. Allerdings klaffen die Erkenntnisse auseinander: Während die einen den etablierten Medien gar nicht mehr vertrauen und hinter jeder staatlichen Handlung eine Hidden Agenda vermuten, möchten andere den Behörden noch schärfere Instrumente geben, um die Volksgesundheit das nächste Mal besser schützen zu können. Doch wie soll man Lehren unvoreingenommen ziehen können, wenn man die Tragweite der Entscheidungen von Frühling 2020 bis Frühling 2022 nicht richtig begriffen hat?

Rasch nach dem Ausbruch der Pandemie in Europa war klar geworden, dass es sich nicht um eine Killerseuche handelte und das Risiko für den Durchschnittsbürger sehr beschränkt war. Trotzdem wurden die Freiheitsrechte, der Föderalismus sowie das Alltagsleben auch in der Wohlstandsinsel Schweiz drastisch eingeschränkt. Das war nur möglich, weil die Mehrheit der Bürger – wie die Abstimmungsresultate zu den Covidreferenden nahelegen – sich dem Diktat des Bundesrats willig unterzogen.

Doch weshalb? Vor vierzig Jahren hätte die Landesregierung bei gleicher Bedrohungslage wohl gar nie in Betracht gezogen, in der Schweiz die Wirtschaft(en) und die Schulen zu schliessen. Die Vermutung liegt nahe, dass der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte eine notwendige Bedingung dafür war, dass der Bundesrat so schalten und walten konnte. Nachfolgend fünf Erklärungsansätze.

 

1. Demografie: Niemand wollte sich dem Vorwurf ­aussetzen, die neue greise ­Elterngeneration zu opfern.

Dank der gestiegenen Lebenserwartung sind wir die erste Generation, deren Eltern eine gute Chance haben, unsere Pensionierung zu erleben. Dass der Abschnitt, den wir mit Mutter und Vater teilen dürfen, so lange geworden ist, ist erfreulich. Doch können die greisen Eltern für ihre Kinder auch zur Hypothek werden, sei es, weil sie immer noch mitreden wollen oder weil sie zum Pflegefall werden. Die vielen gemeinsamen Jahre verstärken auch die natürlichen Spannungen auf emotionaler Ebene: die Verpflichtung, sich dankbar zu zeigen, das Bedürfnis nach Abgrenzung und das Schuldgefühl, den Eltern doch nicht genügend Zeit schenken zu können. In dieser Gefühlslage wollten sich nur wenige der meist mittelalterlichen Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft dem Vorwurf aussetzen, die vulnerable Elterngeneration zu opfern, bloss um die Normalität aufrechtzuerhalten. Die gleiche Überlegung dürften auch viele einfache Bürger angestellt haben.

 

2. Säkularisierung: Schwindet das Spirituelle, füllt das Körperliche den Raum.

In den letzten Jahrzehnten sind Religionen und Religiosität aus dem Alltag verschwunden. Die Perspektive des Jenseits, die für die Menschen über Jahrhunderte wichtig war, ist verblasst. Heute zählt allein das Diesseits, die körperliche Gesundheit hat das Seelenheil verdrängt. Das erklärt den fast schon an Besessenheit grenzenden Drang in der Pandemie, Testergebnisse, Infektionen und Todesfälle zahlenmässig zu erfassen, sich aber keinesfalls auf Diskussionen um den Sinn eines selbstbestimmten Lebens einlassen zu wollen. Früher wurden Krisen im Vertrauen in die göttliche Ordnung hingenommen. Heute ist dieses dem Anspruch an Staat und Gesellschaft gewichen, kollektiv durch jede Krise zu steuern. Selbst innerhalb der Kirchen ist die Säkularisierung fortgeschritten, scheinen sie doch heute ebenso die körperliche Gesundheit (und nicht mehr ein gottgefälliges Leben) als höchstes Gut zu betrachten. Wie denn sonst lässt sich die Tatsache erklären, dass sie sich mutlos nicht nur nicht gegen staatliche Auflagen bei den Gottesdiensten, ihrem Kerngeschäft, wehrten, sondern diese oft noch beflissen «zum Schutz der Gesundheit» übererfüllten?

«Heute zählt allein das Diesseits, die körperliche Gesundheit hat

das Seelenheil verdrängt.»

 

3. Wohlstand: Im Glauben, über grenzenlose Mittel zu verfügen, hat der Staat die Verlierer seiner Politik ­entschädigt. Die Mehrheit fand das auch richtig.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist der Wohlstand in der westlichen Welt auch für die Durchschnittsbevölkerung auf ein für frühere Generationen unvorstellbares Niveau angestiegen. Die Politiker, und auch jene, die sie wählen, wähnen, über reichlich Steuersubstrat zu verfügen, das für die Erfüllung aller möglichen Aufgaben ausgeschöpft werden kann. In der Coronakrise wurden in enger Abstimmung mit den Zentralbanken, die mit einer noch nie dagewesenen Geldmengenausweitung beziehungsweise mit extrem tiefen Zinsen für Liquidität in Hülle und Fülle sorgten, weltweit staatliche Wirtschaftsprogramme aufgelegt. Auch in der Schweiz erhielten Handwerker, Gastronomen, Kulturschaffende usw. für den Schaden, den sie aufgrund der Seuchenbekämpfungsmassnahmen erlitten hatten, gross­zügig subventionierte Kredite. Das war nicht per se falsch, kamen die Einschränkungen doch einer Enteignung nahe. Vor 40 Jahren jedoch hätten Hilfsprogramme allein aufgrund der weniger tiefen staatlichen Taschen deutlich bescheidener ausfallen müssen, wenn es sie überhaupt gegeben hätte, was angesichts des damals noch wachen Abwehrreflexes gegen Bundesbern zweifelhaft ist. Klar ist hingegen, dass mit Subventionen und Kredithilfen die politische Akzeptanz der Massnahmen erhöht oder gar erkauft wurde. International stützte die Krisenpolitik zwar die Konjunktur, setzte aber auch starke inflationäre Kräfte frei.

 

4. Medienwandel: Ohne den Typus des neuen Journalisten hätte es keine freiwillige Gleichschaltung der ­Medien gegeben.

Die vierte Macht im Staate nahm ihr Wächteramt nicht wahr. Dass die meisten Medien die Coronapolitik grosso modo widerspruchslos mittrugen und sich stattdessen an der bunten Schar der Massnahmengegner abarbeiteten, ist hinlänglich belegt. Weniger thematisiert wurde, dass diese freiwillige Gleichschaltung mit dem vor 40 Jahren dominanten Journalistentypus kaum möglich gewesen wäre. Journalisten waren damals nicht bessere Menschen, aber sie waren Individualisten, die den Anweisungen von Autoritäten mit Skepsis begegneten, und auch gerne gesellig, nicht zuletzt, weil sie dadurch zu wertvollen Informationen kamen. Gegen eine landesweite Schliessung des Gastgewerbes hätte sich ein Journalist alter Schule schon im ureigensten Interesse mit allen Mitteln gewehrt. Heute hingegen dominiert der Typus Journalist, für den Gespräche und Gedankenaustausch vornehmlich via Internet und aus dem Home­office stattfinden. Er vermeidet es tunlichst, mit eigenen politischen Positionen anzuecken, und sichert sich ab, indem er sich meist am Urteil von Experten orientiert. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der es zuweilen mit Trinken und Rauchen übertrieb, lebt er gesundheitsbewusst. Ein solcher Journalist hat den Bundesrat und «die Wissenschaft» aus voller Überzeugung unterstützt; es brauchte dazu keinen Appell von oben à la Ringier-Walder.

«Gegen eine landes­weite Schliessung des Gastgewerbes

hätte sich ein ­Journalist alter Schule schon

im ­ureigensten ­Interesse mit allen Mitteln gewehrt.»

 

5. Technologischer Fortschritt: Neue Technologien erlaubten die Aufrechterhaltung des Courant normal.

Die Möglichkeiten der neuen Arbeitswelt erwiesen sich einerseits als Segen. Dank Homeoffice gelang es, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zumindest teilweise aufrechtzuerhalten. Viele Unternehmen, Schulen, Behörden und Vereine legten in der Nutzung der Technologien eine beeindruckende Kreativität an den Tag. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Massnahmen ohne diese neue Rückfallebene so harsch hätten ausfallen können. Und im Gesundheitswesen schürte die Flut von fast in Echtzeit verfügbaren, aber oft interpretationsbedürftigen Daten zu Tests, Ansteckungen sowie Todesfällen die Furcht in der Bevölkerung. Warn-Apps und das auf dem Handy gespeicherte Zertifikat nährten die Illusion, die Pandemie liesse sich feinsteuern, schufen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit und waren Werkzeuge der Diskriminierung und damit der Spaltung der Gesellschaft.

 

Diese nicht abschliessende Aufzählung hilft, das Geschehen gedanklich besser einzuordnen. Ohne die technologische Entwicklung mit weltweiten Echtzeitinformationen hätte insbesondere auch die vom Geiste des Totalitarismus geprägte Null-Covid-Politik Chinas keine Vorreiterrolle für die westlichen Länder übernehmen können.5 Ebenso hätten die Bilder von Bergamo weniger als Katalysator für eine europaweite Interventionsspirale gewirkt. Dazu kommt eine weitere gesellschaftliche Veränderung, die den Effekt verstärkte: Die Schweizer Bevölkerung ist vielfältiger und internationaler geworden, und dank den technologischen Möglichkeiten können heute private Beziehungen über die Landesgrenzen hinweg im Stundentakt gepflegt werden. Damit gewinnt auch für den Durchschnittsschweizer in einer globalen Krise der Vergleich mit dem Ausland an Relevanz.

  1. Anna Wanner: «Stille Nacht, einsame Nacht». In: Aargauer Zeitung vom 18. Dezember 2021.

  2. Mario Stäuble: «Die Zeichen der Zuversicht». In: Tages-Anzeiger vom 31. Dezember 2021.

  3. Isabel Heusser und Zeno Geisseler: «‹Besser als eine unethische Triage oder noch mehr Zorn›». In: NZZ vom 27. Dezember 2021.

  4. Siehe dazu unsere Sonderpublikation «Politisierte Medizin», Schweizer Monat 1111, November 2023.

  5. Pro memoria: Es ist heute nur noch schwer vorstellbar, aber in den ­Jahren 2020 und 2021 wurde Chinas Krisenmanagement von vielen ­bewundert und bedauert, dass man im eigenen Land nicht so «konsequent» durchgreifen könne. Beispielsweise forderten 340 Forscher und Ärzte in der Fachzeitschrift «Lancet» am 18. Dezember 2020 de facto eine Null-Covid-Politik und bezeichneten China als Vorbild. Siehe dazu auch Simon Haas: «Wissenschafter verteidigen Zero-Covid-Aufruf». In: NZZ vom 26. Juli 2022.

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