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Die «brisante» Story wird zur peinlichen Zeitungsente

Schweizer Medien erklärten einen Papst und einen Bundesrat für tot, obwohl sie noch lebten. Der Fall Borer führte zu einer Selbst-besinnung. Heute sind Fehlleistungen nicht selten eine Folge unterbesetzter Redaktionen.

Die «brisante» Story wird zur peinlichen Zeitungsente
Verbrennung von «Blick»-Ausgaben 1963 in Luzern, nachdem dieser eine Falschmeldung zum Tod von Papst Johannes XXIII. publizierte. Bild: Josef Ritler.

Die krasseste aller Schweizer Fake News erschien am 1. Juni 1963 im «Blick», der damals gerade im vierten Jahrgang stand und überall angefeindet wurde, ausser von den Lesern. Am Freitagabend vor Pfingsten, unmittelbar vor der 72-stündigen Nachrichtenlücke, meldeten die Agenturen, Papst Johannes XXIII. liege im Sterben. Der «Blick» titelte in der Samstagsausgabe korrekt: «Ein grosser Papst liegt im Sterben.»

Aber Chefredaktor Werner Schollenberger dachte voraus. Er ordnete die Anfertigung einer neuen Titelseite an für den Fall der Fälle. Es wurden fertige Druckzylinder mit der erwartbaren Schlagzeile vorbereitet: «Ein grosser Papst ist gestorben.» Solche Wechselseiten für den Fall, dass sich die Aktualität während des Druckvorgangs veränderte, waren durchaus üblich, vor allem im Sportteil, wenn zum Beispiel die Eishockeymatches noch im Gange waren, wenn die erste Auflage der Zeitung gedruckt werden musste, damit sie die Spätzüge noch erreichte.

Auch global bewahrten damals viele andere Zeitungen die Nachrufe auf grosse Persönlichkeiten im Bleisatz auf. Schollenberger, der die fraglichen Zylinder mit der vorweggenommenen, aber unvermeidlichen Schlagzeile in seinem Büro aufbewahrte, verpflegte sich spätabends kurz auswärts. In dieser Zeit nahm der Bote routinemässig die Zylinder mit der voreiligen Nachricht mit. Warn- oder Sperrvermerke gab es anscheinend nicht. Er brachte die Zylinder in die Druckerei, die ein paar Kilometer von Redaktion und Stereotypie entfernt war.

Da diese aus einer weichen Blei-Zink-Legierung bestehenden Zylinder nach etwa 40 000 Abdrucken aus Qualitätsgründen gewechselt werden mussten, wurden auch die falschen Stücke in die Reihe gestellt. Es erschien etwa die Hälfte der Auflage mit der falschen Schlagzeile. Der Papst starb erst am Abend des Pfingstmontags.

«Blick» wird in der Zentralschweiz öffentlich verbrannt

Die Schweiz raste. Die anderen Zeitungen warfen «Blick» ein zynisches Manöver zur Auflagesteigerung vor. In Luzern und in Zug kam es zu Demonstrationen und sogar zu öffentlichen Verbrennungen des «Blicks».

Schollenberger trabte beim päpstlichen Nuntius vor und entschuldigte sich. Für das Boulevardblatt, das grossen Erfolg bei Lesern hatte und gerade die ersten wichtigen Anzeigenaufträge bekam, war es ein schwerer Rückschlag – ausgerechnet zu der Zeit, da der Verleger Paul August Ringier nochmals mehrere Millionen in das Projekt investieren musste.

Alle internen Untersuchungen ergaben dasselbe: Organisationsfehler und Schlamperei waren schuld – keine Spur von bösem Willen. Kann passieren, dürfte aber nicht.

Für tot erklärt wurde auch ein Bundesrat: Anfangs der 1990er-Jahre, als drei Nachrichtenagenturen hart miteinander konkurrierten, pflanzte ein böswilliger Anrufer bei der SPK (Schweizerischen Politischen Korrespondenz) die Falschmeldung vom Tod von Bundesrat Kurt Furgler. Die Redaktorin, die allein im Büro sass, übernahm die Meldung ungeprüft. Furgler hörte sie am Radio und staunte.

Zur schwerwiegendsten und folgenreichsten Fake-News-Affäre entwickelte sich der Fall Thomas Borer, der 1999 als Schweizer Botschafter in Berlin wirkte und durch seine rege gesellschaftliche und diplomatische Tätigkeit Aufsehen erregte. Der «SonntagsBlick», damals mit einer Auflage von über einer Million ein mächtiges Blatt, berichtete von einer ausserehelichen Affäre des Botschafters. Der damalige Aussenminister Joseph Deiss geriet unter Druck, worauf Thomas Borer demissionierte. Die vom «SonntagsBlick» über viele Seiten aufgezogene Geschichte entbehrte aber einer soliden Grundlage; am Ende zahlte der Verlag Ringier Borer eine Genugtuung in Millionenhöhe.

Der Fall Borer führte zu einer ernsthaften Selbstbesinnung der Branche: Wann genügen die Quellen, um eine solche Geschichte zu bringen? Gibt es eine zweite, dritte Quelle, die den Sachverhalt unabhängig von der ersten bestätigt? Was sind die Motive der primären Quelle? Was verschweigt sie?

Eine kritische und wache Redaktion wird ausserdem fragen: Ist die aussereheliche Affäre eines Diplomaten, wenn es sie denn gibt, bei den heute gängigen Wertvorstellungen mehr wert als eine Schmonzette in der Klatschkolumne? Wurde die Kronzeugin womöglich für ihre Mitwirkung bezahlt? (Sie wurde!)

Qualitätskontrolle und Ehrlichkeit verhindern Fehler

Ich habe in meinen sieben Jahren als Mitglied der Chefredaktion des «Blicks» mindestens zwei Dutzend solch «brisanter» Geschichten in den Papierkorb geworfen, weil sie den Basistest nicht bestanden: Wer sagt was? Welche informierte zweite, dritte Quelle bestätigt unabhängig von der ersten das Wesentliche an der Information? Und welche Motive für die Indiskretion sind sichtbar oder wahrscheinlich? Hält die Quelle stand, wenn ihr widersprochen wird? Wie druckempfindlich ist sie?

Als Journalist muss ich die Beweggründe von Informanten nicht moralisch bewerten, geschweige denn teilen. Aber kennen muss ich sie. Ich habe nämlich Manager erlebt, die ihren Vorgesetzten bei Journalisten angeschwärzt haben, um ihn zu stürzen und dessen Stelle einzunehmen. Und rachsüchtige Ehefrauen, die ihrem abtrünnigen Mann eins auswischen wollten.

Wesentlich sind immer zwei Fragen: Stimmt es wirklich? Und gibt es ein legitimes öffentliches Interesse an der Publikation? Entscheidungen über Ja oder Nein fallen bei solchen Story-Angeboten oft unter Zeitdruck. Und gerade leistungswillige Redaktionen auf Erfolgssuche neigen zur Hektik und dazu, sich in eine Geschichte zu verlieben, die es so gar nicht gibt.

Eine wichtige Folgerung, die ich aus der Borer-Affäre und vielen Fake-News-Fällen ziehe, lautet: Sorge dafür, dass deine Redaktion möglichst divers zusammengesetzt ist. Wir brauchen junge, vorausstürmende, aber auch erfahrene alte Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen die Querdenker, die Zweifler, die Nachfrager, die Linken und die Rechten – und wir brauchen vor allem die Ehrlichen: jene, die wissen oder wenigstens spüren, dass das Phänomen des vorauseilenden Gehorsams im Journalismus eine enorme Rolle spielt. Wenn ich in einem Klima arbeite, wo der Chef erkennbar früh die verbindliche Linie zieht und auch späten Widerspruch und Zweifel abweist oder gar bestraft, ist es Zeit für einen Klimawechsel.

«Eine wichtige Folgerung, die ich aus der Borer-Affäre und

vielen Fake-News-Fällen ziehe, lautet: Sorge dafür, dass

deine Redaktion möglichst divers zusammengesetzt ist.»

Allgegenwärtige Aufpasser

Eine gefährliche Tendenz ist seit der Anzeigenkrise von 2000–2002 zu beobachten. Die gewaltige Umverteilung der Werbegelder, die jahrzehntelang die Kosten der redaktionellen Dienstleistungen querfinanziert haben, hat in den Verlagen zu brutalen Sparübungen geführt. In der Mehrheit der Redaktionen der Schweizer Medien werden die freien Mitarbeiter behandelt wie Hunde. Dabei sind sie als Spezialisten unentbehrlich, zumal wir sie ja meist nicht auf Vollstellen auslasten könnten. Auch an den nobelsten Adressen sind in den letzten zehn Jahren die Honorare um 50 Prozent oder mehr gesunken. Urheberrechte werden bedenkenlos verletzt. In den letzten fünf Jahren sind in der Schweiz mehrere hundert Journalistinnen und Journalisten aus dem Beruf ausgeschieden.

Die Kürzung der redaktionellen Budgets hat auch bei grösseren und der Vertiefung zugeneigten Redaktionen dazu geführt, dass der Spezialisierungsgrad der Journalisten und damit die Qualität der Beiträge zurückgegangen sind. Es fehlen an manchen Orten die Mittel, um den journalistischen Kräften eine intensive Begleitung ihres Spezialgebiets auch durch Tagungen, Hintergrundgespräche, Reisen und so weiter zu ermöglichen.

Im gleichen Masse, wie die Bearbeitungszeit und die Vertiefung der Recherche reduziert werden, steigt der Einfluss der interessengebundenen Influencer und Vorkocher. Der Leser erhält nicht mehr ein Menü aus garten- und küchenfrischen Zutaten, sondern Convenience-Food. Es gibt Sparten, da werden schon 60 bis 80 Prozent der redaktionellen Inhalte von der Deutungsindustrie beeinflusst oder gleich vorfabriziert.

Veränderung des Berufsbildes

Dass die Digitalisierung die Berufsbilder der Redaktoren und Journalisten auf den Kopf gestellt hat, ist eine Binsenwahrheit. Dem enormen Produktivitätsgewinn durch vereinfachte Vorstufentechnik, Datenbanken und Suchmaschinen steht eine wachsende Entfremdung des Redaktionspersonals von der analogen Wirklichkeit, vom realen, dreidimensionalen, dampfenden und riechenden Leben entgegen.

Wer früher als Reporter in den Journalismus einstieg, suchte die Nähe zum Ereignis. Manche hatten immer Stiefel und Regengarnituren im Auto dabei. Heute sind (zu) viele Journalistinnen und Journalisten an den Bildschirm gekettet und beschäftigen sich wie Textingenieure mit dem Formatieren von vorgegebenem Material.

In manchen unterbesetzten und von Sparübungen geplagten Redaktionen ist der Produktionsdruck zu hoch, um vertiefte Recherchen durchzuführen oder gar – wie die guten alten Reporter damals – die Schauplätze aufzusuchen und mit den beteiligten und betroffenen Menschen direkt zu sprechen, ohne das Dazwischentreten eines Medienbeamten.

Karl Lüönd, fotografiert von Samuel Schalch.

Die Leser riechen den Braten und wenden sich ab. Aber das kann ja nicht das Ziel der Übung sein

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