Die bösen anderen
Krisenzeiten entstellen menschliche Phantasmen zur Kenntlichkeit. Woher stammt die Angst vor den bösen Marktteilnehmern? Eine psychoanalytische Sicht.
Für viele Menschen ist der Markt eine Art Monster, das sie mit den Mitteln von Profitstreben und Konkurrenzdenken verfolgt. Sie fürchten sich vor ihm. Aber was genau macht ihnen Angst? Wo der Ökonom an seine Grenzen stösst, kann der Psychoanalytiker vielleicht weiterhelfen.
Der Markt ist nichts anderes ein reeller oder virtueller Platz, an dem verschiedene Teilnehmer Güter oder Dienste tauschen. Man hat es mit anderen Menschen zu tun, die man kaum kennt. Die anderen, und vor allem die unbekannten anderen, machen Angst, wie jeder Psychoanalytiker aus eigener Praxis weiss. Für das ohnmächtige Kind in der Wiege, das gänzlich von der Fürsorge des anderen abhängt, könnte der andere auch derjenige sein, der es zurücklässt oder misshandelt. Der andere gibt den Tod und das Leben. Das sind weitverbreitete und wiederkehrende Phantasien. In der Ökonomie waren es die sozialistischen Lehren, die darauf abzielten, die Übermacht der bösen anderen zu brechen, die sie als Kapitalisten bezeichneten. Die Therapie hat sich indes als völlig unwirksam erwiesen. Der Sozialismus ist vorbei. Die Angst vor dem Markt ist jedoch geblieben.
Wer hat Angst? Natürlich derjenige, der etwas besitzt: der «Herr», aber auch der «Knecht», der bloss über die Arbeitskraft verfügt (um Hegels Begriffe zu benutzen). Wer etwas besitzt, fürchtet sich vor dem Tausch, weil es darin ein Moment der Unsicherheit gibt: was mir ist, wird zu deinem Besitz, während ich warte, bis dein Besitz zum meinigen wird.
Der Moment des Wartens hat es in sich. Er kann sich beliebig ausdehnen, wie die Wetten auf futures zeigen. In diesem «Zwischen» wächst die Angst, zu verlieren. Auf dem Spiel steht das Vertrauen in den ökonomischen Partner. Wenn dann die Albträume Wirklichkeit werden und man wirklich alles verliert, Geld und Vertrauen, wie im jüngsten Börsencrash, ruft man aus: «Hilfe, Staat, hilf mir!» Man versucht, mit improvisierten neokeynesianischen Übungen die Situation zu retten. Das ist aus psychoanalytischer Sicht naiv. Es gibt den grossen anderen nicht, der uns rettet. Jacques Lacan hat dies einmal so gesagt: «Es gibt keinen Anderen des Anderen.» Keinen allmächtigen Staat und auch keinen allmächtigen Gott.
Doch ist Angst nicht gleich Angst. Es gibt auch die physiologische Verlustangst. Sie rührt daher, dass das menschliche Leben von Natur aus ein Verlustgeschäft ist. Wenn der Mensch auf die Welt kommt, verliert er die Plazenta. Während er lebt, verliert er die Lebensjahre. Und wenn er Pech hat, verliert er sein Vermögen. Der Verlust gehört zur normalen Ökonomie des Menschen.
Die pathologische Angst hingegen richtet sich auf den anderen, wie bei der Angst vor dem Markt. Hier ist das Denken weitverbreitet: was der andere verdient, hat er mir weggenommen. Sein Profit ist mein Verlust. In Wahrheit haben alle ein Kapital, sei es nun gross oder klein. Der Profit ist nichts anderes als das Resultat aus der ökonomischen Zusammenarbeit zwischen verschiedenen «Kapitalisten». Eine gesunde Ökonomie, die allen offensteht, ist nie ein Nullsummenspiel. Was ich gewinne, ist nicht, was du verlierst; entweder gewinnen wir beide, oder wir verlieren beide.
Die Kooperation bedarf der Intelligenz; letztere ist nötig, um den Vorteil des anderen zu verstehen und daraus eigenen Vorteil zu ziehen. Die Aufgabe ist nicht einfach. Zwischen vielen Personen wird die Interaktion schnell chaotisch, mit unvorhersehbaren Folgen. Die Börsenkurse oszillieren – wie die Volksmeinung über die Regierung – sehr stark. Dies bringt ein hohes Mass an Ungewissheit mit sich. Damit müssen die Marktteilnehmer leben lernen. Dies fällt ihnen leichter, wenn sie begreifen, dass es die absolute Gewissheit nicht gibt, von der sie träumen.
Ich bin kein Ökonom, habe aber von einem Vorschlag gelesen, der dazu taugen könnte, die Zinssätze zu regulieren, um Finanzkrisen vorzubeugen. Heute liegen die Zinssätze in den Händen der Zentralbanken, die mit ihnen nicht nur ökonomische, sondern auch politische Zwecke verfolgen. Die Politik will eine starke Währung, um sie im Ausland durchzusetzen und Kapital anzuziehen? Also erhöhen die Zentralbanken die Zinssätze. Die Politik will eine schwache Währung, um die Kosten der Schulden zu senken, den Export auszudehnen und den Tourismus zu fördern? Also senken die Zentralbanken die Zinssätze. Aber was, wenn man einen dritten – liberalen – Weg einschlüge und die Zinssätze, wie andere Titel auch, dem Markt überliesse? Hätten wir dann nicht eine neutrale Währung, weder zu stark noch zu schwach und also stabiler?
Wie die ökonomischen Massnahmen im einzelnen auch aussehen mögen, eine Sache ist aus psychoanalytischer Sicht klar: man braucht keine Angst davor zu haben, mit den anderen zusammenzuarbeiten. Was bedeutet: im Zweifel für den Markt.
aus dem Italienischen von René Scheu
Antonello Sciacchitano, geboren 1940, ist Psychoanalytiker, Mathematiker und Autor. Er lebt in Mailand. 2008 erschien von ihm «Unendliche Subversion».