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Die anderen sollen

Die anderen sollen
Hardau-Hochhäuser in Zürich. Bild: CC BY-SA 3.0 Wikimedia.org/Ikiwaner

Wer den Diskurs der gebildeten Schicht in der Schweiz verfolgt, erkennt ein Muster, das als Doppelmoral oder sogar als Lebenslüge ausgelegt werden kann. Es geht darum, dass das, was nach eigener Einschätzung für alle gelten soll, nicht unbedingt für einen selbst gelten soll.

Verdichtet wohnen: In Diskussionen mit Linksliberalen kommt man immer wieder an diesen Punkt. Nicht die Zuwanderung sei das Problem, sagen sie, sondern, dass man in den Städten nicht verdichtet baue. Entsprechend versucht die FDP der Stadt Zürich, per Volksinitiative höhere Gebäude zu errichten: Mehr Wohnraum durch Aufstockung. Doch in vielen Hochhäusern – inbesondere in städtischen Aussenbezirken und in der Agglo – wohnen jene, die anderswo nichts finden, weil sie neu dazu kommen oder ein schmales Budget haben. Die begüterten Akademiker dagegen lieben die «Hüsli-Schwiiz», und ziehen dem Hochhaus jederzeit ein Einfamilienhaus vor (bitte freistehend und mit Umschwung). Oder dann wenigstens eine schöne städtische Wohnung, die bezahlbar ist, weil sie vom Staat gefördert wird. Klar ist ein Hüslibesitzer in Zürich Höngg für Verdichtung. Aber gegen das Hardturm-Hochhaus, das Schatten werfen könnte auf sein Haus, legt er Einsprache ein.

Lehre machen: «Ich finde das wirklich super, dass dein Sohn eine Lehre macht», sagt ein Akademiker zum anderen. Und das ist wirklich aufrichtig so gemeint – für den Sohn des anderen! Der eigene Nachwuchs aber soll natürlich das Gymnasium besuchen; dafür stellt man jederzeit ein paar Zehntausend Franken bereit für Nachhilfe oder eine Privatschule. Tragisch an solchen Eltern ist, dass sie ihren Kindern womöglich die Zukunft verbauen. Denn wer wird künftig Akademiker zahlen, wenn das, was sie leisten, kostenlos vom Chatbot geleistet wird? Handwerker dagegen, die etwas können und wissen, was sie tun, haben eine goldene Zukunft.

Milizarbeit leisten: Kassier des Armbrustschützenvereins, Beisitzerin in der Guggenmusig, Vizepräsident der Theatergesellschaft: wer auch immer ein solches Amt annimmt und es dann auch noch gut ausführt, hat höchstes Lob der Gesellschaft verdient. Doch auch hier gibt es einige wenige, die riesige Lasten tragen, und andere, die gar nichts tun. Während das Milizprinzip in Sonntagsreden am Schönsten aufblüht, funktioniert es im Alltag nur dank einigen Unbeirrten. Eine immer grösser werdende Gruppe hat noch nie davon gehört.

Flüchtlinge aufnehmen: Als der Ukrainekrieg losging, wurde ich positiv überrascht. Gleich drei mir bekannte Liberale haben nicht gezögert und sofort ukrainische Flüchtlinge bei sich im Haus aufgenommen; natürlich, es war keine Langzeitlösung. Aber sie haben praktische Soforthilfe auf eigene Kosten geleistet und bewiesen, dass sie solidarisch handeln. Solcherart praktische Solidarität existiert in Einzelfällen auch auf der linken Seite. Da jedoch heisst Solidarität meist: «Ich will, dass ihr noch viel mehr Steuern zahlt, um meine Ideen von Solidarität zu finanzieren. Selbst mache ich gar nichts, denn für das Handeln ist der Staat zuständig (ich nur für den Moralismus).»

Das Land verteidigen: Haben sich die Schweizer früher selbst als Söldner in fremden Armeen verdingt, schlägt Bruno S. Frey nun in der NZZ vor, dass sich Immigranten in der Schweizer Armee verpflichten. Tatsächlich sind es bereits jetzt Secondos, die am meisten Begeisterung für die Armee zeigen. So selbstverständlich es früher war, dass sich Söhne von Familien aus der Elite zum Offizier hochdienen, so selbstverständlich scheint es heute, dass sie den Militärdienst meiden. War einst fraglos, dass sich Offiziere gemeinsam mit den Soldaten der Gefahr, dem Dreck und dem Schlafmangel aussetzen, wollen heute Leute, die selbst keinen Tag Militärdienst geleistet haben, andere in den Krieg schicken.

Vollzeit arbeiten: Während Corona stellten sich Menschen auf einen Balkon und klatschten für Pflegekräfte: War das nun Zynismus oder Wertschätzung? Klar ist, dass Personal im Gesundheitswesen, dass in einem 100-Prozent-Pensum Nacht- und Wochenenddienst leistet, nicht nur Wertschätzung verdient hat, sondern auch eine anständige Entschädigung. Doch bleibt beides aus, sollte niemand Pflegekräften verübeln, dass sie die Branche verlassen oder das Pensum reduzieren (dann ohne Nacht- und Wochenenddienst leisten zu müssen). Nachschub dafür kommt dann halt aus dem Ausland, und wenn der eigene Sohn an einem Samstag stundenlang warten muss in der Notaufnahme, dann regt man sich fürchterlich auf. Vielleicht sogar zu Recht. Fragwürdig aber ist, wer selbst Teilzeit aktiv ist, aber erwartet, dass andere Tag und Nacht bereit stehen.

Emissionen senken: Grüne halten andere dazu an, CO2-Emissionen zu senken, und wollen deshalb Flugscham etablieren. Jemand, der fliegt und so Emissionen ausstösst, soll sich schlecht fühlen. Zugleich zeigen Umfragen aus Deutschland, dass es just die Grünen-Wähler sind, die am meisten fliegen (fast doppelt so viel wie AfD-Wähler). Es zeigen hier also die grössten Sünder mit dem Finger auf andere. Ihnen sei der Bibelspruch Römer 2:1 ans Herz gelegt: «Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet. Denn worin du einen andern richtest, verdammst du dich selbst; sintemal du eben dasselbe tust, was du richtest.»

«Nicht in meinem Hinterhof!», rufen die Nimbys, und meinen damit, dass der Schattenwurf andere treffen soll, die Asylunterkunft in einem anderen Quartier gebaut werden soll, und dass andere an der Front sterben sollen. Die anderen sollen arbeiten, zahlen und bluten. Und sie, die sie auf der Sonnenseite des Lebens stehen, in jeder Hinsicht geschont werden.

Wenn jedoch niemand mehr die Verantwortung übernimmt, gibt’s weder eine florierende Wirtschaft noch einen schlanken Staat noch ein privatorganisertes Gemeinwesen. Was Freiheit ausmacht, erodiert.

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