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(1) Die andere Rechnung

Statt den Ursachen, Erscheinungsformen und Auswüchsen der gegenwärtigen Fixierung auf das in Zahlen Darstellbare nachzugehen, kann auch die Frage gestellt werden, welchen Preis wir für diese Verengung der Perspektive bezahlen. Die Antwort lässt sich nicht quan-tifizieren; mit Sicherheit geben wir «viel» auf.

Mehr und mehr werden die Hochschulen auf politische Vorgaben verpflichtet, die überdies merkantil durchsetzt sind. Universitäre Ausbildung und Forschung gelten nur dann als zukunftsfähig, wenn sie mit Marktfähigkeit winken; das akademische Prestige misst sich mehr und mehr an der Höhe der Drittmittel, weshalb kreative Selbst-Forscher zu blossen Ideengebern und zu Geldmanagern mutieren. Selbst die Grundlagenforschung soll sich «rechnen». Statt vom wichtigsten Kapital eines Landes zu sprechen, vom Bildungsniveau der Jugend und deren sozialen und kulturellen Fähigkeiten, stellt man kurzatmige Nutzen-Kostenrechnungen auf, die all jene Disziplinen unter Rechtfertigungsdruck setzen, die die englischsprachige Welt liberal studies oder auch arts and sciences nennt: von den naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern über die Kultur- und Sozialwissenschaften bis hin zur Philosophie, die sich der Alternative Natur- oder Geisteswissenschaften nicht beugt. Nüchtern, selbst merkantil betrachtet, sind sie aber alle diese Disziplinen für unsere globale Welt unentbehrlich.

In seiner nachgelassenen Autobiographie «Le premier homme» schreibt Albert Camus von seiner Volksschule: Sie «bot ihnen nicht nur eine Flucht aus dem ‹armen, kargen› Familienleben. In Monsieur Bernards Klasse jedenfalls nährte sie ihnen einen Hunger, der für das Kind noch wesentlicher war als für den Mann, den Hunger nach Entdeckung». Was Camus als persönliches Erlebnis beschreibt, bringt der Philosoph auf den anthropologischen Begriff. Camus’ Hunger nach Entdeckung heisst bei Aristoteles «Alle Menschen verlangen nach Wissen von Natur aus», und dieses Verlangen ist nicht an einen Nutzen gebunden. Dass sich der neuzeitliche Schriftsteller und der antike Philosoph einig sind, enthält eine «Botschaft» für die globale Welt: Ob es Individuen, Gruppen, Kulturen oder Epochen sind – über den zweifellos wichtigen Unterschieden darf man nicht die wesentlichen Gemeinsamkeiten übersehen, eine dem Menschen angeborene, sowohl in Natur- als auch Geisteswissenschaften praktizierte, nutzenfreie Wissbegier.

Die von den Wissenschaften gepflegte Wissbegier und Entdeckerfreude fängt mit einer Sensibilisierung im wörtlichen Sinn an. Beispielsweise lehren die Kunstwissenschaften, Farben, Formen, auch Materialien zu sehen und die Musikwissenschaften, Melodien, Rhythmen und deren Komposition zu hören. Das Wahrnehmen wird zu einer genauen Beobachtung gesteigert, mit einer Kultur der Einbildungskraft verbunden und zu jener Kunst des Entschlüsselns entfaltet, die den Gegenstand – Texte, Musikstücke, Kunstwerke, Stadtanlagen, auch Institutionen – zum Sprechen bringt. Und «im Vorübergehen» verbindet man die Fähigkeiten des Analysierens, Herstellens von Bezügen und Beurteilens mit der Aufgabe, sich klar und prägnant auszudrücken.

Die Geisteswissenschaften sind humanities noch in einer zweiten Bedeutung. Indem sie den Reichtum der Menschheit zu erschliessen und zu vergegenwärtigen helfen, sorgen sie – und dies ist ihre dritte Leistung – für eine Erinnerungskultur. Zugleich tragen sie zur Aufklärung bei, nicht immer zu Kants anspruchsvoller Bestimmung, zum vollen «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit», zu dessen kleiner Schwester aber doch: statt sich auf fremde Meinungen zu verlassen, lese man beispielsweise die Texte selber und bilde sich eine eigene Meinung.

Eine weitere, für die globale Welt unerlässliche Leistung hat ebenfalls den Charakter von Aufklärung, kann aber auch Bildung oder Emanzipation heissen. Die Geisteswissenschaften helfen, frei zu werden von der Kirchturmperspektive, in der man aufwächst. Diese Aufklärung verspricht erfreuliche politische Nebenwirkungen. Kommen sowohl in den westlichen als auch den muslimischen, hinduistischen und konfuzianischen, aber auch den «per Dekret» atheistischen Ländern die Geisteswissenschaften grossen Teilen der Bevölkerung zugute, so tritt der Erfolg ein, den wir vom Humanismus als Epoche kennen: man wird von der engstirnigen Fixierung auf die eigene Kultur frei, und aus der Kenntnis des Fremden entsteht Offenheit und Toleranz.

Dieser Lernprozess freilich – lehren die Geistes-wissenschaften der so ungeduldigen, zunehmend von einer BWL-Mentalität geprägten Politik – braucht seine Zeit. Da der Bildungsprozess schon eines einzelnen sich über viele Jahre erstreckt, muss man für Gesellschaften und Kulturen mit Jahrzehnten, sogar mit Generationen rechnen. Selbst ein bloss merkantiles Denken investiert deshalb besser in Bildung als in Waffen, da das Preis-Leistungsverhältnis hier meist weit günstiger ausfällt.

Die Geistesgeschichte erinnert zum Beispiel die Muslime daran, dass ihr Prophet Mohammed sich nicht in erster Linie gegen Judentum oder Christentum, sondern gegen den arabischen Polytheismus richtete. Weiterhin hilft sie einzusehen, dass Mohammed die christliche Trinitätslehre zu Unrecht für anti-monotheistisch hielt. Sie klärt historische Hintergründe der vielerorts vorherrschenden Verquickung von Religion, Staat und Gesellschaft auf: dass sie teils orientalisches Gemeingut war, teils vom damaligen Byzanz gelernt wurde. Auch ruft sie jene innermuslimische Aufklärung ins Gedächtnis, die von den Mu’taxiliten und al-Kindi bis zu Averroës, also stolze drei Jahrhunderte und mancherorts noch länger währte. Schliesslich schafft sie eine Öffnung zu jener kritischen Hermeneutik selbst gegenüber einem heiligen Text, dem Koran, die das Christentum für das Alte und Neue Testament seit langem kennt und die etwa die genuin religiösen Teile von sozialen und kulturellen Anlagerungen zu trennen vermag.

Jedenfalls helfen die Geisteswissenschaften, eine kulturelle Egozentrik zu überwinden und ein dreifaches Verstehen zu lernen. Man lernt, sowohl (1) die anderen in ihrer Andersartigkeit als auch (2) sich und die anderen in ihrer Gemeinsamkeit, schliesslich (3) durch den Kontrast sich selber besser zu verstehen. Und in der Gesamtheit bringen die Geisteswissenschaften eine so umfassende Erinnerung anderer Kulturen und Epochen zustande, dass sie zu einer Unparteilichkeit in der Erinnerung, zu anamnetischer Gerechtigkeit beitragen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, nicht jede Neuerung von heute zu einer revolutionären Veränderung hochzustilisieren, kurz: eine «Verblüffungsresistenz». Im Zeitalter der Globalisierung beispielsweise erinnern sie so an ältere Globalisierungen; daran, dass sich Philosophie und Wissenschaften, auch Medizin und Technik seit der Antike über die gesamte Welt verbreiten; dass dasselbe für viele Religionen zutrifft, die deshalb Weltreligionen heissen; dass schon in hellenistischer Zeit – in Annäherung – ein Welthandelsgebiet mit Weltmarktpreisen und sogar Welthandelszentren wie Alexandria entstanden und dass in der Zeit der klassischen Goldwährung der globale Handel zwischen den entwickelten Ländern sich fast auf dem heutigen Niveau bewegte. Auch erinnern sie daran, dass ein Völkerbund schon bei den Irokesen und dass Modelle für eine inter- und supranationale Koexistenz schon in der griechischen Antike zu finden sind.

Auf unterschiedslos alle Kulturzeugnisse kommt es bei der Erinnerung freilich nicht an. Zu Recht hebt man vor allem die herausragenden Beispiele hervor, so dass sich die geisteswissenschaftliche Urteilsfähigkeit um ein Qualitätsbewusstsein erweitert. In den grossen Werken bewundern wir aber nicht distanzlos lediglich die überragende Qualität. Zum interesselosen Wohlgefallen, das Schönheit auslöst, kommt in vielen Fällen hinzu, dass der Gehalt der Werke die Menschen existentiell bewegt und sie teils zu eigenem Denken anregt, sie teils begeistert oder beunruhigt. Grosse Literatur und Musik bieten keine fast-food-Unterhaltung; sie führen beispielsweise menschliche Leidenschaften vor, lassen solche aufeinanderprallen und den Zusammenprall vielleicht in einer Katastrophe enden oder aber in eine konstruktive Lösung münden.

Mit dieser existentiellen Dimension betreten wir eine fünfte Stufe, jene der Orientierungs- und Sinndebatten. Die griechischen Tragödien zum Beispiel oder das Nibelungenlied zeigen, dass Leidenschaften wie Neid und Eifersucht, dass Ehrsucht, Herrschsucht, auch Habsucht nicht für gewisse Kulturen und Epochen spezifisch sind. Diese Botschaft zeigt der globalen Welt dreierlei: dass ein weitergefasster Kern des Menschlichen kultur- und epochenindifferent gültig ist, dass seinetwegen nach einer kultur- und epochenunabhängig gültigen Antwort, beispielsweise nach Recht und Gerichtsbarkeit, zu suchen ist und dass die Antwort, um nicht bloss intellektuell, sondern auch emotional anerkannt zu werden, entsprechender Erfahrungen und Lernprozesse bedarf. Mit Aischylos’ Formel pathei mathos – durch Leiden lernen – korrigieren wir das intellektualistische Missverständnis, das für die Menschen entscheidende Lernen sei vornehmlich ein intellektueller Vorgang.

Leider scheint selbst die Menschheit als ganze vornehmlich durch Leiden zu lernen. Und da zur Klugheit die Fähigkeit gehört, um des eigenen Wohlergehens willen dazuzulernen, kann man die Menschheit nur mässig klug nennen. Denn nach Kants grosser Friedensschrift liess sie eineinhalb Jahrhunderte mit zahllosen Kriegen – sogar Weltkriegen – vergehen, bis sie mit dem Völkerbund ein erstes und später mit den Vereinten Nationen ein zweites Mal gewisse Ansätze verwirklicht hat. Und weil sie im Anschluss an die Nürnberger und Tokioter Prozesse die Institution des Weltstrafgerichts wieder einschlafen liess, musste man diese etwa für Ruanda und Ex-Jugoslawien wieder neu einrichten und kann sich die damalige «Gerichtsmacht» USA der Einrichtung eines Weltstrafgerichts verweigern.

Grosse literarische Werke versperren sich einer simplen Deutung. So gehört zu Aischylos’ Orestie die Konkurrenz zweier grundverschiedener Ge-se-tze. Nach dem älteren Gesetz der Blutsverwandtschaft ist Muttermord ein absolutes Tabu. Nach dem neuen Gesetz der Gleichheit verdient auch eine Mutter für ihr Verbrechen schwere Strafe. In dieser Situation konkurrierender Grund-Gesetze lässt Aischylos im neu errichteten Strafgericht zunächst gleich viele Richter für wie gegen Orest stimmen. Erst danach tritt Athene mit dem bis heute gültigen rechtsmoralischen Grundsatz auf: «in dubio pro reo». Da Orest nicht klar schuldig ist, spricht Athene ihn frei.

Erneut kann die durch Geisteswissenschaften erschlossene Literatur der globalen Welt zeigen: einmal, dass Grundkonflikte weder einfache Diagnosen noch einfache Therapien kennen – Orest ist schuldig, folglich zu bestrafen; ferner, dass Grundkonflikte trotz Huntington nicht bloss zwischen Kulturen, sondern auch innerhalb dieser auftreten; weiterhin, dass derartige Konflikte von einem unparteiischen Dritten zu entscheiden sind und dass diesem Dritten, einem (Welt-)Strafgerichtshof, jeder, auch eine Weltmacht, sich unterwerfen muss; nicht zuletzt, dass es Konflikte gibt, die die Rechthaberei zur Bescheidenheit auffordern, weil sich die Situation nicht in das moralisierende Schema «Gut kontra Böse» pressen lässt. Für diese Einsicht muss man freilich eine tiefe emotionale Verspanntheit, eine selbstgerechte Verblendung, auflösen, muss sich für komplexere Konfliktlagen öffnen und sich zur Verständigung bereit finden.

Lernen kann man von griechischen Tragödien noch weit mehr, beispielsweise einen Einspruch gegen die Verkürzung des menschlichen Logos auf das die Welt erschliessende Argument. Die Tragödie macht auf jene andere Sprache aufmerksam, die heute, angesichts der zahllosen Unterdrückungen, Vertreibungen, Kriege und Bürgerkriege leider hochaktuell ist: eine Sprache, die grausame Fährnisse beklagt und den entsprechenden Weltlauf nicht versteht, besteht aus Schmerz- und Wehrufen, aus Jammern und Erschrecken, aus Hilferufen an Götter, die aber keine Hilfe bringen. In besonders grausamen Fällen besteht sie sogar aus einer Sprache, der die Sprache verloren gegangen ist, aus der «Sprache des Schweigens», einem oft endgültigen Verstummen.

Eine andere Leistung besteht in der Bereicherung der Urteilsfähigkeit um die Fähigkeit, kulturellen und epochalen Vorurteilen entgegenzutreten, etwa dem Vorurteil vom finsteren Mittelalter. In Wahrheit entstehen in jener Zeit die Ritterromane und Minnelieder, überlegen Christen-tum, Islam und Judentum gemeinsam, wie sich ihre göttliche Offenbarung mit der natürlichen Vernunft vertrage, blühen die christliche, islamische und jüdische Buchmalerei, entsteht der Gregorianische Gesang, werden die romanischen und gothischen Kirchen gebaut und kommt das bis heute weltweit gültige Muster der Einheit von Forschung und Lehre, die Universität, auf. Ausserdem setzt die Strenge der philologischen und historischen Methode Immunisierungskräfte gegen ideologische Grossprogramme, etwa die des Neo-Marxismus, frei. Und wer Menanders Komödie «Das Schiedsgericht» liest, hält die eheliche Liebe und Treue nicht für eine «Erfindung» des Christentums und wird skeptisch gegen einen Relativismus, der die genannten Tugenden für bloss kulturrelativ gültig hält.

Zusätzlich lernt man das Spiel von Schlauheit, Berechnung, Täuschung und Verstellung, die In-trige. In der Tragödie leidet der Mensch unter seinen Leidenschaften, in der Komödie sucht er seine Interessen zu berechnen. Sieht man von op-timistischen Ausnahmen wie Mozarts «Figaros Hochzeit» ab, so pflegt er aber damit zu scheitern – man denke an Mephisto in Goethes «Faust» oder an General Piccolomini in Schillers «Wallenstein».

Selbst gegen den Vorwurf mangelnder Merkantilität und mangelnder Zukunftsfähigkeit können die Geisteswissenschaften gute Argumente ins Feld führen. Diese beginnen mit den weit geringeren Kosten; jeder Finanzminister kann sich über die niedrigen Pro-Kopf-Kosten sowohl der Studenten als auch ihrer Professoren nur freuen. Als nächstes widersprechen sie einem kurzsichtigen Verständnis von Zukunftsfähigkeit. Bauwerke wie die ägyptischen Pyramiden und griechischen Tempel, wie die europäischen und aussereuropäischen Paläste, Gotteshäuser und Kultstätten, ferner die grossen Garten- und Parkanlagen der Welt wurden weder auf kurzfristigen Nutzen noch aufs blosse Überleben angelegt, haben aber gerade deshalb die Jahrhunderte überdauert und werfen selbst in merkantilen Begriffen, nämlich über den Tourismus, Generation für Generation grosse Gewinne ab. Die genannten Werke müssen aber erschlossen werden, teils im physischen Sinn, indem man sie ausgräbt oder restauriert, teils im intellektuellen Sinn von Kunstführern und Katalogen. Andernorts, beispielsweise in politischen und kirchlichen Akademien, im Feuilleton der Zeitungen und in Ausstellungskatalogen der Museen, braucht man die Geisteswissenschaften ebenfalls, und zwar in allen fünf Kompetenzstufen: zum Sehen-, Hören- und Lesen-Lernen; zur forschungsgeleiteten Vergegenwärtigung vergangener Epochen; zur Analyse-, Urteils- und Sprechkultur; zur anamnetischen Gerechtigkeit; schliesslich zum Beitrag für die Sinn- und Orientierungsdebatten.

Noch drei weitere Argumente begegnen dem ökonomischen Rechtfertigungsdruck. Wegen ihres vielfältigen Beitrags zur friedlichen Koex-istenz ist die entsprechende Bildung nicht bloss ein Bürgerrecht, sondern ebenso eine Bürgerpflicht, die jedes Gemeinwesen ihren Bürgern und allen Gemeinwesen, Kulturen und Religionen zuzu-muten hat. Mehr noch: von den Individuen über Gruppen bis zu Grosskollektiva müssen sich alle bereitfinden, Neigungen zur imperialen Selbstüberschätzung aufzugeben und sich in das Zusammenleben einer zumindest rechtlichen Anerkennung der Anderen und des Anderen zu fügen.

Eine zweite erfreuliche Nebenwirkung: Wegen der gesunkenen Wochenarbeitszeit und der gestiegenen Rentenzeit ist der Anteil der nichtlohnorientierten Lebensgestaltung erheblich gewachsen. Daraus ergibt sich zusammen mit dem hohen Bildungsstand der Bevölkerung ein grosser Bedarf an geisteswissenschaftlich vermittelten Angeboten. Diese halten mit den sogenannten Freizeitparks nicht bloss qualitativ, sondern auch quantitativ leicht mit. Museen und Ausstellungen sind oft überfüllt, Kulturreisen begehrt, und der Ruf nach Seniorenuniversitäten ertönt immer stärker. Auch darf man die Rolle der kulturellen Infrastruktur im globalen Wettkampf der Wirtschaftsstandorte nicht unterschätzen.

Die bisherigen Argumente sind zweifellos stark, sie «instrumentalisieren» aber die Geisteswissenschaften. «Liberal» studies heissen diese aus anderen Gründen: erstens, weil sie sich von ihrer Methode her gegen dogmatisches Denken und von ihren Gegenständen her gegen die Fixierung auf die eigene Kultur wenden; zweitens – und sachlich primär – heissen sie und ebenso die naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer aber deshalb «liberal», weil sie sich gegen die Verkürzung des Menschen auf Marktfähigkeit sperren. Dies ist ein weiterer Beitrag zur Humanisierung. Schon durch ihren Dienst an der natürlichen Wissbegier erheben sie Einspruch gegen ein im wörtlichen Sinn dehumanisiertes Leben, nämlich gegen eines, das sich in der Jagd nach Macht, Ehre und Reichtum verrennt und erschöpft.

Stattdessen tragen sie zur Einsicht bei, dass der Mensch stets Zweck in sich selbst ist. Zugleich öffnen sie den Menschen für Dinge, um derentwillen es erst lohnt, geboren zu sein – für so wesentliche Dinge wie Philosophie und Literatur, wie Musik, bildende Kunst und Architektur.

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(0) Zahlenwahn

350 Jahre sind vergangen, seit ein sichtlich enttäuschter Engländer Bilanz zog aus seinem Studium der Klassiker: es seien die alten, moralphilosophischen Werke halt nicht «scripta scientifica», sondern bloss «scripta verbifica», Wortgeklingel und Gerede. Was Wunder, wenn es keine Fortschritte gebe im Bereich der Philosophie, wenn die Menschen immer noch Kriege führten und allerorten Elend herrsche. […]

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