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Karsten Döhnert und Yvonne Seiler Zimmermann, zvg.

Die Altersvorsorge wird der
gesellschaftlichen Realität nicht mehr gerecht

Die berufliche Vorsorge ist von der Zeit geprägt, in der sie entstand. Sie muss den Bedürfnissen der heutigen und zukünftigen Gesellschaft angepasst werden.

Die Abstimmungsergebnisse der jüngeren Vergangenheit zur Schweizer Altersvorsorge zeigen, wie schwierig es ist, Sozialwerke in direktdemokratischen Verfahren zu reformieren. Die Ausgestaltung des heutigen Vorsorgesystems ist historisch gewachsen, basierend auf den damaligen Bedürfnissen und Ansprüchen der Gesellschaft und der damaligen Wirtschaftslage. Seither hat sich nicht nur das Zinsumfeld stark verändert, sondern auch die Gesellschaft. Traditionelle Familien- und Arbeitsmodelle werden zunehmend durch modernere abgelöst. Zudem dürfen wir zunehmend länger und gesünder leben.

Die Schwierigkeit, ein historisch gewachsenes Vorsorgesystem zu reformieren, liegt insbesondere daran, dass sich die Gesellschaft nur langsam verändert und vor allem nicht ­homogen. Bei jeder Volksabstimmung über eine angestrebte Reform wird es noch Personen geben, die beispielsweise in traditionellen Familienmodellen leben und daher von einer Reform benachteiligt würden. Zudem sind gewisse Herausforderungen noch zu wenig dringend, als dass sie von der Stimmbevölkerung als Problem wahrgenommen würden, wie beispielsweise die tiefen Zinsen oder die Finanzierung einer längeren Rentendauer aufgrund der gestiegenen Lebens­erwartung.

Die Welt wird sich auch im Jahre 2050 stark von der heutigen unterscheiden. Anhand von sich bereits heute abzeichnenden Megatrends kann die Zukunftsforschung Antworten geben, wie Gesellschaft und Wirtschaft in Zukunft aussehen können. Dass sich auch das Vorsorgesystem diesen neuen ­Gegebenheiten und Anforderungen anpasst, ist daher unumgänglich.

Ziel dieses Beitrags ist es, die Implikationen von spezifischen Megatrends auf das Vorsorgesystem zu beschreiben und Denkanstösse zu liefern, wie dieses 2050 ausgestaltet sein sollte, damit es zur Gesellschaft passt. Ausgangslage für die Analyse bildet das heutige Schweizer Vorsorgesystem mit seinen drei Säulen. Der Fokus liegt auf der beruflichen Vorsorge. Stärken und Vorteile, welche die heutige Ausgestaltung mit sich bringt, sollen beibehalten werden, falls sich diese auch unter der Prämisse der Megatrends als vorteilhaft erweisen.

Obligatorium reduziert Fehlverhalten

Die berufliche Vorsorge wird nach dem Kapitaldeckungs­verfahren finanziert. Durch das Einzahlen von alters- und lohnabhängigen Beiträgen und das Anlegen dieser Beiträge am ­Kapitalmarkt wird während der sogenannten Ansparphase bis zur Pensionierung das individuelle Vorsorgekapital gebildet.1 Die obligatorische Unterstellung der meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat in der Ansparphase verschiedene Vorteile. Zum einen ergibt sich für die Vorsorgeeinrichtung eine bessere Planbarkeit und dadurch eine ­tiefere Liquiditätshaltung. Das Kollektivitätsprinzip, also die Zusammenfassung mehrerer Versicherter in ein Versicherten-, aber auch Anlegerkollektiv, ermöglicht den Vorsorgeeinrichtungen den Zugang zu kostengünstigeren Anlage­lösungen und eine effizientere Vermögensverwaltung.

Ein besonders hervorzuhebender Vorteil ist darüber hinaus das Abschöpfen von Risikoprämien. Obwohl diese Abschöpfung auch für Einzelpersonen problemlos möglich wäre, sind deren Investitionsentscheidungen oft durch verhaltenspsychologische Faktoren beeinflusst. Diese Einflüsse führen zu einem suboptimalen Anlageverhalten. Hinzu kommt, dass die Versicherten trotz eines langen Anlagehorizonts – und somit einer höheren Risikofähigkeit – oft risikoavers sind und daher risikoarme Anlagen bevorzugen.2 Durch die professionelle Verwaltung der Vorsorgegelder durch die Vorsorgeeinrichtungen werden diese «Fehler» im Anlage­verhalten vermieden, sodass eine höhere durchschnittliche Rendite mit dem Vorsorgevermögen erzielt werden kann und somit ein höheres Vorsorgekapital im Zeitpunkt der Pensionierung resultiert.

Megatrend Selbstverwirklichung

Die gesetzlichen Grundlagen der beruflichen Vorsorge sind zu einem grossen Teil seit 1985 in Kraft. So geht das heutige Vorsorgesystem immer noch von einem traditionellen Familienbild aus, in dem der Mann Vollzeit arbeitet und die Frau sich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmert. Zudem wird unterstellt, dass sich die beschäftigte Person in einem Angestelltenverhältnis bei einem Arbeitgeber befindet.

«Das heutige Vorsorgesystem geht immer noch von einem traditionellen Familienbild aus, in dem der Mann Vollzeit arbeitet und die Frau sich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmert.»

Ein wichtiger Megatrend, der zu einem spürbaren gesellschaftlichen Wandel führt, ist die zunehmende Bedeutung von Selbstverwirklichung und Individualisierung. Dieser Trend zeigt sich beispielsweise in einem stark gestiegenen Anteil von Haushalten, in denen beide Partner erwerbstätig sind. Waren 1980 noch rund drei Viertel aller Haushalte traditionelle Einverdienerhaushalte, sind heute in mehr als der Hälfte aller Haushalte die Frau Teilzeit und der Mann Vollzeit erwerbstätig. Der Trend zu Selbstverwirklichung und Individualisierung führt im Weiteren dazu, dass die Erwerbszeit nicht nur erfüllend, sondern auch mit dem Privatleben vereinbar sein sollte. Dies hat einerseits zur Folge, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vermehrt Teilzeit arbeiten, und andererseits, dass sie Auszeiten während der Erwerbsphase in Anspruch nehmen. Unter Auszeiten werden dabei Pausen im Erwerbsleben auf Wunsch des Erwerbstätigen ­verstanden, beispielsweise für Sabbatical, Aus- und Weiterbildung, Elternzeit oder Pflege von Angehörigen.

Dem Trend der Individualisierung und Selbstbestimmung steht das heutige BVG entgegen, das kaum Wahlmöglich­keiten bietet, auch nicht bezüglich der Anlagestrategie. Die Versicherten tragen zwar das Anlagerisiko mit, können die Anlagestrategie aber nicht mitbestimmen.

«Dem Trend der Individualisierung und Selbstbestimmung steht das

heutige BVG entgegen, das kaum Wahlmöglichkeiten bietet, auch nicht bezüglich der Anlagestrategie.»

Wenn man davon ausgeht, dass dieser Trend anhält, wird das Vorsorgesystem in mehrfacher Hinsicht der gesellschaftlichen Realität nicht mehr gerecht: Erstens ist zu erwarten, dass bei jeder Person eine eigene Vorsorge deutlich häufiger und in grösserem Umfang vorhanden sein wird. Damit sinkt die Notwendigkeit, dass Angehörige beim Tod der versicherten Person abgesichert sein müssen. Hinterlassenenleistungen werden somit weniger wichtig. Zweitens führen häufigere Teilzeitbeschäftigungen sowie die stärkere Verbreitung von inhaltlich und zeitlich begrenzten Tätigkeiten über Onlineplattformen zu einem höheren Anteil an unversichertem ­Arbeitseinkommen. Schliesslich geht das heutige Vorsorge­system in fast allen Aspekten von vereinheitlichten Vorsorgeparametern aus, sodass individuelle Bedürfnisse von Ver­sicherten wenig berücksichtigt werden. Flexible Ein- und Austritte ins Erwerbsleben, individuelles Konsum- und Sparverhalten sowie individuelle Präferenzen bezüglich Anlage­risiken lassen sich im obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge nicht abbilden.

Älter und gesünder

Der technische Wandel verstärkt den Megatrend der Individualisierung und Selbstverwirklichung. Die Digitalisierung und die damit einhergehende Vernetzung erlauben eine hohe Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort und damit eine hohe Abstimmung der Arbeitssituation auf individuelle Bedürfnisse. Neuere Technologien lassen die Möglichkeit zu, dass die Beschäftigten freier entscheiden können, wo und wann sie arbeiten. Dies kann zu einer besseren Work-Life-­Balance führen.

Der technische Wandel hat darüber hinaus auch weitreichende Folgen für das Gesundheitswesen. Durch den Einsatz von Robotern insbesondere für repetitive, schwere und gefährliche Arbeiten kann die gesunde Langlebigkeit deutlich ­erhöht werden. Dies ermöglicht eine längere Erwerbsphase über das heute geltende Referenzalter hinaus. Es ist daher zu erwarten, dass das Alter beim Austritt aus dem Arbeitsmarkt weiter steigen wird und dass künftig mehr Personen über das 65. Altersjahr hinaus berufstätig sein werden. Schliesslich führen die grundlegenden technischen Veränderungen auch zu einer Verstärkung der Auswirkungen des demografischen Wandels. ­Medizinischer Fortschritt und der Einsatz von ­Robotertechnik führen dazu, dass die Leute nach dem Erreichen des Renten­alters gesünder sind. Damit erhöhen sich auch die Konsumansprüche im Pensionsalter. Verbunden mit steigenden Kosten des Gesundheitswesens dürfte die Entsparphase (Phase des ­Kapitalabbaus) in Zukunft deutlich ­teurer sein als heute.

Für die berufliche Vorsorge der Zukunft bedeutet das, dass neben der Ansparphase auch die Entsparphase wesentlich flexibler gestaltet werden muss. Dies betrifft sowohl den Austritt aus dem Erwerbsleben als auch Möglichkeiten, zu einem späteren Zeitpunkt erneut eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.

Bindung an Person, nicht an Arbeitgeber

Unter der Annahme, dass die beschriebenen Megatrends die Zukunft prägen, könnten folgende Anpassungen geeignet sein, die Leistungsfähigkeit der beruflichen Vorsorge auch in einigen Jahrzehnten zu gewährleisten. Zum einen müssen für die Bildung von Vorsorgevermögen alle Arbeitseinkommen berücksichtigt werden. Es sind somit alle erwerbstätigen Personen, die für die Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit entschädigt werden, versichert. Das bedeutet, dass die Höhe des Einkommens, ab welchem es versichert ist, tiefer sein muss als heute.

Zudem muss auch Arbeitseinkommen berücksichtigt ­werden, das nicht an einen traditionellen Arbeitsvertrag geknüpft ist. Neben dem heute traditionellen Arbeitnehmenden mit ­einer Arbeitgebenden und einem unbefristeten Arbeitsvertrag gibt es eine Vielzahl von Personen in (kleiner) Teilzeit­arbeit mit einem oder mehreren auftraggebenden Unternehmungen mit oder ohne Angestelltenverhältnis. Das heutige patronal organisierte Vorsorgesystem muss deshalb hinterfragt werden. Die berufliche Vorsorge wird somit letztlich an die versicherte Person gebunden. Für den Arbeitgeber entfällt damit die Pflicht, die berufliche Vorsorge zu organisieren. Er wird aber weiterhin die Beiträge mitfinanzieren.

Die Dauer der Ansparphase sollte in der Zukunft durch die Lebensarbeitszeit bestimmt werden. Beginn und Ende der ­Ansparphase sind somit nicht mehr vom Erreichen eines bestimmten Lebensalters abhängig. Es besteht darüber hinaus die Möglichkeit, während der Ansparphase für Auszeiten anzusparen. Aufgrund der in der Zukunft verbreiteten Individualisierung und Selbstverwirklichung ist die Erwerbstätigkeit während der Ansparphase nicht mehr durchgehend gegeben. Dies führt dazu, dass die erbrachte Erwerbstätigkeit bei einem bestimmten Alter der Versicherten, wie beispielsweise dem heutigen ordentlichen Rentenalter von 65 Jahren, aufgrund des Privatlebens und/oder des Arbeitsmarktes unterschiedlich ist. Der technologische Fortschritt ermöglicht es zudem, über das heutige ordentliche Rentenalter hinaus erwerbstätig zu sein.

Schliesslich braucht es eine klare Trennung von sozial­politischer Vorsorgezielsetzung und individuellem Vorsorgesparen. Selbstverwirklichung in der beruflichen Vorsorge bedeutet die freie Wahl der Anlagestrategie durch die versicherte Person. Selbstverwirklichung bedingt allerdings auch, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Das Anlagerisiko wird durch die versicherte Person individuell getragen. Leistungen können daher nicht länger garantiert sein, auch jene in der Entsparphase nicht. Die versicherte Person bestimmt in einem gesetzlichen Rahmen ihre berufliche Vorsorge selbst. Sämtliche sozialpolitischen Zielsetzungen werden in einem umlagefinanzierten System umgesetzt, wie beispielsweise in der ersten Säule. In einem solchen System sind Garantien umsetzbar und die Kosten dafür transparent.

  1. Für bestimmte Zwecke kann das Vorsorgekapital (oder Teile davon) auch bereits vor der Pensionierung bezogen werden. Ein Beispiel dafür ist der Bezug zur Finanzierung von selbst genutztem Wohneigentum.

  2. Yvonne Seiler Zimmermann, Karsten Döhnert und Florian Schreiber: Vorsorge­DIALOG – Financial Literacy mit Fokus Altersvorsorge 2023. Zug, Hochschule Luzern – Wirtschaft / Institut für Finanzdienstleistungen Zug IFZ, 2023.

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