Die Altersvorsorge
in Australien, Kanada und Tschechien
Wie wird die demografische Herausforderung in anderen entwickelten Nationen angegangen?
Australien: Zuwanderung und Rohstoffe
Der australische Wohlfahrtsstaat war bis zu Beginn der 1990er Jahre ein Fürsorgestaat, der nur bedürftigen älteren Bürgern Pensionen gewährte. Heute steht man in der Frage der Altersvorsorge sehr gut da. Schon die Bezeichnung «Three Pillar Scheme» erinnert an das Dreisäulensystem der Schweiz.1 Beide Systeme sind Formen eines «Welfare Mix»: Beitrags- und Steuerfinanzierung, Kapitaldeckung und Umlageverfahren stehen nebeneinander. Anders als in der Schweiz ist die erste Säule in Australien aber auf eine steuerfinanzierte Grundversorgung aller Bürger ausgerichtet, deren Höhe sich nach dem Bedarfskriterium bei den Senioren richtet. Die zweite Säule ist ein Mix aus Säule eins und Säule zwei des schweizerischen Modells. Die dritte Säule scheint in der Schweiz und in Australien zunächst identisch zu sein. Doch in Australien können die Bürger neben der Privatvorsorge freiwillige Zusatzbeiträge auch in die gesetzliche Rentenkasse zahlen. Schon kurz nach der Einführung der freiwilligen Zusatzzahlungen in die Kassen der «Superannuation Guarantee» (SG) leistete mehr als die Hälfte aller Pflichtversicherten freiwillige Beiträge in Höhe von durchschnittlich fast sechs Prozent ihrer monatlichen Einkommen. Heute sind auch drei Viertel der Selbständigen freiwillige SG-Mitglieder.
Bislang scheint in Australien alles im Sinne der Erfinder des «Three Pillar System» zu laufen. Bei Zusatzbeiträgen winken den Bürgern Steuererleichterungen. Auch die Arbeitgeber können Zusatzzahlungen für ihre Angestellten von den Steuern absetzen. Die freiwilligen Beitragszahlungen der Unternehmer sind deshalb stark gestiegen. In Australien führen Zusatzzahlungen zu steigenden Versicherungsrenten – und damit zu sinkenden Ausgaben für die bedarfsorientierten steuerfinanzierten Alterspensionen. Dies eröffnet Spielräume, in denen auch steuerfinanzierte staatliche Beiträge für einkommensschwache Bürger bei SG möglich sind.
Über die Höhe der freiwilligen Beiträge entscheiden die Bürger selbst. Ebenso bestimmen sie, in welchen Superannuation Fund ihre Gelder fliessen – es gibt z.B. Arbeitgeberfonds, Fonds der Finanzinstitute, der öffentlichen Hand oder von gewerkschaftlichen Anbietern. Ein Wechsel des Fondsanbieters ist zudem einfach; im Falle eines Stellenwechsels können sie das bisher akkumulierte Kapital jederzeit transferieren. Die in der Schweiz bei der 2. Säule kritisierten Lücken beim «Transfer (…) der Arbeitgeberbeiträge in eine neue Kasse bei Stellenwechsel», die «für den Arbeitnehmer den Verlust von beträchtlichen Summen zur Folge haben» können, wurden auf dem fünften Kontinent geschlossen.2
Auch Australien kann sich aber dem demografischen Wandel nicht entziehen. Ein Griff in den Topf der Steuereinnahmen kann die Probleme der Versicherungsrenten nur vermeintlich lösen: Wo es aufgrund der demografischen Entwicklung weniger Beitragszahler gibt, gibt es auch weniger Steuerzahler. Jede Steuer- und Beitragserhöhung senkt die realen Einkommen der Erwerbstätigen. Eine Lösung ist daher: Wirtschafts- und Produktivitätswachstum. Die Öffnung Australiens hin auf den asiatischen Wirtschaftsraum machte sich bezahlt, von 1985 bis 1996 verdreifachten sich die Exporte in die Nachbarregion, ebenso die Importe, die Handelsbilanzen blieben aber positiv. Von 1992 bis 1999 konnte die Arbeitslosigkeit halbiert werden, für den Staat bedeutete dies einen deutlichen Rückgang bei den Sozialausgaben. In den 1990er Jahren wurde der fünfte Kontinent zu einem Land mit den höchsten Beschäftigungswachstumsraten in der Welt. Zu verdanken ist das allerdings auch den Rohstoffen. Ende der 1990er Jahre gingen drei Viertel aller Exporte in asiatische Länder, die Hälfte davon entfiel auf Rohstoffe (hauptsächlich Mineralien). Die rohstoffarme Schweiz kann auf diesem Weg nicht folgen.
Australien ist ein klassisches Einwandererland, 28,5 Prozent seiner Bürger sind nicht im Lande geboren. Die Zahl der Immigranten hat seit der Jahrtausendwende deutlich zugenommen, von knapp 85 000 im Jahr 2000 auf 190 000 im Jahr 2012 und 262 000 im Jahr 2017. Die Bevölkerung Australiens ist im selben Zeitraum von 18,9 auf 24,7 Millionen gewachsen. Dabei entfällt der Grossteil der Einwanderer auf die Kategorie der «Skilled Migration» sowie der «Business Migration».
«Auch Australien kann sich dem demografischen Wandel nicht
entziehen. Ein Griff in den Topf der Steuereinnahmen kann die Probleme der Versicherungsrenten nur vermeintlich lösen.»
Seit 2010 wird von der Politik in Canberra das Ziel vorgegeben, «to keep our population young». Ein Schwerpunkt bei der Lenkung der Migrationsströme liegt folglich auf der Altersstruktur. 85 Prozent der Zuwanderer sind unter 40 Jahre alt. Ausnahmen von diesen Altersbestimmungen gibt es bei der «Business Migration». Schon seit Beginn des 21. Jahrhunderts zielt die Politik zudem vermehrt auf Migranten aus Ost- und Südostasien ab, die eigenes Investitionskapital mit sich bringen. Man erhofft sich von ihnen, dass sie, als Staatsbürger naturalisiert, der australischen Wirtschaft Zugänge zu den asiatischen Märkten verschaffen können. Auch ein neues Bildungsprogramm wurde aufgelegt. Zwischen 2011 und 2016 stiegen die Bildungsausgaben des Bundes und der Einzelstaaten auf dem fünften Kontinent um fast 25 Prozent. Bildung, das ist in Australien nicht nur ein Angebot, es ist Pflicht. Zuwanderer müssen hier z.B. Englisch lernen und sich mit der Kultur des Landes vertraut machen.
Der Fokus der Rentenpolitik auf die gelenkte Zuwanderung erlaubt auch, bei geplanten Reformen auf strukturelle Anpassungen zu verzichten: Ab 2019 dürfen Rentner, die nach dem 65. Lebensjahr weiterarbeiten wollen, bis zu 600 australische Dollar (ca. 430 CHF) pro Monat verdienen, ohne Kürzungen bei den Altersruhegeldern hinnehmen zu müssen. Auch Rentenbezieher können noch zusätzlich freiwillige Beitragszahlungen leisten, um ihre Altersbezüge aufzubessern.
Das australische Beispiel scheint zu belegen: Man kann auf dem Weg der Einwanderungspolitik demografische Grundstrukturen beeinflussen. Demografie und Ökonomie aber dürfen nie getrennte Wege gehen. Nur dort, wo gut durchdachte Einwanderungspolitiken neue Arbeitsplätze schaffen, kann der Sozialstaat den älteren Menschen eine sichere Zukunft bieten.
Kanada: Zuwanderung und variables Renteneintrittsalter
Der Sozialstaatlichkeit kommt im kanadischen nationalen Selbstbewusstsein bis heute eine grosse Bedeutung zu. Zwar ist der kanadische Sozialstaat im internationalen Vergleich relativ jung, die Altersvorsorgesysteme wurden erst in den 1950er und 1960er Jahren geschaffen – also noch später als die schweizerische AHV –, der Ausbau des Altersvorsorgesystems in Kanada war indes Ausdruck der Furcht vor einer Absorption des Landes durch die USA: Eine Sozialstaatlichkeit, die mitteleuropäischen Anforderungen gerecht wird, war zum Ziel einer Politik geworden, die den Bürger an den Staat binden und so eine eigenständige kanadische Identität erhalten wollte.
In den 1980er und 1990er Jahren geriet das System in den Strudel der damaligen Turbulenzen im kanadischen Föderalismus: Das französischsprachige Québec erstritt sich das Recht auf ein eigenständiges Kranken- und Rentenversicherungssystem. Doch wer sich heute die Pläne im Bereich der Renten ansieht, erkennt zwischen den Provinzen kaum grosse Unterschiede. So gilt in allen kanadischen Provinzen ab 2019 ein variables Renteneintrittsalter, das zwischen 60 und 70 Jahren liegt. Wer vor dem 65. Lebensjahr in den Ruhestand gehen möchte, muss Abschläge hinnehmen, wer bis zum Alter von 70 Jahren weiterarbeiten will, dem winken Zuschläge. Mit dem ebenfalls zu Jahresbeginn in Kraft getretenen «Enhancement Plan» wird zudem die Altersvorsorge ausgebaut: Die Beiträge – sie sind im internationalen Vergleich niedrig und entsprechen etwa den Schweizer AHV-Beitragsverhältnissen – werden von 4,95 Prozent auf 5,95 Prozent auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite erhöht, um höhere Renten auszahlen zu können. Die Beitragserhöhungen fallen im ganzen Land gleich aus. Die Stürme des Separatismus haben sich gelegt, dem Sozialstaat hat das gutgetan.
Auch das kanadische Altersvorsorgesystem ist ein mehrgliedriges, ähnlich wie in Australien. Einer steuerfinanzierten Grundpension stehen eine Versicherungsrente und ein breit gefächertes Programm von Betriebsrenten gegenüber. Dazu kommen am Bedürftigkeitsgrad orientierte «Supplement»-Programme – wie in der Schweiz. Das scheint zunächst zu beweisen: Altersvorsorgesysteme, die auf mehreren Säulen beruhen, kommen im Versicherungsbereich mit relativ moderaten Beitragszahlungen aus, die ohne grösseren innergesellschaftlichen Widerstand von Zeit zu Zeit erhöht werden können. Doch in der Schweiz hat man auch das Gegenteil erlebt.
«Genau wie in der Schweiz ist der Hunger nach Fachkräften
in Kanada gross.»
Gerade in Kanada versucht man, das Problem der alternden Bevölkerung auf dem Wege der Einwanderungspolitik zu lösen. Der Einwanderungsminister der Regierung Trudeau, Ahmad Hussen, erklärte kürzlich, Kanada werde in den nächsten drei Jahren eine Million Neubürger aufnehmen. Dabei setzt man vor allem auf die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. 2016 zählten 53 Prozent der Einwanderer zur «ökonomischen Immigration»: Einwanderer aus dieser Kategorie durften aufgrund ihrer beruflichen Ausbildung ins Land. Für die folgenden Jahre wird sogar eine Quote von 70 Prozent angestrebt. Doch wer Immigration als Mittel der Korrektur der Alterspyramide und zur Sicherung der Finanzierung der Alterssicherungssysteme in der Zukunft einsetzen will, der muss auch für Arbeitsplätze sorgen. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten in Kanada lagen in der letzten Zeit deutlich hinter den australischen zurück. Sie bewegen sich etwa auf schweizerischem Level. Genau wie in der Schweiz ist der Hunger nach Fachkräften in Kanada aber gross.
Kann die Alterspyramide einer Industrienation auf dem Weg der Zuwanderung nachhaltig verändert werden und können auf diesem Wege die Altersvorsorgesysteme für die Zukunft gerüstet werden? Zuwanderung kann als Chance verstanden werden. In der Ausbildung bedeutet dies Chancengleichheit für alle und eine Politik, die sich gegen die soziale Benachteiligung von Migrantenkindern wendet. Mehr Geld muss hier in die Zukunft investiert werden – aber für alle Bürger, damit diese «alle» zu effektiven Beitragszahlern werden können. Auch und gerade der Bereich der Wirtschaftspolitik ist zentraler Bestandteil einer guten Sozialpolitik. Denn nur wenn die Wirtschaft boomt, kann auch der Sozialstaat gedeihen.
Tschechien: unsichere Zukunft
Wegen seines langen Verschwindens hinter dem Eisernen Vorhang wird Tschechien noch heute von vielen Schweizern instinktiv als osteuropäisches Land betrachtet. Doch Tschechien gehört klar zu Mitteleuropa. Das zeigt sich auch an der tschechischen Sozialstaatlichkeit. Böhmen und Mähren sind sozialhistorisch gesehen fester Bestandteil der Mitte des Kontinents. Zum österreichischen Reichsteil der Habsburger Monarchie gehörend, wurde hier seit 1887 im Rahmen der Sozialreformen der Regierung in Wien das Bismarck-Modell der Sozialversicherungen eingeführt. In der ersten Tschechoslowakischen Republik wurden diese Systeme bis zur Weltwirtschaftskrise ausgebaut. In der Zeit der kommunistischen Herrschaft versenkte man sie in einem «kollektiven» System. Mit dem Jahr 1989 erfolgte die Rückkehr zum ursprünglichen Modell.3
So basiert heute das Rentensystem auf dem Umlageverfahren. Neben diese erste Säule trat in den 1990er Jahren eine zweite, die staatlich gefördert wird, aber nach dem Kapitaldeckungsverfahren erfolgt. Die staatliche Versicherungsrente teilt sich in zwei Bereiche auf: Zur Grundrente, die für alle Versicherten gleich ist, kommt eine Prozentrente, die sich nach den Beitragsjahren und den eingezahlten Beiträgen bemisst. Das durchschnittliche Altersruhegeld in Tschechien betrug im Jahr 2016 11 300 tschechische Kronen im Monat, das sind umgerechnet 418 Euro. Die Grundsicherung belief sich auf 2700 Kronen. Das erscheint kärglich. Doch die Armutsquote unter den älteren Bürgern liegt um fast 50 Prozent unter jener der gesamten Bevölkerung. Und: In Tschechien belaufen sich die Lebenshaltungskosten nur auf 71 Prozent des Durchschnitts in der EU. In Deutschland hingegen übertreffen sie das EU-Niveau um 5 Prozent, in der Schweiz gar um 59 Prozent. Die Mieten in Prag betragen ca. 40 Prozent der Mietkosten in Zürich. Dabei ist die Hauptstadt der Republik das teuerste Pflaster im Land. Schon in Pilsen oder Brünn lebt man noch weitaus günstiger.
Die Zukunft der Altersvorsorge bleibt in Tschechien politischen Unsicherheiten unterworfen. Zusätzliche Privatvorsorge unter staatlichem Schutz ist seit den 1990er Jahren möglich. Von 2010 bis 2013 versuchte sich die bürgerlich-liberale Regierung von Petr Nečas an einer Teilprivatisierung des Pflichtrentensystems. Die Versicherten können seither einen kleinen Teil ihrer Pflichtbeitragszahlungen in kapitalgedeckte Pensionsfonds umleiten lassen. Kritik wurde laut, Verluste für die staatlichen Rentenkassen seien vorprogrammiert. Und auch die Versicherten wollen offensichtlich keinen Teil ihrer Pflichtbeiträge Marktrisiken unterwerfen.
«Die Zukunft der Altersvorsorge bleibt in Tschechien politischen
Unsicherheiten unterworfen.»
2013 stürzten die Wähler die Regierung Nečas, es kam ein sozialdemokratischer Premier – ohne eigene Mehrheit. 2017 brach das alte Parteiensystem zusammen. Der Populist Babiš war Wahlgewinner, auch er ohne Mehrheit. Im Juli 2018 ernannte er eine Sozialdemokratin zur neuen Sozialministerin. Diese kündigte sofort Rentenerhöhungen an. Nach einigem Hin und Her wurde im Hauruckverfahren auf Anfang 2019 eine Erhöhung der Altersbezüge um 4,9 Prozent beschlossen. Die Frage allerdings, wie dies finanziert werden soll, liess die Regierung unbeantwortet.
Als Fazit der Analyse der tschechischen Altersversorgung bleibt: Ein Element der Kapitaldeckung als demografieunabhängigen Faktor in die Altersvorsorge einzubauen, erscheint sinnvoll. Dies darf aber nicht zulasten der allgemeinen Rentenversicherungskassen geschehen. Übrig bleibt dann für die Älteren bestenfalls ein Nullsummenspiel. Und der Staat gerät in Verdacht, sich aus einem zentralen Bereich der Zukunftsgestaltung der Gesellschaft schrittweise zurückziehen zu wollen.
Zu den Grundlinien beider Systeme der Altersvorsorge siehe: Peter L. Münch-Heubner: Sanfter Paternalismus. Entstehung, Geschichte und Gegenwart des Sozial- und Interventionsstaates in Australien. Frankfurt a.M.: Peter-Lang-Verlagsgruppe, 2017. ↩
Silvano Moeckli: Demografischer Kollaps? Was die Schweiz und die Welt erwartet. Glarus/Chur: Rüegger-Verlag, 2011, S. 187.
↩Zur Geschichte des tschechischen Rentensystems und zu neueren Entwicklungen siehe: Peter L. Münch-Heubner: Tschechien und die Slowakei: Sozialstaaten zwischen historischer «Pfadabhängigkeit» und wirtschaftsliberaler Transformation.In: Wege zur Sozialversicherung, 12/2010, S. 357 ff. ↩