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Die afrikanische Urreise

Mit Paul Parin auf der Jagd

Zum 90. Geburtstag von Paul Parin gehe ich mit ihm, genauer: mit seinen Erzählungen «Die Leidenschaft des Jägers», 2003 erschienen, auf die Jagd, eine Art ethnopsychoanalytischer Grosswildjagd in Slowenien und Inner-Afrika. Jäger wie Analytiker, Interpreten, Hermeneuten stimmen darin überein, dass sie öfters Böcke schiessen – die Jäger absichtsvoll, zielstrebig und bewusst, während sich die Bocksjagd der beklagenswerten letztgenannten Berufsgruppen zumeist unabsichtlich und unbewusst ereignet. Aber man kann ja auch einfach ins Blaue schiessen.

Mit diesen Erzählungen (im folgenden mit dem Sigel L und Seitenzahl zitiert) kehrt Parin über die Zeit seines er-sten Westafrikaaufenthaltes – die ethnopsychoanalytischen grossen Reisen und die Wiederbelebung der Jagdleidenschaft fallen zusammen – zu seiner Jugend, zur Geschichte seiner Initiation zurück. Die Erzählungen sind durchaus nicht zimperlich. Von dem ersten «wunderbaren Samenerguss, dem ersten bei Bewusstsein» (L 13) bei der Tötung eines Haselhahns, über die segensreiche manuelle Therapie eines «Mädels» vor der initiatorischen Bocksjagd bis zu sadomasochistischen Formen, die der sexualmoralische Volksmund zu den «Perversionen» zu rechnen pflegt, reicht das sexualliterarische Spektrum. Die Jagdleidenschaft – etwas anderes als Leidenschaft gibt es hier nicht – wird ohne Rationalisierungs- und Rechtfertigungsversuch auf die «Licence for sex and crime» (L 7 u.ö.), die sexuelle Lust und die Tötungs-, ja die Mordlust zurückgeführt. Ich zitiere einige der riskanten Sätze: «Jagd eröffnet einen Freiraum für Verbrechen bis zum Mord und für sexuelle Lust… ‹Licence› hat eine radikalere Bedeutung als der deutsche Ausdruck Freibrief: Verbote gelten nicht mehr… Der Jäger ist ein Raubtier; die grösste Gefahr für das Bestehen der Jagd ist die Vernunft… Jagd ohne Mord wäre ein Oxymoron, ein Begriff, der sich selber aufhebt. … Jagd ist eine Folge der Herrschaft des Menschen über die Natur. Dass die Tiere unter der Jagd leiden, ist und war kein Geheimnis … Biologisch gibt es keine Rechtfertigung für die Jagd… Mit dem Ritual wird das Töten von Tieren zur Kultur» (L 8,9,77 f.).

Mit der Radikalität des Alters, das sich an frühe Dinge erinnert und späte Einsichten nicht mehr zu scheuen braucht, wird autobiographisch resümiert: «Nie habe ich die Jagdlust verloren», auch «nicht in den Jahren als menschenfreundlicher Arzt und friedlicher Forscher. Sobald ich weiss, dass eine Jagd stattfinden wird, und ich die Symbole – Gewehr und Patronen – berühre, muss ich dabei sein. Wie, ist beinahe gleichgültig. Ich war immer schon der Jäger» – «ein Mensch, der seiner eigenen Moral widerspricht» (L 80, 74). Wer und was der Jäger ist, scheint also klar zu sein. Wem aber gilt die Jagd?

Ich versuche, mich der Beantwortung dieser Leitfrage auf einigen Umwegen zu nähern, die naturgemäss nicht so direkt sein können, wie der Jäger Parin es ist. Ich trage drei Fragmente vor, die einigermassen heterogen sind, aber hoffentlich eine Konstellation und am Ende einen Geburtstagsglückwunsch ergeben. Auf dem Hintergrund dreier anderer literarischer Jagderzählungen und der Jagderzählung, aus der sich die Psychoanalyse nährt, versuche ich das Revolutionäre von Parins «Die Leidenschaft des Jägers» anzudeuten, das in einem Doppelprozess der Rückverschiebung und Desymbolisierung liegt.

I. «Das Jagdgewehr» und «Die Glut»

Zwei der erfolgreichsten Prosatexte der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts – Sándor Márais Roman «Die Glut» und Yasushi Inoues frühe Erzählung «Das Jagdgewehr» – arbeiten mit einem ähnlichen Jagdmotiv, ohne voneinander beeinflusst zu sein. Es handelt sich um eine Dreiecksgeschichte von Liebe, Leidenschaft und Verrat. Das hinterrücks in Anschlag gebrachte Jagdgewehr ist – statt auf das Tier – auf den hinderlichen Menschen, den konkurrierenden Freund bzw. die störende Ehefrau gerichtet.

Mit Inoue hat Parin, soweit ich weiss, sich nicht befasst. Dafür hat er Márais Roman zusammen mit Prosper Mérimées Novelle «Lokis» einen kleinen Essay gewidmet, der ursprünglich für den Band «Die Leidenschaft des Jägers» vorgesehen war, dann aber der Zensur des Verlags zum Opfer gefallen ist. Jetzt ist der Essay in dem von Traute Hensch besorgten Band «Paul Parin. Lesereise 1955 bis 2005» erschienen.

Nach Parins Lesart zählen Mérimées «Lokis» und Márais «Glut» zu den «vielen Werken», «in denen gezeigt wird, dass Jagdleidenschaft den Mantel der Gesittung wegreisst und das Tabu für Verbrechen aufhebt» (Lesereise 133). «Mérimée geht es darum, die Doppelnatur des Menschen zu schildern. Vor Zola hat er das Tier im Menschen – la bête humaine – beschrieben… Mord ist der grausame Schlusspunkt der Novelle. Motive gibt es nicht. Es ist das Tier im Menschen, das mordet» (Lesereise 134, 136). Menschen haben danach Motive, Tiere keine.

Bei Márai wiederum findet zwar kein Mord statt. Der tödliche Schuss fällt wie bei Inoue nicht. Aber bei der Hirschjagd der beiden Offiziere, von denen der Roman erzählt – Henrik, dem General, und Konrad, dem Freund –, die, ehelich der eine, ehebrecherisch der andere, dieselbe Frau – Krisztina – lieben und sich nun als «alte Männer» zum Showdown wiedertreffen, ist das Jagdgewehr in Tötungsabsicht auf den Freund gerichtet gewesen. Und der Essayist Parin stellt nicht ohne eine gewisse Befriedigung fest: «Die Jagd hat der Passion den Weg geöffnet. Das genügt.» (Lesereise 138).

Aber es lohnt sich, die beim Showdown 41 Jahre zurückliegende Jagdszene noch etwas genauer anzuschauen. Zunächst wird von der Jagdleidenschaft des Vaters des Generals, eines Gardehauptmanns, erzählt. Er jagte zu jeder Jahreszeit, Tag für Tag. «Als ob er jemanden umbringen wollte und sich ständig auf diesen Racheakt vorbereitete… Da er die Welt, in der es auch noch anderes und andere gab…, nicht ausrotten konnte, so tötete er eben die Bären, die Rehe und Hirsche» (Die Glut, abgek. G, 19 f.). Dann folgt der Bericht von der Hochzeitsreise des Generals und Krisztinas. «Wir bereisten die arabischen Länder» (G 124). In Algier, notiert Krisztina in dem Tagebuch, das sie über das Ungesagte in ihrer Ehe für ihren Mann schreibt, «habe sie einen Mann gesehen, der sei ihr in eine Gasse gefolgt und habe sie angesprochen, und sie habe das Gefühl gehabt, sie könnte mit ihm gehen» (G 166). «Sie ertrug keinerlei Einschränkung… Sie brachte Leidenschaft und Hochmut, das souveräne Selbstbewusstsein unbedingter Gefühle mit» (G 179 f.). Die «Feigheit» des Geliebten wird sie später abgrundtief verachten.

Die beiden sind in Bagdad Gäste einer arabischen Familie. Für sie wird ein weisses Lamm abgestochen. Die «orientalische» Handbewegung dabei erinnert den Erzähler an die «Zeit, da das Töten noch eine symbolische und religiöse Bedeutung hatte, als es noch etwas Wesentliches bedeutete, nämlich das Opfer» (G 126). Die Geschichte von Abrahams abgebrochenem Sohnesopfer, dem letalen Interruptus, entstammt dieser Zeit, auch die von Johannes dem Täufer. «Die heilige Symbolik des Tötens» soll das «Opfer» mit der Jagd verbinden, den Jäger zu einer Art von Hohepriester machen. Opfer wie Jagd entspringen indessen weniger der Symbolik als der dem Töten geltenden Lust, «dieser verbotenen Lust, dieser stärksten aller Leidenschaften, diesem Trieb, der weder gut noch schlecht ist» (G 131), aber eine so «heisse, angenehme Angelegenheit, wie eine Umarmung» (G 127) verspricht. «Merkwürdig, dass auf ungarisch das Wort töten und das Wort Umarmung zusammenklingen und sich gewissermassen steigern: ölés und ölelés» (G 127 f.). Hinter der sakralen Symbolisierung steht die Trieblegierung von Tötungs- und Umarmungslust.

In diese Doppelrichtung führt schliesslich die Schlüsselszene des Romans. Mit der «Zeichensprache des Unbewussten» (G 200), von der und mit der «Die Glut» spricht, wird diese Szene lokalisiert in der Zeit der Frühe, in der sich «die Tiefen und Höhen, das Dunkle und das Helle der Welt und der Menschen noch berühren… Der Wald riecht so roh und wild, als käme jedes organische Wesen, Pflanze, Tier und Mensch, im grossen Schlafzimmer der Welt allmählich zu sich und atmete seine Geheimnisse und bösen Gedanken aus…, als lägen da zwei Liebende in schweissgebadeter Umarmung… Es ist der Augenblick, da es im menschlichen Herzen weder Nacht noch Tag ist, da die wilden Tiere aus den geheimen Winkeln der Seele herausgekrochen sind, … krampfhaftes Begehren, heimliche Sehnsucht, zuckende Regung…» (G 132 ff.). Es ist das ins Morgendliche transportierte Eichendorffsche «Zwielicht» – «Hast ein Reh du lieb vor andern, lass es nicht alleine grasen, … Hast du einen Freund hienieden, Trau ihm nicht zu dieser Stunde» – dieses Zwielicht also, in dem noch nicht die lichte Ordnung der Dinge herrscht.

In dieser undurchsichtigen Zeit der Frühe hat zuerst der Hirsch seinen Auftritt, der «brünstige Hirsch». Er «erinnert sich noch an die leidenschaftlichen Augenblicke der mondbeschienenen Nacht, er bleibt inmitten der Lichtung stehen, wo der Liebeskampf stattgefunden hat, stolz und mitgenommen hebt er seinen im Duell verwundeten Kopf und blickt sich mit blutunterlaufenen, ernsten Augen um, als könne er die Leidenschaft nie vergessen» (G 133 f.). Es ist nur schlüssig, dass dieses Tier in der Sprachlogik des Unbewussten vom «brünstigen, kapitalen Hirsch» alsbald zum «Wild», zu «dem Wild» mutiert. Nicht weniger als siebenmal bringt der «Hirsch» im Text die Wandlung zum «Wild» hinter sich.

Im «Urbereich des Waldes, der Wassertiefe, des Lebens» tritt dieses «Wild» zwischen den Tannen am Rand einer Lichtung hervor. Und nun, in einem Moment unerhörter Spannung, ist der Augenblick der Jäger gekommen, des Generals, der als erster den Hirsch bemerkt und stehen bleibt, des Freundes, der zehn Schritte hinter ihm steht und mit einem «leisen, kalten Klicken» (G 136) das Gewehr entsichert. «Ein klassischer Augenblick» (ib.). Der General spürt, wie der Freund das Gewehr an die Schulter legt, ein Auge zudrückt und der «Gewehrlauf» «langsam» vom Kopf des Hirsches auf den des Generals «abdreht» (G 147). Idealer für die Rationalisierung eines «tragischen» Jagdunfalls, eines treffenden Fehlschusses könnte die Situation nicht sein. Denn «die menschliche Natur ist so beschaffen, dass sie im Moment einer aussergewöhnlichen Handlung immer einen objektiven Vorwand braucht» (G 150). Eine halbe Minute hält die Erzählung den Atem an, die Zeit, in der der «abgedrehte» Gewehrlauf auf den General gerichtet ist und er auf den Schuss wartet – einverständig wartet, im Unterschied zum «Wild» –, bis der wieder umgetaufte «Hirsch» die Gefahr erkennt und der Jäger das Gewehr sinken lässt. «Die Szene zerfiel… Du hast es versäumt» (G 150 f.), lautet der lapidare Kommentar des Generals. Das versäumte «es».

Offensichtlich, dass es in der Stunde des halbbewussten Zwielichts um eine Dreiecksgeschichte geht: um das Wild, den General und den Freund, dahinter die zwei Männer und die eine «wie ein Tier wilde und unbezähmbare» (G 179) Frau.

Die Konstellation wird allerdings dadurch kompliziert, dass die beiden um dieselbe Frau konkurrierenden Freunde seit ihrer Jugend stets «wie eineiige Zwillinge im Mutterleib» waren (G 37), der Jäger also, recht besehen, auf sich selber Jagd macht. Aber ich will hier nicht zum 1001. Mal die Abgründe und Untiefen «triangulärer» Konstellationen analysieren. Interessanter scheint mir die signifikante Bewegung der Szene: dass der zielende Schütze mit dem Gewehrlauf vom Hirsch, vom «Wild» auf den Freund und Konkurrenten «abdreht». Dieses «Abdrehen» ist die entscheidende Bewegung, eine Änderung der Zielrichtung, die eine «Verschiebung», zugleich einen Prozess der Symbolisierung impliziert. Nicht mehr auf das Tier und nicht nur auf den konkurrierenden Menschen, sondern, mit Paul Parins Analyse von Prosper Mérimées «Lokis» gesagt, auf das brünstige «Tier im Menschen» ist das Gewehr des Jägers gerichtet, dessen – hier freilich impotente – Jagdleidenschaft selber «den Mantel der Gesittung wegreisst» und so ihrerseits dem «Tier im Menschen» entspringt.

II. «Dieses wahre innere Afrika.»

Nach der Psychologik der Verschiebung und Symbolisierung wende ich mich jetzt einer anderen Verschiebungs- und Symbolisierungsgeschichte zu. Es ist die «afrikanische» Entdeckungsgeschichte des Unbewussten vor und bei Freud, ein genealogisches Seitenstück zu der von Johannes Reichmayr vertretenen These, dass Ethnopsychoanalyse nicht etwa nur eine komparatistische Teildisziplin der Psychoanalyse sei, sondern dass diese selber im Kern Ethnopsychoanalyse – Wissenschaft vom «inneren Ausland» sei. Mit Freud und Parin also auf eine weitere, oder richtiger: die afrikanische Urreise.

In Márais «Glut» gibt es neben den arabischen Ländern der Hochzeitsreise die traurigen und mörderischen Tropen, wo die Augen der Menschen so «blutunterlaufen» (G 81) wie die der brünstigen Hirsche im östlichen Europa sind, jene schwüle, exzessive fremde Welt, in die Krisztina will und der Freund auswandert, die Landschaft des «afrikanischen» Unbewussten. «Man will doch auch in Afrika gewesen sein», heisst es in einem Brief Freuds ans Sándor Ferenczi im August 1910 im Zusammenhang mit einer gemeinsam geplanten Mittelmeerreise, die wenigstens Algier berühren sollte. Doch daraus wurde direkt nichts, indirekt freilich um so mehr.

Jean Pauls Metapher vom «wahren inneren Afrika» für das doppelt «ungeheure», nämlich riesige und unheimliche «Reich des Unbewussten» hatte auf eine gefährliche Attrak-tion gezielt: das Reich der Glut. Was aber hat da ein Freud zu suchen und zu finden, zu jagen und zu erlegen?

Er wird explorierender Seelenforscher und zugleich Kolonisator. In der «Frage der Laienanalyse» zum Beispiel, bei seinem Versuch, die frühkindliche Sexualität des kleinen Mädchens und zumal das undurchsichtige Geschlechtsleben des «erwachsenen Weibes» zu erkunden, stösst er auf einen ganzen «dark continent für die Psychologie» (Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 241) – so Freuds inzwischen berühmteste und berüchtigtste «afrikanische» Metapher. Die Dunkelheit dieses Kontinents liesse eigentlich auf Vorsicht, eine gewisse erkenntniskritische Skepsis und vor allem Zurückhaltung hoffen. Aber das hindert den Mann, den weissen Mann Freud keineswegs, beruhigenderweise das Wichtigste von diesem «dark continent» zu wissen und für seine kolonisatorische Aneignung zu sorgen. Denn so beängstigend potent und undurchschaubar das weibliche «Inner-Afrika» auch scheint – in Wahrheit strotzt es nur so vor Penisneid!

Und wer wohnt neben den Frauen im «dark continent»? Niemand anders als die «Wilden», die Freud in «Totem und Tabu» wiederholt mit den Neurotikern vergleicht. Niemand anders als die unbewussten, verdrängten Triebe, die nach Freuds Schrift über das Unbewusste dessen Inhalt als «psychische Urbevölkerung» ausmachen (Gesammelte Werke 10, S. 294). Schliesslich natürlich niemand anders als die «Neger» und die mit ihnen, den Frauen, den Wilden und den Neurotikern einhergehenden Verheissungen aus den Gründen und Abgründen der triebhaften, psychischen Urbevölkerung.

Und auch Freud hat keinen Zweifel, dass man diese Urbevölkerung des «inneren Afrika» domestizieren müsse. Er lebt sich immer mehr in die Rolle eines selbstdiszipliniert-besonnenen Kolonisators ein, der die Triebe unter wohltätiger Ausbeutung ihrer Energiequanten am liebsten zu zentraleuropäischer Triebregulierung bekehren würde. Wo afrikanisches oder meerhaft-wildes und stürmisches Es war, soll Ich werden – dieser willkommenste aller Sätze Freuds, der zur Ehre der Altäre aufgestiegen ist, weil er wie kein anderer die Wünsche aller Moralapostel und Zoodirektoren erfüllt, ist nur allzu selten, nicht einmal im geistigen Probehandeln, umgekehrt worden. Gerechterweise ist zwar einzuräumen, dass dieser Satz gemäss Freuds zweitem, «strukturellen» Modell des «seelischen Apparats» die Ich-Werdung des ebenfalls vom Es genährten Über-Ichs einschliesst. Die dominierende Lesart blieb aber die Domestikation des Trieb-Es, die Trockenlegung der Zuidersee: danach wäre Psychoanalyse die Theorie und Therapie aller Formen des Bettnässens.

Unter diesen Umständen bereitet es natürlich besondere Befriedigung, wenn die spätere Vestalin des «Ichs und seiner Abwehrmechanismen», Anna Freud, zu der Zeit, wo sie noch unzensiert des geliebten Vaters geliebter «schwarzer Teufel» ist, «köstlich frech» und «schön vor Schlimmheit», im gerade publizierten Briefwechsel mit dem Vater aus dem holländischen Nordwijk, begeistert an ihn schreiben kann: «es tobt! nämlich das Meer.» (Brw 63).

Dürfen wir uns den afrikanischen, kolonisatorischen Freud für einen Moment als Jäger vom Schlage der «modernen Reisenden» vorstellen, so zielt er mit dem Lauf seines psychoanalytischen Jagdgewehrs nicht auf «das Wild» wie Márai, aber eben auf «die Wilden» als «psychische Urbevölkerung», deren glutheisser «fremder Welttheil» so verheissungsvoll wie gefährlich ist, um den Gewehrlauf dann in einem Prozess der Verschiebung speziell auf den weiblichen «dark continent für die Psychologie», generell auf das ganze Reich des afrikanischen Unbewussten, des «Es» zu richten. Seither heisst Psychoanalyse vorab: auf das Es, das Tier im Menschen zielen – freilich ohne es töten zu wollen. Es soll sich nur so manierlich aufführen, wie es unter zivilisierten Wilden und wahlweise kastrierten Frauen der Brauch ist, auch wenn es diesen an einer gehörigen Über-Ich-Entwicklung fehlt.

III. Rückverschiebung und Desymbolisierung

Wie bei Márai noch die symbolische Ordnung des «Opfers» bemüht wird und sich im Zwielicht der Morgenfrühe die Zielrichtung des Gewehrlaufs vom «Wild» auf den Menschen verschiebt, so herrscht auch in Parins Erzählungen öfters noch die symbolische Ordnung. Die Jagd kann die ganze Spannweite von der Menschen-, der Partisanenjagd bis zur Leidenschaft des Historikers umfassen (L 130, 161, 174). Zumal im Reich der Trophäen wird diese Ordnung respektiert. «Der Hirsch, dessen Geweih im Zimmer hängt, kann sich wieder in den drohenden Feind verwandeln», schrieb Otto Fenichel 1930. Die Trophäe stelle den Feind symbolisch dar, ihr Verlust bedeute für den Sammler, dass er dem Gegner, dem er sie geraubt hat, ausgeliefert sei (L 111).

Am deutlichsten ist die sich der Verschiebung verdankende symbolische Ordnung in der Erzählung «Meine Initiation», wo eine ödipale Konstruktion die Jagdszenen bestimmt: «Die ödipale Variante ist: Das Kind spaltet im Entwicklungsprozess den Vater auf, liebt ihn und identifiziert sich mit dem leidenschaftlich jagenden realen Vater, im Übrigen ist es Rebell und geniesst es unbewusst, die Imago des Vaters, das Wild, kaltblütig zu töten. […]» (L 74 ff.).

In der Initiationserzählung darf der jugendliche Jäger seinen ersten Bock schiessen, wenn er im Namen des Vaters, hier des gräflichen Vater-Repräsentanten, dazu animiert worden ist. Das ersatzelterliche Paar darf er sogar bei der frohgemuten «penetratio a tergo» beobachten, um sich anschliessend von einem der beigeschafften «Mädels» durch die Segnungen der schon erwähnten manuellen Therapie entlastet zu sehen, bevor er auf die eigentlich-uneigentliche Bocksjagd geht. «Die Türe zum Speisezimmer stand offen, der Tisch war für sechs Personen gedeckt. Hinten, neben dem Kachelofen, stand die Frau gebückt und ordnete frisch geschnittene Wiesenblumen in einen Tonkübel. Sie hatte den Rock hochgeschlagen, hinter ihr der Hausherr, seine Lederhose runtergelassen. Ich war erstarrt und wollte mich lautlos zurückziehen. Er hatte mich bemerkt und rief laut herüber: ‹Macht nichts, komm in zehn Minuten, dann sind wir mit Vögeln fertig. Dann sind auch die Mädels da, die ich gemietet hab. Sie sind scharf auf dich, haben sie gesagt›» (L 60).

Solche psychoanalytische Orthodoxie lässt man sich ja gerne gefallen, so schön penetrant wie sie ist. Im übrigen aber werden die Verschiebungen der symbolischen Ordnung aufgehoben. Ich komme noch einmal auf die eingangs zitierten Sätze zurück: Die Jagd als «Licence for sex and crime» ist nichts anderes als die Lust zu töten und die sexuelle Lust – so Parins auf die Jagd gemünzte, nicht sowohl dualistische als vielmehr «legierte» Trieblehre für das, was Libido und Destrudo im Jäger vereint. «Töten und Lust zusammen ergeben Jagdlust» (L 21): so lapidar, unverschoben und ganz und gar nicht symbolisch steht es da.

Das hat den Vorzug, dass es die Rationalisierungen erübrigt. Wenn Ehrlichkeit heisst, eine Sache bei ihrem und keinem anderen Namen zu nennen, dann sind diese Erzählungen von der Leidenschaft des Jägers in höchstem Masse ehrlich. Sie nennen den Trieb, die Triebe bei ihrem Namen. Nicht, dass sie deswegen indifferent wären. Gerade weil es um nichts als die Leidenschaft des Jägers geht, gilt Parins ganzer Hohn den Perversionsformen der Jagd wie dem amerikanisierten «Ranch Hunting oder Canned Hunting»: «In eingezäunten Gehegen können einheimische oder auch exotische Tiere gejagt werden. Die Jäger tragen Tarnanzüge und sind mit Jagdgewehr, Pfeil und Bogen oder Speeren bewaffnet. Ein Gnu kostet bis 4’000 Dollar, ein Nashorn das Fünffache. Die Trophäe ist garantiert: no kill – no pay. Die Tierschützer der Human Society haben protestiert, doch hat die National Rifle Association… die Annahme von Gesetzen zur Abschaffung von Canned Hunt vereitelt» (L 80 f.). Auch die «Wiedergeburt des deutschen Mannes» durch das «‹heilende Wunder› der Jagd» bei Ludwig Ganghofer ist dem leidenschaftlichen Jäger Parin ein satirisches Glanzlicht wert, zumal die deutsche Rückkehr in die Natur nur dank ungarischem Rothirsch-Import standesgemäss erfolgen kann (L 81 f.).

Aber dieser leidenschaftliche Jäger verschmäht souverän, was die Jagd als allerheiligstes Kulturgut, Ökoversprechen und Hort tierliebender Humanität rechtfertigen soll. Es gibt keine Theodizee des Jägers – nur seine doppelte Lust und, freilich, «das eben noch wilde und lebendige Tier» (L 187), das nun tot auf der Strecke bleibt.

Die Schlussfolgerung aus all dem? In der Sprache geburtstagsgerechter Laudationes würde ich die Bedeutung dieses Jägers darin sehen, dass er etwas von der Psychoanalyse als Verschiebungs- und Symbolisierungsdisziplin, als Domestikation des «dark continent», als Trockenlegung der Zuidersee revidiert. Das wäre seine Art der Dekonstruktion – gäbe allerdings auch heikle Fragen auf: Was bleibt denn von der Psychoanalyse, was vom behaglichen Unbehagen in der Kultur, wenn der Jäger der entschlossenen Entsublimierung den Vorzug gibt?

Lieber aber wäre es mir zu sagen, dass Parin dank seiner Desymbolisierung und im Widerspruch zu den Jagdgeschichten von Mérimée bis Márai auf das «Tier im Menschen» verzichten kann. Das Tier ist das Tier, der Jäger der Jäger, «a rose a rose» – und Paul Parin Paul Parin. Vielleicht muss man wirklich 90 Jahre alt werden, um die Dinge beim Namen zu nennen, bei ihrem Namen. Dazu gratuliere ich uns und ihm.

LUDGER LÜTKEHAUS, geboren 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br.

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