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Die Achtundsechzigerinnen

Eine Revolution innerhalb der Revolution: Die Rolle der weiblichen Achtundsechziger ist bemerkenswert, fand bisher aber kaum öffentliche Beachtung. Drei Zeitzeuginnen berichten.

«Ich konnte das Gejammer dieser linken ‹Herrgöttli› nicht mehr hören», meint Heidi Witzig, ehemaliges Mitglied der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) bei einem Tee im «Commercio». «Darum bin ich zu den Vollversammlungen der Linken an der Universität gar nicht erst hingegangen, nur noch an die Frauen­sachen.» Die 1944 in Frauenfeld geborene, spätere Historikerin Witzig beschäftigte sich 1968 mit ihrer Dissertation in Florenz und kehrte erst 1969 in die Schweiz zurück. Dort herrschte eine einmalige historische Konstellation: die etablierten Frauenstimmrechtsvereine des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren aufgrund der fehlenden politischen Gleichberechtigung noch immer aktiv, während Ende der 1960er Jahre eine «neue» Frauenbewegung entstand, deren Ziel nicht mehr primär das Frauenstimmrecht war, sondern die Befreiung von «patriarchalen Strukturen» in der Gesellschaft. Sie habe sich gar nicht mehr für das Frauenstimmrecht eingesetzt, erklärt Witzig. Denn dessen Realisierung sei nur noch Formsache gewesen. «Es ging uns wirklich um den Kampf gegen das Patriarchat.»

Ursprünge einer neuen Frauenbewegung

In den Medien nahm man die ersten Aktionen der neuen Frauenbewegung als Teil des Aktionsprogramms der jungen Zürcher Linken wahr. Am 75-Jahr-Jubiläum des Zürcher Frauenstimmrechtsvereins im Schauspielhaus störten junge Frauen, darunter Andrée Valentin, die Feierlichkeiten mit Zwischenrufen und einer provozierenden Rede. Man solle nicht feiern, sondern diskutieren1, meinte Valentin, die sowohl aktives Mitglied der «Fortschrittlichen Studentenschaft Zürich» (FSZ) als auch Mitbegründerin der FBB war. Solche Zwischenfälle ereigneten sich in den folgenden Jahren häufiger. Demonstrationen, Strassentheater, Auspfeifen, Hausbesetzungen und dergleichen erregten die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Aktionen seien farbig und frech gewesen, erläutert Witzig – und äusserst publikumswirksam.

Tatsächlich sind die Ursprünge der autonomen Frauenbewegung in der 68er-Bewegung zu verorten. So marschierte die noch junge FBB am 1. Mai 1969 mit linken Gruppierungen durch die Strassen, doch von Anfang an verlief die Zusammenarbeit nicht ideal. Die Frauen durften oft nur Handlangerdienste leisten oder wurden gar von Entscheidungen ausgeschlossen: die Strukturen waren auch bei den Linken patriarchal. Unter der Devise «Das Private ist politisch» erweiterten engagierte Frauen den politischen Diskurs um Aspekte der privaten Lebensverhältnisse und forderten gleichberechtigte Beziehungen, sexuelle Selbstbestimmung und Aufgabenteilung bei der Erziehung. Denn, so resümiert Gretchen Dutschke, Studentenaktivistin und Ehefrau von Rudi Dutschke, in ihrem kürzlich erschienenen Rückblick: «Bei aller Neigung zu Rebellion und Revolution waren die linken Männer ihren vielkritisierten reaktionären Vätern in einer Hinsicht doch ähnlicher, als ihnen lieb war: Sie waren weitgehend eben auch Machos.»2

Die linken Männer, die sich als diejenigen verstanden hatten, die gesellschaftliche und private Autoritäten attackierten, waren nun plötzlich selber Ziel der Kritik. So erscheint im Rückblick die Frauenbewegung nach 1968 als Revolution innerhalb der Revolution.

Frauengeschichte(n)

Als Heidi Witzig 1969 in die Schweiz zurückkam, heiratete sie, zog nach Uetikon und engagierte sich politisch in der Gemeinde. Die traditionelle Politik mit Männern in der Schulpflege sei etwas ganz anderes gewesen als die Männerdemos an der Uni, die sie angewidert hätten. Dass es eine Diskriminierung von Frauen gebe, habe sie schon in der Primarschule erlebt: «Die Jungen gingen ins geometrische Zeichnen, die Mädchen in den Nähunterricht», erinnert sie sich. Es habe sie unglaublich wütend gemacht, dass einfach klar gewesen sei, dass Mädchen andere Fächer belegten als die Jungen. «Mein Vater hat sich kaputtgelacht, als ich ihm mein Zeugnis mit der einzigen ungenügenden Note in der ‹Nähschi› heimbrachte.» Von da an sei ihr klar gewesen, dass sie von ihrem Vater Hilfe erwarten könne – nicht aber von ihrer Mutter. Er habe die Entscheidungen in der Familie getroffen, ihr auch die Erlaubnis gegeben, an die Kantonsschule zu gehen. Eine «Kanti», an der es zwei Lehrmittel für Staatskunde gegeben habe: eines für die Jungen und eines für die Mädchen – ohne den politischen Teil. «Meine Diskriminierungserfahrungen von früher hiessen immer auch: halte dich an mächtige Männer. Die unterstützen dich. Frauen wollen dich zurückhalten.» Das sei ein gefährliches Erbe, eine Prägung, mit der sie auch noch Jahre später zu kämpfen gehabt habe. «Ich brauchte lange, auch in der FBB, bis ich Frauen wirklich vertraute.»

Witzigs Leidenschaft für die Frauenbefreiung schlug sich auch in ihrer Arbeit nieder. «Wenn wir das Patriarchat kritisieren wollten, mussten wir konkret werden: Was sind das für Strukturen, die das Patriarchat gebildet haben und von denen wir so geprägt sind?» Und so schrieb Witzig mit der Historikerin Elisabeth Joris ein umfangreiches Werk darüber.3 Bis heute sei sie auf dieser «Frauenschiene» geblieben: etwa bei der «GrossmütterRe­volution» – einer Plattform für Feministinnen der heutigen Gross­mütter-Generation.

«Hör auf zu jammern. Kämpfen! Ich helf dir.»

«In Schaffhausen hat 68 mit zeitlicher Verzögerung stattgefunden, nämlich Anfang bis Mitte der 70er», erinnert sich Doris Schüepp, die zu dieser Zeit zwei Jahre in der Kommune an der Vorstadt 40 lebte. Zusammen mit anderen Sympathisanten der Revolutionären Marxistischen Liga bewohnte die angehende Lehrerin und Trotzki-Sympathisantin das mittlere Stockwerk des grosszügigen Altstadtbaus, über ihnen Jungsozialisten, unter ihnen Mitglieder der Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH). Natürlich seien sie wie Hippies herumgelaufen, mit langen Haaren, weiten Hosen, etwas zerzaust, gegen den Vietnam-Krieg seien sie gewesen – aber eine Bewegung? Nein, nicht eine Bewegung, das sei regional sehr unterschiedlich verlaufen. Im Rückblick, sagt die 62-Jährige, könne man beinahe darüber lächeln, was für eine Bedrohung man in ihnen allein aufgrund dessen gesehen habe, mit was für Ideologien sie sympathisierten. Polizeispitzel, Brutalität gegenüber Demonstrierenden, Staatsschutz-Fichen, die es ihnen beruflich schwermachten: «Die hatten offensichtlich Angst vor uns», kommentiert Schüepp trocken. Dabei gab es – jedenfalls in der eigenen Kommune – keine militanten Gruppierungen: Gewalt war verpönt, man demonstrierte friedlich. Beim AKW Gösgen etwa mit Taucherbrillen und einem Zitronentüchlein auf dem Gesicht als Schutz vor dem Tränengas. «Wahnsinnig anstrengende Diskussionen» habe es gegeben zu der Frage, welches jetzt die beste politische Theorie sei – beinahe die Augen ausgekratzt hätten sie sich. Dass Spaltungen auftreten, obwohl sich alle «Weltverbesserer» und «Linke» nennen, hielt sie für normal und unvermeidbar – spannend sogar. Im Unterschied zu Zeitgenossinnen, welche dem Geschlechterkampf absolute Priorität einräumten, war dieser für Schüepp zwar wichtig, aber immer als Teil des Klassenkampfs. «Es gibt keine Befreiung der Frau ohne die Befreiung der Arbeitnehmenden», sagt sie, und man hört aus diesen Worten die langjährige Chefin und erste weibliche Generalsekretärin der Gewerkschaft VPOD heraus. Es sei wie mit der damaligen Frage «Rolling Stones oder Beatles?», lacht sie – und gibt gleich ihre Antwort: beide! Ihr Urgrossvater habe noch für drei Tage Ferien im Jahr Streikposten gestanden und mit einer Grosstante und einem Vater in der Gewerkschaft sei ihr der Kampfgeist wahrscheinlich schon in die Wiege gelegt worden: «Mich hat meine Herkunft politisiert. Ich wollte, dass alle Menschen einigermassen anständig leben können, und bin dann natürlich auf Leute getroffen, die ähnliche Dinge bewegt haben. Mit denen ist man zusammengezogen, beseelt von diesem Engagement für eine bessere Welt.» Was Doris Schüepp, die sich selber als «gut geerdet» bezeichnet, erzählt, zeugt von Idealismus, aber auch von einem ausgeprägten Sinn fürs Praktische und ausgewogenem Urteilsvermögen. Nicht zuletzt gegenüber den männlichen Mitstreitern, die schliesslich auch geprägt worden seien durch ihre Sozialisierung, teilweise darunter gelitten hätten. Und wie verhielt es sich nun mit dem Politischen im Privaten? Es sei in der damaligen Kommune gewesen, wie man es erwartet: die Männer hätten einfach zu wenig geputzt, gekocht oder abgespült. «Dann stellten wir eben einen sturen Ämtliplan auf.» Alle hätten mit­gemacht, nach anfänglichem Bocken. Da müsse man schon eine gewisse Sturheit an den Tag legen, aber es sei eine gute Erfahrung gewesen, auch für die Männer.

Nicht jammern, sondern handeln: das sei der Schlüssel gewesen – aber nicht immer leicht,  wenn man sich als einzige Frau unter Männern durchsetzen musste. Es gebe ein paar Frauen, die dennoch alles unter einen Hut brachten: Familie, Beruf, Politik – aber das seien Ausnahmen. «Und es gibt Frauen, die nicht solche ‹Kampfsäue› sind, wie ich eine bin», sagt sie verschmitzt. «Vor allem müssen sich Frauen gegenseitig ermutigen und unter­stützen.» Aber: «Es wäre auch unfair zu sagen, dass Männer immer die waren, die das nicht wollten oder sogar gebremst haben.» Und es habe natürlich auch in der Schweiz Frauen gegeben, die sich weder politisch anpassen noch charakterlich verkrümmen mussten, um akzeptiert zu werden: «Ich war immer ich selbst. Auch damals, als es unter uns ‹Emanzen› noch nicht so angesagt war, schminkte ich meine Lippen und hielt linke Reden in einem eleganten Wollstoffkostüm.»

Den Ball ins Rollen gebracht

Während sich in den grösseren Städten der Schweiz feministische Gruppierungen bildeten, lebte die 15jährige Madeleine Boll weitab von all dem im Walliser 300-Seelen-Dorf Granges. Die Studentenproteste hatte sie zwar im Fernsehen gesehen, politisch aktiv war sie nicht. Ihre Leidenschaft? Das Fussballspielen. Boll ist eine der bedeutendsten Frauen im Schweizer Fussball – und zudem noch eine Symbolfigur der Gleichberechtigung. Was Fussball mit den weiblichen 68ern zu tun hat? Viel! Denn es ist bezeichnend, dass just 1968 in Zürich der erste Frauenfussballclub gegründet wurde. Und: nur wenige Monate vor der Abstimmung zum Frauenstimmrecht fand das erste Länderspiel der schweize­rischen Nationalmannschaft statt.

Boll, Jahrgang 1953, trug als Fussballerin den Spitznamen «La Montagna Bionda» (der blonde Berg). Noch heute, beim Gespräch im Bahnhofbuffet von Sierre, ist sie eine sehr sportliche Erscheinung. Auf die Frage, wann sie mit dem Fussballspielen begonnen habe, zuckt sie nur mit den Schultern: «Ich spiele, seit ich mich erinnern kann. Ich habe ein Foto, da bin ich zwei Jahre alt, mit einem Fussball in den Händen und einem grossen Lachen im Gesicht.» Weibliche Vorbilder gab es für Boll noch nicht: «Ich habe vorher niemals eine Frau spielen sehen. 1965 gab es einige Mädchen in der Deutschschweiz, aber hier war ich immer alleine mit den Jungen.» In den Statuten des Schweizerischen Fussballverbands (SFV) stand, dass nur Männer und Knaben an der Sportart teilnehmen durften. Fussball sei für den weiblichen Körper schädlich, die Frauen und Mädchen in der Leichtathletik oder der Gymnastik besser aufgehoben. Im Wallis schaute glücklicherweise niemand so genau hin. «Ich liebte das Fussballspielen, also liessen mich meine Eltern Fussball spielen. So einfach war das. Die Jungen spielten gern mit mir, weil ich gut war. Natürlich dachten die Leute bei sich, an mir sei ein Junge verloren gegangen – aber sie akzeptierten es.»

Ihr Schulkollege Gilbert trainierte beim FC Sion, das wollte Boll auch. Also nahm Gilbert sie mit. Der Trainer war einverstanden, dass sie als einziges Mädchen mittrainierte. Was noch fehlte: die Lizenz des SFV, um an Klubspielen teilnehmen zu dürfen. Der Antrag wurde gestellt – und als erster weiblicher Person wurde ihr die Lizenz erteilt. Am 15. September 1965 schlug der FC Sion Galatasaray Istanbul mit 5:1 im Europacup. Ein grosser Tag der Schweizer Fussballgeschichte, fürwahr, aber eben auch deswegen, weil im Vorspiel des Sion-Nachwuchses die zwölfjährige Madeleine Boll vor internationaler Presse spielte. Die Schlagzeilen gingen um die Welt. Doch das Glück war nur von kurzer Dauer, denn der SFV machte einen Rückzieher: Es sei ein Fehler gewesen, dass man dem Mädchen die Lizenz überhaupt erst ausgestellt habe. Man habe nicht bemerkt, dass es sich um ein Mädchen handle. «Mit zwölf Jahren hat man mir das Fussballspielen verboten. Für mich eine immense Ungerechtigkeit! Mein Vater hat dem SFV geschrieben, ich sei körperlich sehr wohl in der Lage, den Sport auszuüben. Doch genützt hat es nicht», erinnert sich Boll. Und weiter: «Hier hätte meine Geschichte zu Ende sein können, doch ‹Bol› heisst im Französischen ‹Glück›, und Glück habe ich stets gehabt.»

Boll erhielt die Möglichkeit, während dreier Jahre mit den Knaben einer Schulmannschaft aus Lausanne zu spielen. «Jeden Mittwoch fuhr ich nach der Schule allein zum Training. Erst 1966 oder 67 musste ich aufhören, da zur gleichen Zeit jeweils der obligatorische Hauswirtschaftskurs für Mädchen stattfand.» Während die Jungen weiter Fussball spielten, lernte Boll mit den anderen Mädchen, wie man näht und bügelt. Der erste Frauenfussballmatch in Granges fand 1968 statt – organisiert von Bolls Vater. Was der Unterhaltung der anwesenden 2000 Personen dienen sollte, führte dazu, dass der erste Frauenfussballclub des Kantons Wallis gegründet wurde – auf Initiative dreier Mädchen, die im Gegensatz zu Boll zuvor nicht das Glück gehabt hatten, spielen zu dürfen. Sie wandten sich an Boll. Und ihr Vater erklärte sich bereit, die weibliche Sektion des FC Sion zu gründen.

Und das war nur der Anfang. Als die neue Frauenbewegung 1968 Fahrt aufnahm, schossen überall Frauenfussballclubs aus dem Boden. Boll meint: «Ich war fünfzehn Jahre alt, liebte meinen Sport, war Schülerin. Das Leben verlief gut.» 1969 wurde sie für einen Club in Mailand angeworben, 1970 war sie Spielerin der neu ins Leben gerufenen Nationalmannschaft der Frauen. Die 68er hätten sicherlich bewirkt, dass sich der Geist öffnete und man anerkannte, dass auch Frauen Dinge tun könnten, die vorher den Männern vorbehalten gewesen wären, meint Boll. Das sei nicht immer so gewesen. «Meine Mutter hatte es sehr viel schwerer. Sie waren sechs Kinder, drei Mädchen, drei Jungen. Die Jungen durften Ski fahren, die Mädchen nicht. Das hat sie nie verstanden. Später hat es sie dann geärgert, kein Stimmrecht zu haben. Ich weiss noch, dass sie, als sie es dann endlich durfte, ihr Couvert immer selber in die Urne legen wollte.» Boll hingegen habe ein wohlgesonnenes Umfeld gehabt: Gilbert, der sie mitnahm. Der Trainer, der sie spielen liess. Ihre Eltern, die ihr das Spielen erlaubten. Eine Nonne, selber eine Sportlerin, die in der Handelsschule die Verfügung unterzeichnete, dass sie am Montag jeweils etwas später kommen durfte. Sie alle hätten dazu beigetragen, dass ihre ausserordentliche Fussballkarriere stattfinden konnte.

Adorno für Ruinenmädchen

«Die Welt verbessern» heisst die so noble wie vage Devise, der man in der Erinnerungsliteratur auch der Schweizer Achtundsechziger unablässig begegnet – was variiert, sind die Formeln zur Umsetzung. Man fühlte sich in einer Pseudo­gemeinschaft gefangen, erinnert sich der deutsche Soziologe Heinz Bude in seinem Buch «Adorno für Ruinenkinder»4, beherrscht von der Angst vor der Differenz der Klassen, Generationen und Geschlechter. In der Folge machten Frauen oft die Erfahrung, in sozialistischen Organisationen ebenso wie im normalen Leben allein aufgrund von Anpassung anerkannt zu werden. Die zusätzlichen Einschränkungen, die man als weiblicher Bürger, als Schülerin, Berufstätige oder Ehefrau erfuhr, verliehen den Achtundsechzigerinnen zweifellos ein ganz eigenes psychologisches Momentum; dennoch sind Verallgemeinerungen problematisch. Schnell geht in der Rückschau vergessen, dass auch und gerade in der Schweiz die 68er-Bewegung innerhalb eines Bevölkerungsgros, das die politischen Ereignisse dieser Zeit kaum ernsthaft berührten, eine recht kleine Gruppierung darstellte. So divers, wie sich diese Gruppe unter einer soziopsychologischen Lupe präsentiert, so individuell sind die Wege, die ihre weiblichen Mitglieder einschlugen. Ihre Geschichten demonstrieren, was man als Pioniere gemeinsam innerhalb einer Gesellschaft erreichen kann, aber eben auch: als Einzelne. Es bedeutete auch oft genug: alleine dastehen. Sei es als einziges Mädchen auf dem Fussballfeld oder wie Elisabeth Kopp, die sich für die Einführung des Gleichberechtigungsartikels und des partnerschaftlichen Eherechts einsetzte: «In den Exekutivämtern war ich überall die erste und einzige Frau. Nichts hätte ich mir damals mehr gewünscht als eine Kollegin.»5

Eine Bilanz

Heute sind die grossen Solidaritätswellen vorbei. Doch was hat sich in den fünfzig Jahren verändert? «Strukturell haben wir sehr viel erreicht», merkt Heidi Witzig an. Nur erstaune es sie immer wieder, welch langes Leben gesellschaftliche Bilder hätten. «Frauen- und Männerbilder sind auch heute noch ungemein konservativ. Und wenn sich jemand gegen diese Bilder, die ja dann auch Realitäten sind, wehren möchte, dann eckt er ganz schön an.» Der Frauen- und Männeranteil sei also noch immer ein Indikator für Macht: sie sitzt dort, wo der Frauenanteil minimal ist. Bestes Beispiel: Bern.

Die Frage, warum Frauen trotz politischer Gleichberechtigung weiterhin eine eklatante Minderheit bilden, beschäftigt Elisabeth Kopp schon seit ihren ersten Schritten in der Politik. Ihrer Einschätzung nach liegt es nicht nur am Mangel an familienfreundlichen Arbeitszeiten oder finanzierbarer Kinderbetreuung, sondern vor allem an versteckten Vorurteilen und konfligierenden Erwartungen: Attribute wie Durchsetzungsfähigkeit und Entscheidungskraft werden an Männern geschätzt, an Frauen argwöhnisch beäugt. Politische Mitarbeit, gibt sie zu bedenken, sei ohnehin oft mühsam und undankbar. Ein engagiertes Leben nach dem Motto «Handeln statt Reden» hat seinen Preis. Auch die ehemalige Gewerkschaftschefin kennt ihn: man hat kaum Zeit für sich, muss auf vieles verzichten. Heidi Witzig, Madeleine Boll, Doris Schüepp: alle mussten die Erfahrung machen, aufgrund ihres Geschlechts zuweilen ungerecht behandelt oder gehässig angegriffen zu werden. Sie sind sich aber auch einig: Es sei sehr viel passiert in diesen fünfzig Jahren, gesellschaftlich und auf gesetzlicher Ebene – zurücklehnen dürfe man sich dennoch nicht. Immerhin, und das darf ermutigen: Ob im Beruf, in der Politik oder auf dem Fussballfeld: ganz alleine stehen Frauen heute nur noch selten da.


 

1 Rede von Andrée Valentin an der 75-Jahr-Feier des Zürcher Frauenstimm­rechtsvereins. In: Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz. Hrsg. von Elisabeth Joris und Heidi Witzig. Vierte und aktualisierte Auflage. Zürich: Limmat, 2001, S. 536–537.
2
Gretchen Dutschke: 1968. Worauf wir stolz sein dürfen. Hamburg: kursbuch.edition, 2018, S. 185.
3
Elisabeth Joris und Heidi Witzig (Hrsg.): Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz. Vierte und aktualisierte Auflage. Zürich: Limmat, 2001.
4
Heinz Bude: Adorno für Ruinenkinder. München: Hanser Literaturverlage, 2018, S. 51.
5
Elisabeth Kopp in ihrem Vortrag im Zunfthaus zur Waag am 2. März 2018, zu dem wir freundlicherweise eingeladen wurden.

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