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Dichte ohne Stress
Daniel Jung, fotografiert von Sarah Amstad.

Dichte ohne Stress

Die Schweiz dürfte bis 2040 auf zehn Millionen Einwohner wachsen. Damit sie eines der lebenswertesten Länder der Welt bleibt, müssen die Weichen jetzt gestellt werden.

2014 haben die Schweizer Stimmbürger die SVP-Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» angenommen. Sie verlangte, dass die Schweiz ihre Zuwanderung wieder selber steuert. Bekanntermassen wurde das Anliegen nur eingeschränkt umgesetzt. Sechs Jahre später wurde dagegen die Begrenzungsinitiative abgelehnt, welche die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union beenden wollte. Es kollidiert also ein verbreitetes Unbehagen bezüglich Zuwanderung und Bevölkerungswachstums mit dem Wunsch, am EU-Binnenmarkt und am freien Personenverkehr mit der EU festzuhalten.

Bereits lange vor der Personenfreizügigkeit mit der EU, die ab 2002 eingeführt wurde, war die Schweizer Bevölkerung auf dem Wachstumspfad (siehe Grafik 1). Viele Saisonniers wanderten dauerhaft in die Schweiz ein, was das Land auch kulturell bereicherte. Zuletzt einen Rückgang der Bevölkerung gab es in den späten 1970er-Jahren infolge der Ölkrise. Damals sorgte eine Rezession dafür, dass viele ausländische Arbeitskräfte das Land wieder verliessen. Die Wirtschaft ist bis heute der stärkste Treiber der Zuwanderung.

Die Bevölkerung der Schweiz hat sich seit 1945 verdoppelt: Sie wuchs von 4,39 Millionen auf 8,77 Millionen (per 30. Juni 2022). In den letzten 20 Jahren mit Personenfreizügigkeit ist die Wohnbevölkerung um rund 21 Prozent gestiegen. Zwar gibt es in der Schweiz weiterhin auch einen Geburtenüberschuss, stärker beeinflusst wird die Entwicklung aber vom Wanderungssaldo. In den Jahren 2020 und 2021, die von der Coronapandemie geprägt waren, wuchs die Bevölkerung jeweils um rund 65 000 Personen. Auch für das Jahr 2022 zeichnet sich wieder eine deutliche Zunahme ab: Die Nettozuwanderung dürfte erneut über 60 000 Personen betragen. Ausser in Luxemburg ist die Zuwanderung in keinem anderen europäischen Land so stark wie in der Schweiz.

Drei Szenarien des Bundes

In den «Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz und der Kantone» für die Zeit bis 2050 hat das Bundesamt für Statistik (BFS) im November 2020 drei mögliche Entwicklungen skizziert. Im mittleren «Referenzszenario», das auf einer Fortsetzung der Entwicklungen der letzten Jahre beruht, steigt die Wohnbevölkerung bis 2030 auf 9,4 Millionen und liegt im Jahr 2040 erstmals über 10 Millionen. 2050 erreicht sie 10,4 Millionen (siehe Grafik 2).

Dass die Schweiz bald die 10-Millionen-Marke knacken dürfte, wurde schon vor 50 Jahren diskutiert – und damals mit dem St. Galler Professor und HSG-Rektor Francesco Kneschaurek in Verbindung gebracht, obwohl er diese Prognose selber nicht vertrat. Von 1968 bis 1973 leitete er als Beauftragter des Bundesrates die Studien zur Entwicklung der schweizerischen Volkswirtschaft. Die «Kneschaurek-Berichte» arbeiteten bereits mit Bedingungen und Szenarien und sorgten für kontroverse Diskussionen. In seinen 1974 publizierten, umfangreichen «Perspektivstudien» rechnete Kneschaurek für die Jahrtausendwende mit 7 bis 7,1 Millionen Einwohnern – und traf damit die Realität (7,2 Millionen) erstaunlich genau.

Streitthema Zuwanderung

Aufgrund des starken Bevölkerungswachstums bleibt die Frage der Zuwanderung in der Schweizer Politik ein heisses Eisen. So arbeitet die SVP an einer «Nachhaltigkeitsinitiative», die das Bevölkerungswachstum eindämmen will. Die Überschreitung vordefinierter Schwellen soll zu automatischen Konsequenzen führen: So müsste die Schweiz etwa bei Erreichen von 10 Millionen Einwohnern die Personenfreizügigkeit mit der EU kündigen.

Auch andernorts wird diskutiert, dass ein schnelles Bevölkerungswachstum zu Problemen führt. Die NZZ schrieb kürzlich: «Ob Lehrkräfte oder Strom: Die Ressourcen müssen auf immer mehr Köpfe verteilt werden. Auf der Autobahn, in den Schulen, in den Seebädern – überall wird es eng.»

Die Liste der Probleme, die mit dem Bevölkerungswachstum in Verbindung gebracht werden, ist lang: Kulturland wird überbaut und die Landschaft wird zersiedelt. Die hohen Immobilienpreise belasten die Budgets, städtische Wohnungen sind schwer zu finden. Die Züge sind voll und die Strassen überlastet. Spitäler und Heime müssen erweitert, die Nahrungsmittelversorgung und die Stromproduktion gesteigert werden. Es braucht mehr Trinkwasser und es entsteht mehr Müll. Zu Recht weist etwa Ökonom Reiner Eichenberger darauf hin, dass nicht das Bruttoinlandsprodukt insgesamt, sondern die Wirtschaftsleistung pro Kopf zu betrachten sei, wenn man die Wohlstandseffekte einer politischen Massnahme untersuche – und dass auch nichtmonetäre Effekte Auswirkungen auf die Lebensqualität haben können.

Insgesamt ist die wirtschaftliche Bilanz der letzten zwanzig Jahre mit Personenfreizügigkeit aber nicht unansehnlich. In den 1990er-Jahren wies die Schweiz im Vergleich zu den Nachbarländern ein eher tiefes Wirtschaftswachstum auf. Seit 2002 ist das BIP pro Kopf gewachsen, nicht rauschend, aber beständig, von 65 734 Franken auf 84 055 Franken im Jahr 2021, im Schnitt um 1,2 Prozent pro Jahr (siehe Grafik 3).

Zuwanderer, die aus dem Schengenraum in die Schweiz kommen, sind im Schnitt besser qualifiziert als die inländischen Erwerbstätigen. Dabei hat die Personenfreizügigkeit nicht dazu geführt, dass die Reallöhne in der Schweiz sinken.

Im September 2022 lag die Arbeitslosenquote in der Schweiz bei 1,9 Prozent – tiefer war der Wert zuletzt im Oktober 2001. Aktuell haben Schweizer Unternehmen grosse Mühe, Fachkräfte zu finden. Gesucht sind etwa Ingenieure, Ärztinnen, Lehrer und Kellnerinnen. Eine Verdrängung inländischer Arbeitskräfte durch Ausländer hat trotz hoher Zuwanderung kaum stattgefunden. Die Wirtschaft braucht weiterhin Arbeitskräfte – auch aus dem Ausland.

Und dennoch ist klar: Das starke Bevölkerungswachstum hat die Schweiz verändert. Sie wurde internationaler, reicher, vernetzter, aber auch lauter, teurer, enger. Damit die negativen Effekte der Zuwanderung nicht überhandnehmen, gilt es jetzt wichtige Weichen richtig zu stellen.

Oft ist die Dichte ein Teil der Lebensqualität: Die Freiburger Fans feiern den Sieg ihrer Mannschaft, nach dem Eishockeyspiel zwischen dem HC Fribourg Gottéron und Lausanne HC vom 15. Oktober 2022 in der BCF Arena in Fribourg. Bild: Peter Klaunzer/Keystone.

Es gibt mehr Verkehr

Mit einer Bevölkerungszunahme wird der Mobilitätsbedarf weiterwachsen. Kapazitätserweiterungen sowohl auf der Strasse wie auch auf der Schiene sind nötig, um eine weitere Zunahme von Staus rund um die grossen Agglomerationen zu verhindern und zu vermeiden, dass überlastete Züge zum Normalzustand werden.

Gewisse Entwicklungen erlauben es, die bestehende Infrastruktur besser auszulasten: Aufgrund von flexibleren Arbeitsorten und der Zunahme von Homeoffice kann die morgendliche Verkehrsspitze etwas gebrochen werden. Weil der Freizeitverkehr relativ zum Arbeitsweg zunimmt, kann das Verkehrsaufkommen zeitlich besser gestaffelt werden.

Im Strassenverkehr ermöglichen technische Hilfsmittel wie Tempomaten und Spurassistenten einen leicht dichteren Verkehr, ohne dass die Sicherheit leidet. Inwiefern autonome Fahrzeuge dies bald noch verstärken, ist aktuell noch unklar. Sollten selbstfahrende Taxis jedoch den Durchbruch schaffen, könnte etwa der für Parkplätze benötigte Raum reduziert werden.

Letztlich sind im Verkehrsbereich weiterhin auch grosse Infrastrukturprojekte nötig – Strassen, Tunnels, neue Gleise –, damit die Bewohnerinnen und Bewohner sowie Güter auch künftig rasch, sicher und bequem ans Ziel kommen. Dabei hat auch die Strasse grosses Potenzial für neue Entwicklungen im Individualverkehr und Transport. Je weniger externe Effekte die Autos verursachen, desto schlechter lassen sich umfangreiche Subventionen für den öV rechtfertigen.

Differenz zwischen Stadt und Land

In der Raumplanung wurden in den letzten Jahren bereits einige Erfolge erzielt. Die innere Verdichtung ist an vielen Orten sichtbar, der Siedlungsraum wird vielerorts städtischer. In den Zentren entstehen höhere Häuser, in kleineren Gemeinden ersetzen moderne Mehrfamilienhäuser Einfamiliengebäude. Gemäss der letzten entsprechenden Untersuchung des BFS, der sogenannten «Arealstatistik», ist die Siedlungsfläche in der Schweiz zwar weitergewachsen, stärker zugenommen hat jedoch die Anzahl der «Raumnutzer». Die Schweiz wurde in den letzten Jahren tatsächlich dichter.

Eine klarere Unterscheidung zwischen dem urbanen und dem ländlichen Raum ist wichtig, weil so die prächtigen Natur- und Landwirtschaftsflächen der Schweiz erhalten werden können. Oft ist die Dichte – bessere Einkaufsmöglichkeiten, neue Treffpunkte, Begegnungen auf der Strasse – ein Teil der Lebensqualität. Auch bleibt durch eine klare Unterscheidung das weniger dichte Landleben erhalten – als wählbare Alternative zur Urbanität.

Gegen die Energiearmut

Inzwischen breit akzeptiert ist, dass die Schweiz ihre Stromproduktion in den nächsten Jahren deutlich ausbauen muss. Die Elektrifizierung von Autos, die neu verbauten Wärmepumpen, die fortschreitende Digitalisierung und das Bevölkerungswachstum verlangen nach deutlich mehr Strom als bisher. Die aktuelle Energiekrise macht dabei klar, dass ein Grossteil dieser Kapazitäten in der Schweiz aufgebaut werden muss. Dabei sollte grundsätzlich technologieoffen vorgegangen werden. Ein Zubau von Solarenergie ist durchaus sinnvoll, wenn sie mit steuerbaren Produktionsformen – etwa Atomenergie oder im Sommer erzeugtem Wasserstoff – ergänzt werden kann. Weil ein grosser Teil des Wohlstands von der Verfügbarkeit von Energie abhängt, ist der Ausbau der Kapazitäten unabdingbar.

Die Schweiz hat heute eine gute Infrastruktur vorzuweisen. Sie ist stark darin, diese zu unterhalten und an neue Bedürfnisse anzupassen. Es ist nicht notwendig, einen höheren Wolkenkratzer zu bauen als der Burj Khalifa in Dubai. Verzichten kann die Schweiz auch auf eine 170 Kilometer lange Bandstadt durch die Alpen – wie sie Saudi-Arabien mit «The Line» vorhat. Jedoch braucht die Schweiz neue Kraftwerke, starke Datenleitungen und Mobilnetze, zusätzliche Strassen, dichtere Agglomerationen, mehr Kapazität im öV und vielleicht auch ein unterirdisches Netz für den Gütertransport. Das alles liegt im Rahmen der Möglichkeiten. Es braucht vor allem Mut, die Zukunft anzupacken.

Die Demografie verändert sich

Langfristig dürfte sich die Bevölkerungsdiskussion aus demografischen Gründen in vielen westlichen Ländern tiefgreifend wandeln. In der Schweiz wird der Anteil der Personen über 65 Jahre deutlich zunehmen. Gemäss Referenzszenario des BFS werden 2050 bereits 46,5 Senioren über 65 Jahren 100 Menschen zwischen 20 und 64 gegenüberstehen, während es heute rund 31 sind.

Man muss nicht so weit gehen wie Elon Musk, der kürzlich twitterte, dass der Kollaps der Bevölkerung aufgrund niedriger Geburtenraten ein viel grösseres Risiko für die Zivilisation darstelle als die globale Erwärmung. Jedoch geht auch die UNO im Bericht «World Population Prospects 2022» davon aus, dass die Weltbevölkerung um das Jahr 2080 ihren bisherigen Höhepunkt erreichen wird mit 10,4 Milliarden Menschen.

Natürlich sind diese Prognosen unsicher. Jedoch dürfte sich in Europa der Kampf um kluge Köpfe und Fachkräfte in den nächsten Jahrzehnten verschärfen, dagegen der Druck des Bevölkerungswachstums entschärfen. Dass sich die Schweizer Bevölkerung nach dem Erreichen der 10 Millionen nochmals auf 20 Millionen verdoppeln wird, erscheint eher unwahrscheinlich – aber nicht unmöglich.

«Der Kampf um kluge Köpfe und Fachkräfte dürfte sich in Europa in den nächsten Jahrzehnten verschärfen, dagegen der Druck des Bevölkerungswachstums entschärfen.»

Denn letztlich gibt es in der Schweiz vorerst keine klar erkennbaren «Grenzen des Wachstums». Wenn sich das Land selber Regeln gibt für die weitere Entwicklung, dabei klar unterscheidet zwischen dichten, städtischen Gebieten und grünen Landschaftsräumen, dann wird die 10-Millionen-Schweiz für ihre Einwohner ein schönes Land bleiben, das Sicherheit, Wohlstand, Freiheit und die Möglichkeiten für ein erfüllendes Leben bietet.

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