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Deutschland-Schweiz: Blockierte Nachbarn

«Warum wissen wir so viel und tun doch so wenig?» Zusammen mit dem Schweizer Think Tank Avenir Suisse arbeitet das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv an einer Studie zum Thema «Deutschland-Schweiz: Blockierte Nachbarn». Sie analysiert die Ursachen der Reformblockade in Deutschland und in der Schweiz und zeigt Wege zu deren Überwindung auf.

Die frühere Wirtschaftslokomotive Deutsch-land und das einst reichste Land unter den westlichen Industriestaaten, die Schweiz, sind in Europa inzwischen wirtschaftlich zu Bremserwagen geworden. Wirtschaftspolitische Massnahmenkataloge von Experten und Fachgremien, die aufzeigen, wie diese ungünstigen Entwicklungen aufgehalten werden könnten, liegen seit Jahren auf dem Tisch. Trotzdem hält der negative Trend bei der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit weiter an. Weshalb werden Reformen nicht an die Hand genommen? Weshalb werden Reformen nicht umgesetzt? Dass die Reformen in Richtung «Mehr Wettbewerb, mehr Effizienz, mehr Wachstum» gehen müssen, stützt sich – vor allem unter Ökonomen – auf einen breiten Konsens. Trotzdem sind die Widerstände stark.

Für die Reformblockade stehen drei Erklärungen im Vordergrund: Erstens wird ökonomischer Rat nicht gehört, weil er oft als irrelevant erscheint, unverständlich formuliert ist und vielstimmig kommuniziert wird – etwa nach dem Motto: zwei Ökonomen, drei Meinungen. Zweitens wird generell die Tauglichkeit dieses Rats bezweifelt, weil den Fachleuten fehlende Kompetenz vorgeworfen und der Erfolg der Reformprojekte bezweifelt wird. Nicht selten sind die guten Vorschläge der Sachverständigen rechtlich ohne Gesetzesänderungen gar nicht umsetzbar. Drittens gibt es bei jedem Reformvorschlag partikulare Interessengruppen, die sich gegen Änderungen wehren, weil sie von Neuerungen negativ betroffen sind.

In unserer Studie konzentrieren wir uns auf die Analyse des politisch-ökonomischen Spannungsverhältnisses, das Reformen entweder ausschaltet oder eben entzündet. Wer sind die Spieler im politisch-ökonomischen Gefüge, und welchen Spielregeln folgen sie? Wer setzt und ändert Spielregeln, und welche Kräfte müssen zusammenwirken, damit es zu Änderungen kommt – auch gegen die Absicht einzelner mächtiger Akteure? Die zentrale Frage lautet: Wie verhilft man Reformen zum Durchbruch?

Politische Ökonomik der Reform

Die Ökonomik der Reform sucht nach der Mechanik von institutionellen Veränderungen. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um eine polit-ökonomische Blockade zu durchbrechen, einen Reformprozess durchzusetzen und einen mehr oder weniger weit gehenden Wandel der Rahmenbedingungen zu ermöglichen? Welche Mechanismen stehen in der Schweiz und in Deutschland hinter dem status quo, den wir als politisches Gleichgewicht erkennen und als Reformblockade empfinden? Die Ausgangsbasis für eine vertiefte polit-ökonomische Analyse von Reformen findet sich in mehreren gut fundierten wissenschaftlichen Argumentationslinien.

Die Neue Politische Ökonomie (Bruno S. Frey, Guy Kirsch) sieht auch den Politiker als «homo oeconomicus», der rational handelt und zuerst an seinen eigenen Nutzen denkt, beispielsweise an die Chancen seiner Wiederwahl. Die Ökonomik der Politik (Alberto Alesina, Allan Drazen, Torsten Persson und Guido Tabellini) erklärt, wie im polit-ökonomischen Zusammenspiel verschiedener Akteure politische Entscheidungen zustande kommen. Die (Neue) Institutionenökonomie (Douglass North, Mancur Olson, Stefan Voigt) zeigt, welche Institutionen das Entstehen von Reformen unterstützen. Schliesslich liefert die Ökonomik der Transformation (Mathias Dewatripont, Gérard Roland) ein weites Feld empirischer Fallbeispiele aus den Erfahrungen der ehemals sozialistischen Länder Osteuropas auf ihrem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft.

Deutschland und die Schweiz als wirtschaftlich eng verflochtene Nachbarn haben trotz ähnlich gelagerten Problemen beim Reformprozess unterschiedliche Hindernisse zu überwinden. Im Zentrum stehen zwei Fragen: Wie können die Gegebenheiten optimal ausgenutzt werden? Welche Anreiz- und Sanktionsmechanismen könnten Politiker zu Reformen animieren?

Ein erster Bremsfaktor gegenüber Reformen beruht darauf, dass die Betroffenheit asymmetrisch ist. Wenige sind von Reformen stark und viele sind davon schwach betroffen. Ein typisches Beispiel hierfür liefert der Agrarprotektionismus. Alle Konsumierenden würden zwar von der Marktöffnung profitieren, doch ist die Auswirkung auf das Haushaltbudget offenbar doch nicht intensiv genug, um ein politisches Gegengewicht zu den vital betroffenen Landwirten zu bilden, die aktiv für die Strukturerhaltung kämpfen und Reformen verhindern.

Ein zweiter Faktor, der gegen Reformen wirkt, liegt in der Informationsasymmetrie. Wer weiss schon wirklich, wie sich eine Reform auswirkt, welche Vor- und Nachteile sie für die Wirtschaft insgesamt hat und welche Effekte für die einzelnen Menschen damit verbunden sind? Die Unsicherheit über wenig bekannte Reformfolgen führt dazu, dass die breite Öffentlichkeit eine starke Präferenz für den status quo hat. Die Menschen bekämpfen Reformprozesse selbst dann, wenn ihnen die Vorteile von Veränderungen überzeugend dargelegt werden.

Schliesslich folgen, drittens, Reformzyklen einer völlig anderen, nämlich weit längeren Periode als Wahlzyklen. Bis Reformen greifen und die Vorteile sichtbar werden, dauert es Jahre, nicht Monate. Abgeordnete müssen sich jedoch alle vier oder fünf Jahre zur Wahl stellen. Sie haben oft nicht die Zeit zu warten, bis strukturelle Reformen wirksam werden. Sie müssen raschere Erfolge vorweisen, um ihre Wählerschaft von ihren Qualitäten zu überzeugen. Fälschlicherweise – und in der Regel gegen die eigenen Interessen – wird in Wahlen «die sichtbare Hand der Politik», die kurzfristig eingreift, die hier einem Notleidenden hilft und dort einem Zukurzgekommenen gibt, eher belohnt als «die unsichtbare Hand des Marktes». Wie lassen sich die Hände der Politiker binden? Welche Mechanismen sorgen dafür, dass sich langfristiges Handeln effektiv lohnt? Wie lässt sich die Öffentlichkeit dafür mobilisieren, für ihre tatsächlichen Interessen zu kämpfen?

Von anderen Ländern lernen

Für Politiker sind Reformen riskant. Sie setzen ihre Wiederwahl aufs Spiel. Deshalb zaudern Politiker. Umso mehr, als eine win-win-situation bei der Durchführung von Reformen in der Regel kurzfristig nicht möglich ist. Reformen, bei denen alle Bevölkerungsgruppen, und das Land insgesamt, bereits kurzfristig Vorteile haben, sind sehr unwahrscheinlich und haben daher als Kriterium der Wiederwahl wenig Gewicht. Trotzdem gibt es einige Länder, die teilweise sehr weitreichende Reformen umgesetzt haben. Nicht jede Reform war erfolgreich. Nicht alle waren nachhaltig. Einige blieben stecken. Andere wurden gekippt und umgekehrt. Aber auch aus Fehlern und Misserfolgen lässt sich bekanntlich lernen.

Wir haben die Reformerfahrungen verschiedener Industrieländer (Dänemark, Finnland, Grossbritannien, Neuseeland, Niederlande, Schweden) untersucht, die in den letzten Jahren (strukturelle) Reformen zustandegebracht haben. Es stellt sich die Frage, was Deutschland und die Schweiz in Bezug auf Reformmechanismen von anderen Ländern lernen können. Dabei ist klar, dass sich innovative Strategien anderer Länder nicht kopieren lassen. Sie können aber dazu beitragen, das Problembewusstsein zu schärfen, «neuralgische Punkte» aufzuzeigen und festgefahrene Diskussionen und Routinen aufzubrechen. Aus der best practice-Analyse haben sich folgende politökonomischen Bedingungen und Faktoren für das Zustandekommen von Reformen als ausschlaggebend erwiesen:

• In allen betrachteten Ländern wurden Reformen vor dem Hintergrund ökonomischer bzw. politischer Krisensituationen angegangen. Krisen schaffen ein Gelegenheitsfenster, das für Reformen genutzt werden kann, weil Bevölkerungen sensibilisiert und für Veränderungen eher bereit sind. Es stellt sich die Frage, wann eine Krise als Krise wahrgenommen wird. Auslöser von Reformen waren in fast allen Ländern makroökonomische Ausnahmesituationen, wie etwa eine Verdoppelung der Arbeitslosenquote. Auch die Medien könnten in der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle spielen (Sputnik-Effekt).

• In den meisten Länderbeispielen waren die Reformen zudem mit einem herausragenden charismatischen Politiker verknüpft, bzw. mit einem visionären Reformteam, das sich im Kern aus Regierungsmitgliedern, Bürokraten, Unternehmern sowie Akteuren aus reformbefürwortenden Forschungseinrichtungen zusammensetzte.

• Die parteipolitische Entideologisierung spielte eine zentrale Rolle. Oft waren es sozialdemokratisch geführte Regierungen, die marktfreundliche Reformen lancierten und durchführten. Darin zeichnet sich ein opportunistisches Verhalten von Politikern ab, die auf eine strategische Delegation rationaler Wähler reagieren und auf die höhere Glaubwürdigkeit der notwendigen Reformmassnahmen abstellen, statt auf die parteipolitische Ausrichtung.

• Reformen können in einigen Ländern mit einem ausgeprägten Parteienkonsens erklärt werden, der sich in starker parlamentarischer Unterstützung und der Abwesenheit destruktiver Oppositionspolitik äussert. Parteipolitischer Konsens gewann vor allem im Zusammenhang mit Minderheitsregierungen an Bedeutung.

• Der politische Einfluss von Interessengruppen konnte im Reformprozess vor allem über den Weg einer Entpolitisierung von Gewerkschaften, Verbänden und Unternehmen zurückgedrängt werden. Das heisst: Reformregierungen scheuten den Konflikt mit den Verbänden nicht, hielten die Kritik aus und blieben bei ihrem Konzept. Fristen zur Stellungnahme von Verbänden wurden eng gesetzt, Anhörungen knapp gehalten. In einzelnen Fällen suchte die Regierung auch die Unterstützung der Opposition. Zum Teil gab es Konzessionen, um die Unterstützung relevanter Gruppen zu gewinnen. Dieses Vorgehen führte zu einer weitgehenden Absage sowohl an den Lobbyismus wie auch an die Konzertierung.

• Die Reformgeschwindigkeit ist abhängig von den jeweiligen politischen Institutionen und Verfahren. Die betrachteten Länder sind durch relativ wenige Vetokräfte gekennzeichnet. Das heisst, es gab wenige politische Systemmerkmale, die eine politische Blockade möglich erscheinen liessen. Die meisten Länder verfügten über ein Einkammer-System, waren zentralistisch organisiert und kannten keine ausgeprägte richterliche Normenkontrolle.

Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der Reihenfolge von Reformmassnahmen. Praktisch bewährt haben sich zunächst Liberalisierungen auf Dienstleistungs- und Produktemärkten, dann Reformen auf den Arbeitsmärkten und schliesslich Reformen im Bereich Sozialstaat. Vor allem nordische Staaten haben einen weit ausgebauten Sozialstaat aufrechterhalten und so Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt durchgebracht. Paketlösungen wurden zudem schneller umgesetzt als graduelle Lösungen.

Yvonne Heiniger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv HWWA. (yvonne.heiniger@hwwa.de)

Thomas Straubhaar ist Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. (thomas.straubhaar@hwwa.de)

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