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Deutschland ist auf dem Weg zum «kranken Mann» nicht nur in Europa, sondern in der Welt zu werden
Wolfgang Schäuble. Bild: Fokussiert Fotografie.

Deutschland ist auf dem Weg zum «kranken Mann» nicht nur in Europa, sondern in der Welt zu werden

Eine Nachkriegsgeneration, der es zu lange zu gut geht. Ein Deutschland im wirtschaftlichen Niedergang. Ein abnehmendes Leistungsniveau an der Schule. Doch es bleibt die Hoffnung.

Ein ehemaliger Finanzminister grübelt noch immer darüber, wie man verhindern könnte, dass entfesselte globale Finanzmärkte völlig ausser Kontrolle geraten. Wohin man auch schaut – Übertreibung bis zur Perversion in jede Richtung. «Nichts im Übermass», «Gnothi seauton», steht seit rund zweieinhalbtausend Jahren am Apollotempel zu Delphi geschrieben. Orakel und Menetekel zugleich.

Im Freiburger Kreis, einer aus Anlass der Novemberprogrome 1938 entstandenen oppositionellen Gesprächsrunde von ordoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern, Juristen, engagierten Christen beider Konfessionen suchte man aus der Erfahrung mit der Perversion der totalitären Ideologien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine dem Menschen gemässe wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung und entwickelte daraus die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft.

Übrigens braucht jede freiheitliche politische Ordnung als Stabilitätsgrundlage auch Zugehörigkeit, Identität. Ohne die wird das Mehrheitsprinzip nicht akzeptiert. «One man, one vote» ist als Grundlage einer gewaltfreien globalen Ordnung nicht einmal ein Traum, zumal man weiss, dass das Mehrheitsprinzip allein keine Grundlage für eine stabile Freiheitsordnung ist, schon weil es auf die Rechte Einzelner oder Minderheiten keine Rücksicht nimmt. Deshalb ist das Föderale, das subsidiäre Bauprinzip für eine freiheitliche Ordnung dem zentralistischen Ansatz überlegen. Aber auch das kann man durch Übertreibung zerstören, wie der Zustand unserer bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland wie unserer kommunalen Selbstverwaltung derzeit eindringlich beweist.

Und das führt schon zum nächsten Dilemma menschlicher Ordnung. Schutz von Leben und Menschenwürde für jeden Flüchtling und gleichzeitig auch Bewahrung von Aufnahmebereitschaft, Toleranz und Bekämpfung von ausländerfeindlichen Ressentiments – damit plagt sich deutsche und europäische Asyl- und Migrationspolitik seit fast einem halben Jahrhundert noch immer ohne wirklich überzeugendes Ergebnis herum.

«Begreifst du aber wie unendlich leichter andächtig Schwärmen als gut Handeln ist», sagte Lessings Nathan zu seiner Tochter. Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik, Max Weber lässt grüssen, und in Zeiten von Putins Überfall auf die Ukraine muss selbst die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Position zum Pazifismus überdenken.

Wenn die Stärke der sozialen Marktwirtschaft darauf gründet, dass sie der Eigenart des Menschen gerecht wird, bleibt zum einen die Frage, wie sich das im globalen Wettbewerb behaupten kann. Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geissler meinte einst, dann müssen wir eben die soziale Marktwirtschaft weltweit einführen, konnte aber die Frage nach dem «wie» natürlich auch nicht überzeugend beantworten.

Demokratie, nationale Souveränität und globale ökonomische Integration – freier Wettbewerb und offene Grenzen –, das Rodrik-Trilemma besagt, dass man nur zwei der drei miteinander vereinbaren kann. Da die Sehnsucht nach der Geborgenheit in nationalem Zusammenhalt in Zeiten weltpolitischer Instabilität offenbar wächst, stösst die globale ökonomische Integration an zunehmend engere Grenzen.

Deutschland auf dem Weg zum kranken Mann der Weltwirtschaft

Und zum anderen will bedacht sein, wie Menschen und menschliche Gesellschaften sich entwickeln. «Schlaraffenland abgebrannt» lautet der Titel des eben erschienenen Buches von Michel Friedman, in dem er die von ihm gesehene, gesellschaftliche Angst vor der Zukunft beschreibt. Man muss seine Tonart nicht teilen. Aber der Befund, dass es unserer Nachkriegsgeneration zu lange zu gut ging, so dass wir im internationalen Vergleich zurückfallen, für den spricht viel. Die jüngsten Leichtathletikweltmeisterschaften waren wohl mehr als nur ein Symptom. Und wirtschaftlich sind sich inzwischen auch nahezu alle einig, dass wir wieder auf dem Weg zum «kranken Mann» nicht nur in Europa, sondern zunehmend auch in der Weltwirtschaft sind. Und dazu passt eben dann auch der Leistungsstand unserer Schüler. Neben allen unbestreitbaren sozialen und sonstigen Ursachen, die in vergleichbaren Ländern gewiss auch nicht völlig anders gegeben sind, ist schon bedrückend, dass in fast allen Stufen unseres Bildungssystems das kulturelle Basiswissen – Lesen, Schreiben, Rechnen – genau wie das Leistungsniveau in den MINT-Fächern eher mässig mit abnehmender Tendenz ist. Stattdessen gewinnen geringere Wochen- und Lebensarbeitszeit immer mehr Attraktivität. Und mit der Höhe unserer öffentlichen Sozialbudgets sinken Leistungsfähigkeit der Systeme wie Zufriedenheit der Leistungsempfänger fast im gleichen Tempo. Verkehrte Welt?!

Michael Sandel erzählt in seinem «Unbehagen in der Demokratie» nicht nur die immerwährende Auseinandersetzung in der amerikanischen Verfassungsgeschichte zwischen liberaler und republikanischer Freiheit, also der Freiheit, möglichst viel für sich selbst entscheiden zu können oder der Freiheit an gemeinsamen Entscheidungen einen möglichst grossen Anteil zu haben.

Und an dieser Erzählung hat mich besonders beeindruckt, wie sehr schon für die amerikanischen Gründungsväter und seitdem immer wieder die Inhalte von Bildung und Erziehung gerade auch in dieser Debatte wichtig waren, weil für den Zustand jeder Generation eben die vorangegangenen auch Verantwortung tragen. Es wird Zeit, dass wir Älteren heute auch darüber nachdenken.

«Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen» sagt der Volksmund. Ich habe gelegentlich spekuliert, wie lange es dauern würde, bis uns im sogenannten Schlaraffenland die sprichwörtlich gebratenen Tauben zum Hals heraushängen würden. Knappheit nur bestimmt den Wert, Überfluss zerstört. Grundlage jeder Ökonomie von Angebot und Nachfrage.

«Ich habe gelegentlich spekuliert, wie lange es dauern würde, bis uns im sogenannten Schlaraffenland die sprichwörtlich gebratenen Tauben zum Hals heraushängen würden. Knappheit nur bestimmt den Wert, Überfluss zerstört.»

Also ohne Grenzen und Regeln keine Freiheit. Ich habe in meinem Buch «Grenzerfahrungen – was wir aus Krisen lernen können» versucht dies auszuleuchten. Von Hans Maier, dem grossen alemannischen Politikwissenschaftler und bayerischen Kultusminister erinnere ich einen Beitrag in einer bildungspolitischen Bundestagsdebatte, dass man den Gänsen den Brotkorb höher hängen müsse, damit sie lernten die Hälse zu strecken. Erziehung heisst eben auch Fördern und Fordern.

Und damit sind wir auch bei der Finanzpolitik. Weil Geld, Währung am Ende materialisiertes, geronnenes Vertrauen ist, bleibt Geldwertstabilität kein Fetisch, sondern Grundlage einer leistungsfähigen Wirtschaftsordnung. Und deshalb sind Schuldenbremse oder schwarze Null nicht Ausdruck mangelnder Innovations- oder Gestaltungskraft, sondern im Gegenteil Grundlage für Nachhaltigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. 5 Prozent Inflation seien ihm lieber als 5 Prozent Arbeitslosigkeit, sagte der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt im Wahlkampf 1972. Da hat er nicht Recht behalten, weil eben die mangelnde Geldstabilität alsbald zu nachlassender Wirtschaftskraft und damit zu wachsender Arbeitslosigkeit führte.

Es bleibt die Hoffnung

Ich habe jetzt viel über unsere deutschen Probleme gesprochen. Aber darauf beziehen sich eben meine Erfahrungen und Einsichten; aber aus manchem lassen sich auch verallgemeinernde Schlussfolgerungen ziehen.

Die erste ist vielleicht – und damit nähere ich mich der Abteilung Hoffnung –, dass wir immer die jeweils aktuelle Krise für die schwerste halten und dabei übersehen, dass früher keineswegs alles besser gewesen ist. Grund zur Zuversicht besteht immer. Der amerikanische Botschafter in Bonn zur Zeit von Mauerfall und Wiedervereinigung, Vernon Walters, erzählte die Geschichte, wie er als Begleiter eines amerikanischen Generals 1945 durch eine der zerstörten Ruhrgebietsstädte fuhr und dieser ihn auf eine Blechdose mit Schnittblumen in der Fensterhöhle einer Ruine mit der Bemerkung hinwies «Dieses Volk wird nicht untergehen. Wer in einer solchen Ruinenlandschaft Blumen in eine Blechdose stellt, glaubt an die Zukunft».

Da sind wir schnell bei Karl Popper und seiner Lehre von der offenen Gesellschaft, die im Gegensatz zur totalitären Staatsform Fehler und Irrtümer korrigieren könne. Trial and Error. Dazu passt, dass in der chinesischen Sprache das Schriftzeichen für Chance und Krise identisch ist. Ein Problem unserer Wohlstandsgesellschaft ist, dass wir eigentlich gegen Veränderungen sind. Solange es uns geht, sollte alles am liebsten so bleiben, wie es ist. Weswegen das Wort «Reform» von Politikberatern für Wahlprogramme kaum noch empfohlen wird.

«Ein Problem unserer Wohlstandsgesellschaft ist, dass wir

eigentlich gegen Veränderungen sind. Solange es uns geht, sollte alles am liebsten so bleiben, wie es ist.»

Dieser Text ist ein Auszug aus der Rede, die Wolfgang Schäuble unter dem Titel «Die Zukunft der freiheitlichen Demokratie» am 24. Oktober 2023 in Zürich auf Einladung des UBS Center for Economics in Society gehalten hat.

Die Rede in voller Länge lesen Sie hier.

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