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Des Professors Blick auf das Unbehagliche

Jacob Burckhardts Werke in einer monumentalen Gesamtausgabe

Der grosse Basler Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, geboren 1818 in Basel, gestorben 1897 nach fast einem halbem Jahrhundert Forschungs- und Lehrtätigkeit ebenda, war der Inbegriff eines Basler Professors. So jedenfalls hat es sein Kollege Friedrich Nietzsche gesehen, der zusammen mit ihm, dem atheistischen Theologen Franz Overbeck und dem Mutterrechtsforscher Johann Jakob Bachofen jenes Quartett bildete, das Basel zu einem der geistigen Zentren des 19. Jahrhunderts gemacht hat.

Wahnsinnsbriefe Nietzsches

Unter Nietzsches Wahnsinnsbriefen finden sich zwei an Burckhardt, in denen Nietzsche seine Erinnerungen an ihn und das Leben eines Basler Professors beschwört und zugleich das Porträt zweier sehr verschiedener Charaktere malt. Der erste ist an den «verehrungswürdigen Jakob Burckhardt» adressiert, der sich gewundert haben wird, plötzlich von seinem 25 Jahre jüngeren Kollegen geduzt zu werden: «Nun sind Sie – bist du – unser grösster Lehrer: denn ich […] habe nur das goldne Gleichgewicht aller Dinge zu sein … Dionysos.» Mit dieser Rolle hätte sich Burckhardt zweifellos überfordert gesehen.

Bewegend in seiner verzweifelten Tragikomik, Nietzsches letzter Brief vom 6. Januar 1889, in dem er der von Burckhardt und Basel repräsentierten «alten Welt» ein Denkmal setzt; im Furor des Wahns lässt er dabei freilich jene Distanz völlig vermissen, die Burckhardt immer gewahrt hatte: «Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muss Opfer bringen, wie und wo man lebt. – […] Ich danke dem Himmel jeden Augenblick für die alte Welt, für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen sind. […] Lieber Herr Professor, […] Erwägen Sie, wir machen eine schöne schöne Plauderei, […] sehr ernste Berufspflichten fehlen vor der Hand, ein Glas Veltliner würde zu beschaffen sein. Negligé des Anzugs Anstandsbedingung. In herzlicher Liebe Ihr Nietzsche. […] Sie können von diesem Brief jeden Gebrauch machen, der mich in der Achtung der Basler nicht heruntersetzt. –» Der tief beunruhigte Burckhardt machte sich mit diesem Brief in der Hand sofort zu Nietzsches Freund Franz Overbeck auf, um die nötige Hilfe auf den Weg zu bringen. Von herabgesetzter Achtung konnte keine Rede sein, nur von Sorge und Betroffenheit.

Seit seiner Berufung nach Basel auf den Lehrstuhl für klassische Philologie hatte Nietzsche den Kontakt zu Jacob Burckhardt gesucht. Eine Freundschaft auf gleicher Ebene war das nicht, aber doch ein freundschaftlicher Umgang; auf Seiten Nietzsches, der seit dem frühen Tod seines Vaters stets auf Vatersuche war, von verehrungsvoll werbender Zuneigung bestimmt, auf Seiten Burckhardts von einem zurückhaltend bleibenden, aber fürsorglichen Interesse. Beide hatten als Pfarrerssöhne denselben Hintergrund, beide hatten mit dem Theologiestudium begonnen, es indes bald quittiert. Man kannte sich von der Universität und vom Unterricht am Pädagogium. In den Pausen gingen die beiden gottlosen Ex-Theologen gerne im Kreuzgang des Basler Münsters spazieren. Nietzsche besuchte unter anderem Burckhardts Kolleg «Über das Studium der Geschichte», Burckhardt wiederum Nietzsches Vortragsreihe «Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten». Gemeinsame Exkur­sionen und ein nie ganz abreissender Briefwechsel schlossen sich an.

Geistig verband beide das kritische Interesse an einem nicht mehr klassisch geglätteten Griechentum und an der Kultur der Renaissance, philosophisch die Nähe zu Schopenhauer, seinem Pessimismus und Anti-Modernismus, seiner Ablehnung des Fortschrittsdenkens, seiner Verachtung des Händlergeistes des Jahrhunderts. Der Impuls, die Kultur gegen die beiden anderen weltgeschichtlichen Mächte, die Religion und den Staat, auszuspielen, war Burckhardt wie Nietzsche gemein. Beide liebten die Musik. Doch hier trennten sich schon die Wege: Burckhardt hielt von Wagner nichts. Nietzsches vehemente Kritik am Historismus in der zweiten «Unzeitgemässen Betrachtung» musste einen grundgelehrten Historiker wie Burckhardt befremden. Brieflich zeigte er sich als Meister höflich-indirekter Distanzierung, die Nietzsche stets als Anerkennung missverstand. «Zeitlebens bin ich kein philosophischer Kopf gewesen. […] Im übrigen geht gar vieles (und ich fürchte das Vorzüglichste), was Sie schreiben, über meinen alten Kopf weit hinaus.»

Nietzsches Entfernung von Schopenhauer, sein zunehmender Immoralismus, seine Vergötzung des Willens und der Macht konnten Burckhardt vollends nicht mehr gefallen, der die Macht für «an sich böse» erklärt hatte. Neuerdings rechnet man ihm gerne seinen in der Tat nicht wegzudiskutierenden Antisemitismus vor, von dem sich Nietzsche zunehmend entfernte, dazu die antidemokratischen Impulse seines Denkens, die ihn wieder mit Nietzsche verbanden. Aber man muss nur lesen, woraus sich Burckhardts Verachtung der Plebs im Unterschied zu Nietzsche nährte – aus dem «Bedürfnis der Unterwürfigkeit», dem Buckeln nach oben und dem Treten nach unten: «Ganze Völker können auf solche Weise ihre Erniedrigung rechtfertigen […]. Mit der grössten Geduld lässt man sich auch die erbärmlichsten Regierungen gefallen und sich alles dasjenige bieten, worüber noch wenige Zeit vorher Alles in die Luft gesprungen wäre.» Und dann ein Satz, den man bei dem antirevolutionären Basler Patrizier und Pfahlbürger nicht erwarten würde: «Die höchste Wut besteht gegen alle Emigranten. Man achtet es wie einen Raub, wenn sich jemand der Misshandlung und dem Mord entzogen hat.»

Im ganzen teilen Burckhardt und Nietzsche ein Geschick: beide fallen aus ihrer Epoche heraus. Beide sind, mit Nietzsches Fanal gesagt, «unzeitgemässe» Geister. Das zeigt nicht zuletzt die Editionsgeschichte: sie ist von charakteristischen Parallelen geprägt. Grosse Werkausgaben sind als Denkmäler zu ihrem Gedächtnis errichtet worden, die bei Nietzsche den Charakter von Fälschungen hatten. Bei Burckhardt war freilich nicht jene immense Korrekturarbeit zu leisten, die den unentstellten Nietzsche erst wieder freilegen musste. Doch auch bei Burckhardt war ein anderes als das bisher kolportierte Bild zu entwerfen.

Nachlass eines Publikationsverweigerers

Die neue «Kritische Gesamtausgabe» von Jacob Burckhardt, die jetzt als Gemeinschaftswerk des Basler Schwabe und des Münchner Beck Verlags erscheint, kann man mit ihren geplanten 27 Bänden, nach den «nur» vierzehn der «Gesammelten Werke» von 1929–1934, getrost «monumental» nennen. Sie ist mit ihrem riesigen Kommentar eine immense Arbeitsleistung. Nur ein Teil des Burckhardtschen Werkes ist noch von ihm selber publiziert oder für die Veröffentlichung vorbereitet worden: «Die Zeit Constantin’s des Grossen»; der «Cicerone», eine auf Burckhardts zahlreiche Italienreisen zurückgehende «Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens», wie der Untertitel mit ästhetischem Hedonismus sagt; «Die Cultur der Renaissance in Italien»; schliesslich die Baukunst der Renaissance in Italien. Dominant also der Bezug auf die Renaissance, obwohl oder gerade weil Burckhardt ihre menschlichen und politischen Monster, die Repräsentanten der «an sich bösen Macht», die Borgias und Konsorten, anders als Nietzsche nicht heroisierte. «Ich meinerseits bin niemals ein Verehrer der Gewaltmenschen und Out-Laws in der Geschichte gewesen, habe sie auch eher für Geisseln Gottes gehalten und deren genaue psychologische Konstruktion gerne anderen überlassen.»

Der weitaus grössere Teil des riesigen Œuvres dieses «Publikationsverweigerers» aber, mehr noch als im Falle Nietzsches, ist Nachlass, der bisher allein in der ihrerseits monumentalen siebenbändigen Burckhardt-Biographie Werner Kaegis zugänglich war. Wo aber Nachlass ist, da ist die Stunde der Herausgeber gekommen. Ob sie wollen oder nicht – sie müssen weitreichende Entscheidungen fällen. Das betrifft bei Burckhardt vor allem seine zwei bedeutendsten und auch wirkungsmächtigsten Werke, die beiden Vorlesungen «Über das Studium der Geschichte» und die «Griechische Culturgeschichte». Der Burckhardt-Neffe Jacob Oeri hat beide postum vor nunmehr 100 Jahren herausgegeben, das «Studium der Geschichte» unter dem pompösen Titel «Weltgeschichtliche Betrachtungen», der Nietzsches «Unzeitgemässen Betrachtungen» korrespondierte. Burckhardt war ein brillanter, überaus anregender und beliebter freier Redner, ein Basler «Sokrates» ­ mit der Folge freilich, dass vieles schriftlich nur stichwortartig notiert ist.

Oeri hat das nicht gering zu schätzende Verdienst, Burckhardt überhaupt lesbar gemacht zu haben. Aber er hat auch stark redigierend eingegriffen, gekürzt und geglättet, wo es ihm angebracht schien. Die neue Ausgabe geht deswegen konsequent auf den Manuskriptnachlass inklusive der überlieferten Vorlesungsmitschriften zurück. Das führt im Falle der «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» zu gewissen editorischen Exzessen, weil man sie nun in demselben Band in drei verschiedenen Versionen einschliesslich derjenigen Oeris lesen kann.

Insgesamt wirkt Burckhardt nun weniger perfekt, aber umso lebendiger, auch zugänglicher. «Verzicht auf alles Systematische», lautet die Kampfansage an die Adresse der Geschichtsphilosophie, vor allem die Hegelianische – und zugleich das stilistische Programm. Während sonst grosse kritische Ausgaben oft Bestattungsunternehmen sind, liegt der Witz und das Verdienst dieser Monumentalausgabe paradoxerweise darin, dass sie Burckhardt entmonumentalisiert, entmusealisiert. Der Ironiker, der Aphoristiker, auch der sarkastische Moralist tritt jetzt deutlich hervor, im Ganzen ein sperriger, in der Tat unzeitgemässer Geist, der alles andere als bekömmlich und eben deswegen nicht bloss «historisch» ist.

Im «Alten Schema» über das Studium der Geschichte wird lapidar und unversöhnt konstatiert: «Wandelbarkeit des Geistigen so wie des Materiellen. – Das Geschichtliche vermeintlich das zum Bleiben berechtigte; thatsächlich ist es schon das Überwundene. Der beständige Wandel der Zeiten rafft die Formen, welche das äussere Gewand des Lebens bilden, unaufhörlich mit sich, auch die Formen des geistigen Lebens.» Kein falscher Trost aus dem Unvergänglichen also, vielmehr die desillusionierende weltgeschichtliche Betrachtung eines grossen Autors, der als behaglicher «Basler Professor» dem Blick auf das Unbehagliche nicht ausgewichen ist.

Jacob Burckhardt, «Werke. Kritische Gesamtausgabe». Herausgegeben von der Jacob-Burckhardt-Stiftung, Basel. Basel: Schwabe Verlag, München: Beck Verlag.

LUDGER LÜTKEHAUS, geboren 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br.

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