Des anderen Nachbar
60 Menschen, 80 Kühe, ein paar Pferde und 4 Hunde. Das ist das Bündner Bergdorf Lü. Während die Europäische Union an einem neuen Superstaat bastelt, zeigen die Bürger von Lü mitten in Europa, wie eine Zivilgesellschaft funktioniert. Der Weg zu Lü ist der Weg ins Jahr 2023.
Diesen Text schrieb ich in meinem Ferienhaus in der Berggemeinde Lü. Das war hilfreich. Statt gelehrte Abhandlungen zu studieren, hielt ich mich an den Alltag der Menschen hier in den Bergen. Zivil ist jene Gesellschaft, in der jeder des anderen Nachbar ist. In der jeder für sich sorgt, weil er niemandem zur Last fallen will – und zugleich stets bereit ist, einzuspringen und den anderen zu helfen. Denn er weiss, dass es das nächste Mal ihn treffen könnte.
Probleme, die das ganze Dorf betreffen, werden gemeinsam gelöst. Man kennt sich. Man achtet sich. Und man fühlt sich nicht berechtigt, den anderen für eigene Versäumnisse bezahlen zu lassen. Hier ist der Staat nicht «jene grosse Fiktion, nach der sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben» (Frédéric Bastiat). Und genau deshalb ist die Solidarität weit verbreitet. Lü ist der Beweis dafür: Eigenverantwortung und freiwillige Solidarität sind Zwillinge.
Wo stehen wir heute in Europa? Mittendrin – halb Zivilgesellschaft, halb etatistische Gesellschaft. Der Staat gilt als moralische Instanz, die Menschen haben Rechte und Ansprüche gegenüber ihm. Die Etatisten sollten Lü besuchen.
Wo wollen wir in zehn Jahren sein? Das weiss ich nicht. Ich weiss nur, wohin ich will: Die Schweiz hat aufgrund ihrer Kleinräumigkeit das Potential, eine echte Zivilgesellschaft zu werden.
Lü-Labor
Zurück zu Lü. Die Geschichte begann so: Meine Frau und ich suchten vor ein paar Jahren nach einem Zweitwohnsitz in den Bergen. Aufgrund eines Inserates der Bündner Kantonalbank wurden wir fündig: «Bauland auf der Sonnenterrasse Lü» lautete die Botschaft. «Lü»? Nie gehört. Hört sich ja eher chinesisch an. Wir gingen hin und waren begeistert. Auf fast 2000 Metern über Meer ist die Luft dünn, aber die Sicht klar – wie auch der Verstand der Menschen, die hier wohnen. Letzteres wurde mir allerdings erst später bewusst. Wir kauften ein Stück Land und planten mit der Architektin unser Haus.
In Lü leben etwa 60 Menschen, um die 80 Kühe, ein paar Pferde und 4 Hunde. Lü tauchte 1993 kurz in den Medien auf: Es war die einzige Gemeinde, die zu 100 Prozent einen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ablehnte. Bis 2008 war Lü eine selbständige Gemeinde. Danach wurde sie mit den übrigen Gemeinden des Münstertals zu einer Grossgemeinde «fusioniert».
Wir sind vor wenigen Wochen in unser neues Haus eingezogen. Severin Luzzi, der ehemalige Gemeindepräsident von Lü, kommt mit seiner Frau auf Besuch. Einfach so, ohne umständliche Voranmeldung. Man hat Zeit. Severin war 26 Jahre lang Gemeindepräsident. Er weiss, was sich seit der Fusion verändert hat: «Früher besprachen wir an der Gemeindeversammlung, was ansteht, und stimmten ab. Wir kannten alle einander. Wurde einer durch ein Projekt benachteiligt, gab man ihm anderswo einen Vorteil. War einer nicht dabei, konnte er sich am anderen Tag im Schaukasten für Gemeindemitteilungen im Dorf informieren. Kurz, man kam zurecht miteinander. Zum Beispiel die Bauzonenplanung. Sie wurde von Gemeindemitgliedern erarbeitet, an der Gemeindeversammlung vorgeschlagen, diskutiert und schliesslich gutgeheissen oder abgelehnt. Wer nicht dabei war, konnte die Beschlüsse im Schaukasten im Dorf nachlesen. Jeder im Dorf hatte nebenamtlich eine oder mehrere Aufgaben für die Kommune.»
So lief das in Lü über Jahrzehnte und wohl auch über Jahrhunderte. Und so hätte es auch weiter funktioniert. Man brauchte niemanden von ausserhalb, der einem sagt, was zu tun sei. Jeder war als Individuum für das Ganze mitverantwortlich.
Severin: «Das änderte sich nach der Fusion. Immer mehr Angelegenheiten des Dorfes werden von Müstair und Santa Maria aus gesteuert. Auch die Bauzonenplanung wird dort gemacht. Natürlich kann man sie im Baubüro von Santa Maria einsehen – während der Bürozeit. Das ist aber in der Arbeitszeit der Leute hier. Ich muss mir freinehmen, damit ich den Zonenplan detailliert anschauen kann.»
Immerhin, Erica, die Wirtin vom «Hirschen», dem einzigen Hotel und Restaurant im Dorf, sieht einige Vorteile der Fusion. So wurde etwa die Dorfstrasse geteert und die Wasserversorgung verbessert.
Trotz dieser Wohltaten: meine anfängliche Vermutung bestätigte sich. Das Dorf ist zwar zugänglicher, «praktischer» geworden, aber es hat seine Seele verloren. Man muss ja nicht mehr zusammenarbeiten, wenn alles von aussen geregelt wird. Somit ist man auch nicht mehr verantwortlich. Die Beziehung des Individuums zu einer anonymen Institution ist eine andere als jene zum Nachbarn aus Fleisch und Blut.
Nehmen wir an, dass die Schweiz in zehn oder zwanzig Jahren – sei es unter Druck oder freiwillig, was sich am Ende ohnehin kaum mehr unterscheiden liesse – der Europäischen Union (EU) beigetreten ist. Ein Bundesrat, der vor dem Beitritt im Amt war, würde wahrscheinlich einen ähnlichen Bericht abgeben wie Severin, der ehemalige Gemeindepräsident. Der Bericht könnte lauten: «Damals stimmten wir Schweizer über unsere Angelegenheiten ab. Das war aufwendig und manchmal auch umständlich. Aber WIR waren es, die Menschen, die der Entscheid unmittelbar betraf, die zugleich auch die Verantwortung dafür trugen.»
Szenenwechsel: Ferien in Kuba. Vor wenigen Monaten hat Fidel Castros Bruder Raul 500 000 Beamte entlassen. Was sollten die Entlassenen tun? Mehr der Not gehorchend als der Ideologie, lockerte Raul Castro die sozialistischen Einschränkungen privatwirtschaftlicher – also freiwilliger – Tätigkeit. Privatpersonen durften Touristen gegen Bezahlung in ihren Häusern bewirten. Zweifellos eine Marktlücke, denn das Essen in den staatlich geführten Restaurants war unter aller Kritik. Wollte der Staat überhaupt Essen verkaufen, musste er private Initiativen verbieten. Aber am Ende ging eben auch niemand mehr in die staatlichen Restaurants. Meine Frau und ich besuchten die neuen privaten «Gasthäuser». Das Essen und der Wein waren hervorragend, die Musik angenehm und die Bedienung freundlich und zuvorkommend. Und natürlich sind diese Restaurants voll. Kuba widerlegt Karl Marx: Von der «Entfremdung» von der Arbeit ist hier nichts zu spüren. Die war bloss vorher ein Problem, unter der staatlichen Regulierung.
Was zeigt das Beispiel? Selbst geringfügige Lockerung des sozialistischen Jochs löste sofort eine erstaunliche Welle von Kreativität und Kleinunternehmertum aus. Man muss den Menschen nicht erzählen, was sie zu tun haben. Sie tun es von selbst. Der Umkehrschluss trifft ebenfalls zu: Wer dazu gezwungen wird, etwas zu tun, tut es nicht gut.
Wo wollen wir 2023 sein?
Nicht nur die Bürger in Lü sind sich darüber im Klaren: Der Staat (jeder Staat) existiert lediglich in den Köpfen seiner Bürger; er ist eine Abstraktion, eine Idee, eben die «Staatsidee». Ohne den Glauben an seine Existenz und seinen Sinn gibt es keinen Staat. Real ist nur das Individuum. Die «funktionalen Erklärungen», wie sie einst von Marxisten und heute gerne von Soziologen verwendet werden, haben ausgedient. Soziale Phänomene wie Krisen, Streiks und dergleichen werden ausgelöst und getragen von Individuen und nicht von «Systemen» oder «der Gesellschaft».
Die Bürger von Lü sind weder klüger noch «besser» als die Bürger anderer Staaten. Aber sie profitieren von einem Vorteil, den sie lange kaum wahrgenommen haben, weil er von der grossen Politik bewusst heruntergespielt wurde: die Kleinheit und die Kleinräumigkeit des Landes. Um es mit dem österreichischen Ökonomen und Philosophen Ludwig Kohr zu sagen: Ein wichtiger Grund des Wohlstandes der Schweiz «liegt im Wegfall jeder in geometrischer Reihe wachsenden Probleme der Grössenverhältnisse, von denen riesenwüchsige Gesellschaften ebenso betroffen werden wie die Rentabilität von Wolkenkratzern, sobald diese eine bestimmte Grösse überschreiten durch steigende Kosten».
Die Schweizer haben einen nonzentralen begrenzten Staat verwirklicht. Nicht nur auf die Grösse bezogen, sondern auch auf seine Funktion. Der begrenzte Staat folgt dem Prinzip «so wenig (Staat) wie möglich, so viel wie nötig». In der Schweiz überwiegen selbstverantwortliche und solidarische Individuen, die den Staat nicht als übergeordnete Autorität verstehen, sondern lediglich als bedingt notwendige Organisation. Darum herum wird von einer von keinem Volk legitimierten Beamtenkaste gerade ein neuer Superstaat gebastelt. Er heisst EU. Er übt Druck auf die Confoederatio Helvetica aus, weil er eine quasi-minimalstaatliche Alternative im Herzen Europas nicht duldet. Die Schweiz erinnert die EU ständig daran, dass es auch anders ginge – mit weniger Politik und mehr Eigenverantwortung, mit weniger Zwang und mehr freiwilligem Engagement.
Die Schweizer Unternehmen haben die Zeichen der Zeit erkannt und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Nicht-EU-Staaten ausgebaut. Das hat dazu geführt, dass es in der Schweiz Produkte und Verfahren gibt, die in der EU nicht erhältlich sind. Denn die EU – mittlerweile mehr eine Ausschlussgesellschaft als ein Zusammenschluss – hat ihrem Regulierungsdrang folgend wertvolle Produkte und Verfahren verboten. Und sie wird dies weiter tun, weil Europa für sie die Welt bedeutet.
Wo stehen wir heute?
Ein Beitritt zur EU steht den Schweizer Bürgern ferner denn je. Die Entwicklung der EU hin zu einem Superstaat schreckt ab. Trotzdem schielen einige Schweizer Politiker nach der EU. Wieso? Was sind die Gründe? Ist es lediglich Ratlosigkeit? Oder ist es die Faszination der Grösse? Die Lage sei «komplex» – so lautet eine Lieblingsfloskel von Politikern. Eine andere: die Schweiz stehe unter «internationalem Druck». Damit begründen sie ihre eigenartig defensiven Stellungnahmen gegenüber den zunehmend dreister tönenden Forderungen der EU. Es geht um das Bankkundengeheimnis, die Steuerflucht, den Fluglärm, die Zuwanderung und andere mehr oder weniger wichtige Dinge. EU- und OECD-Beamte, denen jede demokratische Legitimation fehlt, drohen mit «schwarzen» Listen. Ein allmählich zum Politclown mutierter deutscher Politiker will gar die «Kavallerie» schicken.
Aber die zunehmenden Sticheleien gründen tiefer, weit unterhalb der Ebene von «Sachfragen». Denn die wirtschaftlichen Daten der Schweiz sprechen eine nur allzu deutliche Sprache: praktisch Vollbeschäftigung, ein intaktes Arbeitsethos, gesunde Staatsfinanzen, ein mehrheitlich zufriedenes Volk, Arbeitsfrieden – all das, was den meisten EU-Staaten fehlt. Ein solcher Kleinstaat ist unweigerlich ein Splitter im Auge einer zentralistischen Bürokratie. Die Schweiz ist die real existierende Falsifikation der EU. Das schmerzt die Seele der Bürokraten.
Ich will nicht idealisieren. Lü ist nun Teil einer grösseren Gemeinde. Die Schweiz hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten der etatistischen Richtung Europas angenähert: Anspruchsdenken, der Glaube an Regulierungen und Gesetze, also letztlich an Zwang, steigende Staatsquote. Dennoch – die Schweiz als gewachsener nonzentraler «Minimalstaat» hat das Zeug, sich zu einer echten
Zivilgesellschaft weiterzuentwickeln.
Fünf konkrete Schritte
1. Wahrung der staatlichen Souveränität ohne Wenn und Aber. Nicht weil der Nationalstaat – eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – der Weisheit letzter Schluss ist, sondern weil sich die Schweiz nur so die Möglichkeit bewahrt, sich als europäisches Gegenmodell weiterzuentwickeln.
2. Entwicklung und technologischer Ausbau der direkten Demokratie im Sinne einer Dezentralisierung. Je kleiner und vielfältiger die Einheiten, desto robuster und lernfähiger ist die Gesellschaft. Hier gäbe es neue Modelle direkter Volksentscheidungen zu prüfen, Modelle, die politische Parteien und Politiker weitgehend überflüssig machen. Mir schwebt eine echte direkte Demokratie vor, in der die Bürger täglich über jene Anliegen abstimmen, die sie direkt betreffen. Der amerikanische Philosoph Robert Paul Wolff brachte die Idee bereits 1970 auf: tägliche Abstimmung nach den Nachrichten im Fernsehen, mit Hilfe eines Knopfdrucks Ja/Nein. Das war vor 40 Jahren. Heute wäre dies mit dem Internet noch einfacher.
3. Ausbau des dualen Ausbildungssystems. Zur Zivilgesellschaft gehört die Bodenständigkeit, die Verankerung von Denken und Handeln im Alltag. Es geht darum, «Können», nicht nur «Wissen» zu entwickeln. Eine bedeutende Ursache des schweizerischen Wohlstandes ist die Institution der Berufslehre. Bauern, Handwerker, Bäcker, Unternehmer ernähren uns – nicht Akademiker. Die politisch motivierte Idee, dass jeder und jede studieren müsse, ist reine Torheit. Ein Land entwickelt sich von der Basis her und nicht von oben. Auch Politiker zeigen sich im Zusammenhang mit Wirtschaftsfragen gerne mit Spitzenmanagern von Grosskonzernen, obwohl mehr als drei Viertel aller Arbeitsplätze in der Schweiz von kleinen und mittleren Unternehmen gestellt werden. Die Gründe für diese Affinität von Magistraten zu Spitzenmanagern mögen neben dem gemeinsamen Hang zur Grösse in einer weiteren Parallele liegen: Beide arbeiten in einem «Staat» und mit dem Geld anderer Leute (Steuerzahler bzw. Aktionäre).
4. Massiver Ausbau der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und humanitären Beziehungen mit Nicht-EU-Staaten. Die Produktion von Gesetzen, Normen, Regeln und Vorschriften bzw. Verboten, wie sie von der EU betrieben wird, drosselt die Innovation. Was der Norm nicht entspricht, gibt es nicht. Die Schweiz tut gut daran, ihre wirtschaftliche Offenheit zu bewahren – so lernt sie von der ganzen Welt.
5. Selektive Einwanderungspolitik: Welcher Kultur jemand angehört und welche Hautfarbe er oder sie hat, ist irrelevant. Wer kommen will, macht ein zweijähriges Praktikum. Halbtags kommunale Arbeit (vergleichbar dem Zivilschutz), halbtags Sprach- und Kulturvermittlung des Landes. Die Engagierten werden kommen und bleiben; die Indifferenten, die bloss profitieren wollen, werden angesichts dieser Perspektive gar nicht erst kommen.
Links und rechts?
Die Links-rechts-Dichotomie im politischen Denken ist unglaublich phantasie- und nutzlos. Sie hat in einer Zivilgesellschaft nichts zu suchen. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten des Zusammenlebens. Die längste Zeit ihres Daseins haben die Menschen ohne Staat, in Stämmen und Sippen, ihr Leben organisiert. Die Verinnerlichung des unlogischen Links-rechts-Schemas verdanken wir der parlamentarischen Sitzordnung: eine mehr oder weniger demokratische Mitte, eingerahmt von zwei totalitären Systemen, ganz links die Kommunisten, ganz rechts die Faschisten. Eine vernünftige Ordnung würde die Kommunisten und Faschisten als Befürworter eines starken Staates auf derselben Seite platzieren und jene, die wenig oder keinen Staat wollen, die Liberalen und die Anarchisten, am anderen Ende. Aber Logik ist keine Tugend im Gerangel um die Macht, genannt Politik.
«Warum sind hier alle so konservativ?», fragten zwei Journalisten der NZZ die Wirtin des «Hirschen» in Lü. «Wir sind nicht konservativ. Wir haben lediglich gesunden Menschenverstand», antwortete die Wirtin. So ist es.