«Der Zukunftsoptimismus der Schweiz scheint aufgebraucht»
Die Politik sei im Klein-Klein gefangen und blockiere sich mit Partikularinteressen, sagt der Politologe Claude Longchamp. Er erklärt, weshalb er nach dem EWR-Nein auswandern wollte und wieso heute in der Europafrage Stillstand herrscht.
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Claude Longchamp, du bist der bekannteste Politologe der Schweiz, du kannst es uns ja sagen: Wer gewinnt die Wahlen am 22. Oktober?
Claude Longchamp: Das kann ich leider nicht sagen. Ich kann lediglich zwei aus meiner Sicht ziemlich zuverlässige Beobachtungen und eine Überraschung nennen. Meiner Erfahrung nach folgt auf eine volatile Wahl meistens eine stabile Wahl. 2019 war die volatilste Wahl seit 100 Jahren. Gemäss meiner kleinen Gesetzmässigkeit wird die nächste Wahl also eine stabile sein.
Es wird also keine grösseren Verschiebungen geben?
Genau. Die zweite Beobachtung: Eine Partei, die sehr viele Wähleranteile gewonnen hat bei einer Wahl – sagen wir 4 Prozentpunkte und mehr –, verliert bei der darauffolgenden Wahl fast sicher. Nicht so viel, wie sie zuvor gewonnen hat; der Trend aber dreht sich um. Umgekehrt wird eine Partei, die bei der letzten Wahl sehr viel verloren hat, fast sicher gewinnen.
Das sind schlechte Nachrichten für die Grünen.
Genau. Die Chance, dass den Grünen die Supermobilisierung von 2019 noch einmal gelingt, ist relativ gering. Umgekehrt dürfte die SVP wieder zulegen. Sie hat die Lehren aus der letzten Wahl gezogen, als die innere Mobilisierung schlecht war. Nun spricht sie ihre Kernwählerschaft direkter an. Bei den Zürcher Wahlen hat sie diese Strategie mit Erfolg durchexerziert, daher dürfte sie auch bei den nationalen Wahlen wieder zulegen.
Und was ist die Überraschung?
Bei den Gesetzmässigkeiten, die ich genannt habe, gibt es eine einzige Ausnahme: wenn zwei Parteien fusionieren wie nun die CVP und die BDP, die sich zur Mitte-Partei zusammengeschlossen haben. Wenn diese beiden zusammen gewinnen sollten, wäre das eine kleine Überraschung. Bis jetzt bin ich wirklich überrascht, dass es der Mitte gelungen ist, ihr Thema Gesundheitspolitik, das 2019 nicht funktionierte, auf der Agenda zu platzieren.
Ein Thema, das im Wahlkampf seltsam abwesend ist, ist Europa. Warum?
Das ist nicht seltsam – ich war mir sicher, dass die Europapolitik im Wahlkampf keine Rolle spielen wird, denn alle Parteien, vielleicht mit Ausnahme der SVP, sind in dieser Frage gespalten. Am ehesten noch hätte man von den Grünliberalen etwas dazu erwarten können. Die Partei hat sich das Thema auf die Fahne geschrieben, aber sie ist letztlich zu schwach, um es auf die Agenda zu bringen.
Vielleicht ist die Flughöhe des Themas auch ein bisschen zu hoch. Der Problemdruck ist nicht wirklich sichtbar.
Die vorherrschende Einschätzung ist, dass wir bisher mit unserem pragmatischen «Durchwursteln» gut gefahren sind und dass die EU zwar immer mit dem Säbel rasselt, aber am Schluss doch zu einem Kompromiss Hand bietet. Auch wirtschaftlich haben wir nicht wirklich Einbrüche erlebt. Die kulturelle Frage der Identität spaltet stark und zieht vor allem auf der konservativen Seite. Das Sprengpotenzial des Themas ist somit klein. Erst recht, wenn der Problemdruck in der Migrations- oder der Umweltfrage gross ist.
Du hast die EWR-Abstimmung 1992 als die «spannendste Abstimmung» deines Lebens bezeichnet. Was hat dieser Entscheid verändert?
Es gibt in der Politikwissenschaft die Theorie des «Backlash». Damit bezeichnet man ein Momentum in der Geschichte eines Landes, in dem grundsätzliche Fragen der Werte und der Machtverteilung gestellt werden. 1992 war ein solcher Moment. Die FDP und die CVP distanzierten sich von der SVP und bogen zusammen mit der SP auf einen proeuropäischen Kurs ein. Das war ein Tabubruch mit den traditionellen Werten der Unabhängigkeit, der Neutralität und der Eigenständigkeit. Eine solche Veränderung löst gemäss Theorie eher einen «Backlash» aus als eine neuerliche Radikalisierung.
Worin bestand dieser «Backlash»?
Es entstand eine neue Partei – sie trug zwar keinen neuen Namen, aber sie war neu strukturiert: die SVP. Sie wurde nun zum Sammelbecken für Nationalkonservative. In einem zweiten Schritt schaffte sie es, dass vor allem im Gewerbe die Gegner weiterer Öffnungsschritte, die mit der Personenfreizügigkeit kamen, sich ihr immer mehr anschlossen. Die bürgerlichen Parteien, die zuvor ziemlich gemischt waren, spalteten sich auf in eine eindeutig antieuropäische und zwei mehr oder weniger proeuropäische Parteien.
Es gab also eine Sortierung.
Das war eine klassische Sortierung. In den 2000er-Jahren rückten dann andere Fragen in den Vordergrund. Insbesondere, ob die pragmatische Öffnung mit den bilateralen Verträgen der Schweiz einen dauerhaften ökonomischen Vorteil bringe. Kritiker wie Reiner Eichenberger monierten, dass es vor allem ein Wachstum in die Breite gebe. Diese Kritik fand überraschend viele Anhänger in der FDP. Hinzu kam im Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen die Angst, dass die europäischen Regulierungen die Finanzmärkte in der Schweiz betreffen würden. Als Folge davon präsentierten sich die FDP und die Mitte in dieser Frage ziemlich unentschieden. Bei den Gewerkschaften kam das Umdenken 2018, als sie zusammen mit der SP erklärten, die rote Linie bei den flankierenden Massnahmen sei überschritten worden. Somit waren die Erfolgsaussichten für das Abkommen schlecht. Eine Öffnung gegenüber der EU braucht in der Schweiz eine Mehrheit der Parteien, eine Mehrheit der Sozialpartner und eine Mehrheit der Kantone. Alle drei Mehrheiten waren nicht oder nur noch teilweise gegeben, so dass das Ergebnis – ich nenne es jetzt mal: ratloser Stillstand – nicht wirklich überraschend ist.
Das Thema Europapolitik beschäftigt dich auch persönlich. Du hast dir nach dem EWR-Nein überlegt, auszuwandern.
Stimmt, ich bin bis Saint-Ursanne an der französischen Grenze gekommen (lacht). Das war eine emotionale Reaktion. Ich gebe zu, dass ich klar für den EWR war. Nach dem Nein dachte ich: Das ist nun wirklich die Höhe! Meine Partnerin und ich sind dann Richtung Frankreich gefahren und in dem schönen jurassischen Städtchen Saint-Ursanne abgestiegen. Dort war es aber so kalt, dass wir irgendwann sagten: Wir müssen zurück nach Bern in die Sauna. Als ich wieder aufgewärmt war, entschied ich: Ich bleibe in der Schweiz und kämpfe ein bisschen weiter.
Wie siehst du die Zukunft der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU? Was muss passieren, um diese Beziehungen auf eine stabile und nachhaltige Basis zu stellen?
In der Schweiz ist die Skepsis gegenüber einem institutionell klar ausformulierten Gefüge mit Konsequenzen für das politische System zu gross. Das wird nie eine Mehrheit finden. Dass die Pattsituation, die wir uns jetzt eingehandelt haben, langfristig trägt, glaube ich aber auch nicht. Wir brauchen also wahrscheinlich etwas unterhalb des Niveaus des Rahmenabkommens, jedoch über dem Niveau, das wir jetzt haben, bei dem wir nicht sicher sind, wie lange wir auf den Goodwill der EU zählen können und ob die Probleme nicht irgendwann zu einem Eklat führen werden.
Ob in der Europapolitik, bei der Energie oder der Altersvorsorge: Man hat das Gefühl, die Schweizer Politik sei in verschiedenen Bereichen blockiert, agiere ideenlos und planlos. Was steckt dahinter?
Mit dem erwähnten Umbruch der Parteienlandschaft hat sich auch die politische Kultur gewandelt. Der Zukunftsoptimismus, der die Schweiz immer geprägt hat, scheint aufgebraucht zu sein. Bundesrat Berset sagte es jüngst an der Feier zum 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung: Es fehlt uns an den grossen Ideen. Das ist vielleicht nicht so schlimm, aber es fehlt uns auch am Mut, diese überhaupt zu denken. Wir sind im Klein-Klein gefangen und blockieren uns zunehmend mit Partikularinteressen.
Welche Rolle spielt die Polarisierung?
Es gibt viele Bereiche, in denen es keine klaren Mehrheiten mehr gibt. Nun kann man sagen, das liege an der Polarisierung; die Polparteien kämen leichter auf die politische Agenda und würden in den Medien gehört, während die Mitte geschwächt sei. Diese Analyse teile ich nur zur Hälfte. Dass das politische Zentrum in der Schweiz nicht mehr den Ton angibt, hat zunächst damit zu tun, dass FDP und CVP, welche die Geschicke der Schweiz über viele Jahre bestimmt haben, seit den 1980er-Jahren im Nationalrat und inzwischen auch im Bundesrat keine Mehrheit mehr haben. Die Klagen über die Polarisierung sind mir etwas zu oberflächlich. Es fehlt die Gestaltungskraft aus dem politischen Zentrum heraus. Natürlich bringt die Polarisierung auch negative Erscheinungen mit sich. Dabei ist sie aber zunächst einmal etwas Gutes.
Warum?
Wenn es um Sachfragen geht, müssen Pro und Kontra herausgearbeitet werden, die Gegensätze klar werden. Das ist für die direkte Demokratie essenziell. Die Polarisierung hat jedoch auch zu einer weltanschaulichen Aufladung geführt. In der Gesellschaftspolitik sind wir noch einigermassen beweglich, da hat sich einiges geändert in den letzten Jahren. Im Links-rechts-Spektrum dagegen hat sich fast nichts verändert. Wir sind in eine weltanschauliche Blockade geraten. Es gibt aber zwei weitere Entwicklungen.
Nämlich?
Zum einen würde ich sagen, dass sich die Debattenkultur in der Schweiz in den letzten zehn Jahren wieder verbessert hat. Es ist eine positive Entwicklung, dass man versucht, die weltanschauliche Polarisierung nicht zu negieren, sie aber auch nicht einfach als Blockade zu verstehen, sondern als Fight um die bessere Vision. Was mich hingegen beängstigt, ist das neue Phänomen der affektiven Polarisierung.
«Die Debattenkultur in der Schweiz hat sich in den letzten zehn Jahren wieder verbessert.»
Was bedeutet das?
Bei der affektiven Polarisierung geht es nicht um das bessere Argument oder die bessere Vision, sondern um Feindbilder und Feindgruppen. Man pflegt die Distanz zur Feindgruppe – nicht weil diese schlechte Argumente hätte, sondern weil sie gar nicht mehr politikfähig sei. Die Linke wirft das der Rechten vor, die Rechte der neuen Linken. Dann kommen die Trigger-Themen wie Klimakleber oder der Wolf dazu. Das sind die typischen affektiven Aufladungen: schlechte Debatten, kaum Argumente und Feindbilder.