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Der Zeitmikroskopierer

Werke von Cláudio Antunes

Der Zeitmikroskopierer

Der Auslöser einer Kamera kann wie ein Lasso sein, das einen Moment der Zeit einfängt, fixiert und auf die Stelle zwingt. Bei Schnappschüssen ist der Zufall im Spiel, bei Zielphotos Technik und Lichtschranke. Ein Klick, und der entscheidende Moment ist gebannt – Einstein, der die Zunge rausstreckt (ja, auch dieses Kultbild ist ein Schnappschuss, aufgenommen an seinem 72. Geburtstag), oder die Fussspitze jenes Läufers, der zuerst die weisse Ziellinie berührt. Momente, so ungewöhnlich, dass sich für ein Photo kaum ein zweitesmal die Gelegenheit ergibt, oder zu kurz für unser Auge, um sie wahrnehmen zu können.

So ein Momentphotograph – allerdings einer jenseits des nicht zu kalkulierenden Zufalls oder der Lichtschranke, auch die Sujets sind andere – ist Cláudio Antunes. Er könnte auch als Zeitmikroskopierer bezeichnet werden.

Ernst Bloch schrieb einst über die Zeitlupe im Film: «Das verlangsamte Leben wirkt leicht und friedlich, Boxer streicheln sich, der Kinnhaken landet als Liebkosung». Während bei der Zeitlupe alles gedehnt erscheint, ein Vorgang verlangsamt wird, jedoch nicht so weit, dass er stehen bliebe, schaut ein Zeitmikroskopierer genauer hin. Die Zeit wird von ihm so weit auseinandergezogen, bis sie reisst und ein singulärer Moment aus ihr herausfällt. Zeit auf den Punkt oder auf das Bild gebracht, auf Augenmass, auf Menschenmass.

«Das angehaltene Leben wirkt entstofflicht, trübes Flusswasser vergoldet sich, die Schweizerfahne zerfliesst als Morgenröte und Wolkenweiss», so könnten in Anlehnung an Bloch die Werke Cláudio Antunes’ beschrieben werden. Die romantisierende Beschreibung passt zu dem, was er von sich erzählt. Er lässt sich Zeit. Geniesst das Laisser-faire, sein mediterranes Erbe, wie er sagt. Arbeitet jedoch, hier dominiere der Einfluss der Zwinglistadt Zürich, die eine Hälfte der Woche als Architekt in einem Büro, die andere als Künstler in seinem Atelier. Er sagt, dass er viel spazieren gehe. Oft dieselben Wege. Entlang dem Schanzengraben in Zürich, am Ufer des Luganersees, an den Wassern Italiens und Portugals, seine alte Kamera in der Jackentasche. Da er noch immer analog photographiert, sein Film daher nur 36 Bilder aufnimmt, drückt er vergleichsweise selten auf den Auslöser.

Cláudio Antunes schätzt seine Kamera, weil er mit ihrer Hilfe zu Gesicht bringen kann, was mit blossen Augen im fliessenden und gleissenden Wasser nicht zu erkennen ist. Er ahnt, was er photographiert (der Zufall wird ihm vermutlich keinen zungenraustreckenden Neptun bescheren) und versucht daher, das Ungewisse zu kalkulieren. Hat er 36 Momente mikroskopiert, lässt er den Film entwickeln. Bedächtig und nicht überstürzt ist auch die Auswahl jener wenigen Photos, die eingescannt, digitalisiert, nicht aber digital nachbearbeitet werden, und auf Formate von bis zu einem Meter Breite und einem halben Meter Höhe übertragen werden.

Nur Indirektes ist auf den Photos zu sehen. Die gehisste Schweizerfahne*, eine erleuchtete Fensterfront oder das Herbstlaub werden vom bewegten Wasser gespiegelt (auch das Blau des Wassers, betont Cláudio Antunes, sei nichts weiter als die Spiegelung des Himmels), die Spiegelungen werden vom Photographen entdeckt, von seiner Kamera auf- und zuletzt von uns wahrgenommen. Diese Aufeinanderfolge, das Auge des Sees, des Photographen, der Kamera und des Betrachtes, lassen schliesslich selbst etwas so Pro-saisches zu einem lustvollen Erlebnis werden, wie einen Laternenpfahl am Uferweg, der vom Wasser eines verdriesslich daherfliessenden Stadtgrabens reflektiert wird.

* Ein Ausschnitt dieser Photographie findet sich auf dem Titelblatt.

Cláudio Antunes, geboren 1968 in der Schweiz, aufgewachsen in Portugal, lebt und arbeitet, nach einer Lehre als Hochbauzeichner und einem Architekturdiplom, als Architekt und Künstler in Zürich. Abbildungen seiner Photographien finden sich auf den Seiten 9, 14, 32, 33, 39, 45, 55 sowie dem Titelblatt und der Innenklappe (www.claudioantunes.ch).

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