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Der Zaun

Der alte Stahlzaun ist angerostet, an vielen Stellen ist die Farbe abgeblättert. Dennoch ist er unverrückbar, unüberwindlich. Wer ihn überklettert, wird zurückgebracht. Mit einer Feile wären nur die dünnen Querstäbe zu durchtrennen. Ohnehin würde ein Durchlass wenig nützen. Wer nicht sogleich aufgegriffen wird, könnte sich zwar kurzzeitig auf der Insel verstecken, doch rundum ist nichts […]

Der alte Stahlzaun ist angerostet, an vielen Stellen ist die Farbe abgeblättert. Dennoch ist er unverrückbar, unüberwindlich. Wer ihn überklettert, wird zurückgebracht. Mit einer Feile wären nur die dünnen Querstäbe zu durchtrennen. Ohnehin würde ein Durchlass wenig nützen. Wer nicht sogleich aufgegriffen wird, könnte sich zwar kurzzeitig auf der Insel verstecken, doch rundum ist nichts als leeres Meer. Die allermeisten, die vorläufig hinter dem Zaun untergebracht wurden, sind heilfroh, auf die Insel gelangt zu sein. Tausende sind in den letzten Jahren ertrunken, als sie die Wassergrenze, die Europa von Afrika trennt, auf einem maroden Schiff zu überwinden suchten. Manche Boote sind gekentert oder entzweigebrochen, andere in der Nacht verbrannt.

Wer das rettende Ufer erreicht, erhält eine Wasserflasche und einen Plastikbeutel mit dem Nötigsten. Hinter dem Zaun hat er abzuwarten, was mit ihm geschehen wird. Zwar ist der Flüchtling bis auf weiteres dem Krieg und dem Elend in der Heimat entronnen. Die Todesangst ist überstanden, aber mancher hat unterwegs Verwandte oder Freunde verloren. Helfende Hände haben ihn auf sichere Planken gehievt. Doch nun ist er hinter dem Zaun eingepfercht, abseits der Ortschaft. Eingesperrt bleibt er ausgesperrt.

Viele materielle und soziale Barrieren trennen den Flüchtling von der Aussicht auf ein besseres Leben: das Meer, die Patrouillen der Wächter, Aversion und Hass der Einheimischen, die Ausschlussgesetze der ungastlichen Gemeinschaft, die fremde Kultur – und der Zaun. Ob auf Lampedusa oder am Evros, ob vor den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla oder neuerdings in der Bergregion zwischen Bulgarien und der Türkei, die Errichtung von Zäunen ist die einfachste Massnahme, um der globalen Freizügigkeit einen Riegel vorzuschieben. In Europa ist nur geduldet, wer den Wohlstand der Eingesessenen zu mehren verspricht. Wer dennoch ins Land gelangt und eine legale Existenz anstrebt, gerät alsbald in Sperrbezirke, Auffang­lager, Massenquartiere, Flüchtlingsheime.

Gesichter zeigt das Photo aus Lampedusa keine, keine hohlwangigen, ausgezehrten Männer, keine verschleierten Mütter, keine weinenden Kleinkinder. Das Antlitz der Fremden bleibt unbekannt. Allein die Hände und Finger verweisen darauf, dass hier jemand hinter Gittern lebt. Um ein, zwei Zentimeter zeigen die Fingerkuppen über die Grenze hinaus in die Freiheit. Durch die Maschen und Löcher ist die andere Welt sichtbar, doch mit den Händen zu greifen ist nur der Zaun. Anders als blickdichte Betonmauern oder Ziegelwände betont der Zaun den Doppelcharakter der Grenze. Er zieht eine Linie, die zugleich trennt und verbindet. Sie scheidet Innen und Aussen, doch ist der Gegensatz jedermann sichtbar. Mit eigenen Augen sieht der Fremdling tagtäglich, dass er nicht dazugehört, dass er unerwünscht ist. Er erkennt die Freiheit, die ihm verwehrt bleibt. Mit den Händen spürt er das Hindernis, das ihn zurückwirft, das ihn in Ohnmacht und Untätigkeit gefangen hält und das er nur überwinden müsste, um aus der Welt der Notwendigkeit in die Freiheit neuer Möglichkeiten zu gelangen.

Wo immer Menschen hinter Gittern gehalten werden, wiederholt sich dieselbe Geste der Hände. Sie klammern sich an die Stäbe, die Finger suchen die offenen Zwischenräume. Festhalten wollen sich die Hände, sicheren Griff suchen sie, aber nicht weil es den Menschen an Halt fehlen oder ihnen eine unmittelbare Gefahr drohen würde. Sie wollen auch nicht am Zaun rütteln oder ihn aus den Angeln heben. Nur zu gut wissen sie, dass ihnen hierzu die Kräfte fehlen. Aber festzuhalten ist unverzichtbar, um sich in die Höhe zu ziehen. Unter keinen Umständen darf die Hand loslassen, an welcher der Körper hängt; nur die Hand verhindert das Fallen. Die Geste tut so, als könnte man den Zaun emporklettern und dann hinaus in die Freiheit springen.

Manchmal sind die Hände weiter als der Geist. Unwillkürlich zeigen sie den Impuls, der die Menschen bewegt. Es wäre die erste Handlung, die der Flüchtling in der neuen Welt selbst vollbrächte.

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