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Der Westen bekriegt sich selbst
Douglas Murray, zvg.

Der Westen bekriegt sich selbst

In der jüngeren Vergangenheit ist ein Ungleichgewicht entstanden: Sämtliche Errungenschaften der westlichen Zivilisation werden geringgeschätzt, ihre Mängel dagegen überhöht. Das bringt die Grundfesten unserer Gesellschaften ins Wanken.

 

In den letzten Jahren wurde deutlich, dass ein Krieg tobt: ein Krieg gegen den Westen. Es ist ein Kulturkrieg, unbarmherzig geführt gegen alle Wurzeln der westlichen Tradition und gegen alles Gute, das die westliche Tradition hervorgebracht hat.

Anfangs war das schwer zu erkennen. Viele von uns spürten, dass etwas nicht stimmte. Wir fragten uns, warum immerzu einseitige Argumente vorgebracht und unfaire Behauptungen aufgestellt wurden. Wir erkannten jedoch nicht das volle Ausmass dieses Bestrebens. Nicht zuletzt, weil sogar die Sprache der Ideen korrumpiert wurde. Wörter bedeuteten nicht mehr dasselbe wie noch kurz zuvor. Menschen begannen, von «Gleichheit» zu sprechen, schienen sich jedoch nicht um gleiche Rechte zu scheren. Sie ­redeten von «Antirassismus», klangen jedoch zutiefst rassistisch. Sie sprachen von «Gerechtigkeit», schienen jedoch «Rache» zu meinen. Erst in den letzten Jahren wurde das Ausmass dieser Bewegung klar erkennbar und wohin sie führt. Es findet ein Angriff auf alles statt, was mit der westlichen Welt zu tun hat – ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Zukunft. Dazu gehört auch, dass wir in einem Kreislauf endloser Bestrafung gefangen sind – ohne dass die Schuld abnimmt oder dies auch nur in Betracht gezogen wird.

Aufschlüsselung in Gruppen

Es gab verschiedene Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. So versuchten Identitätspolitiker, die westlichen Gesellschaften im Hinblick auf Gender, Sexualität und ethnische Zugehörigkeit aufzuschlüsseln. Nach dem 20. Jahrhundert war nationale Identität zu einer schamhaften Form der ­Zugehörigkeit geworden und alle anderen Formen von ­Zugehörigkeit traten plötzlich an deren Stelle. Den Menschen wurde nun gesagt, sie sollten sich als Mitglieder ­anderer spezifischer Gruppen ansehen. Sie waren schwul oder hetero, Männer oder Frauen, schwarz oder weiss. Diese Zugehörigkeitsformen waren mit scharfer Munition geladen, um in eine antiwestliche Richtung zu führen. Gays wurden gefeiert, solange sie «queer» waren und vorhandene Institutionen niederreissen wollten. Schwule, die einfach nur mit ihrem Leben fortfahren wollten oder die westliche Welt mochten, wurden ausgegrenzt. Genauso waren Feministinnen so lange nützlich, wie sie «männliche Strukturen», den westlichen Kapitalismus und noch viel mehr angriffen. Feministinnen, die dieser Linie nicht folgten, die dachten, sie seien im Westen gut dran, wurden bestenfalls wie Verräter behandelt, schlimmstenfalls wie Feinde.

Der Diskurs über ethnische Zugehörigkeit war noch heftiger. Ethnische Minderheiten, die sich im Westen gut integriert hatten und einbrachten und ihn geradezu bewunderten, wurden zunehmend wie Rassenverräter behandelt. Als würde von ihnen eine andere Gefolgschaft erwartet. Radikale, die alles niederreissen wollten, wurden verehrt. Über schwarze Amerikaner und andere, die den Westen feierten und zu ihm beitragen wollten, wurde geredet, als seien sie Abtrünnige. Zunehmend waren sie diejenigen, die mit den übelsten Schimpfwörtern bedacht wurden. Ihre Liebe zu der Gesellschaft, der sie angehörten, wurde gegen sie verwendet.

Gleichzeitig wurde es inakzeptabel, über jede andere Gesellschaft auf nur entfernt ähnliche Weise zu sprechen. Trotz der unvorstellbaren Menschenrechtsverletzungen durch die Kommunistische Partei Chinas zu unserer Zeit spricht nahezu niemand mit nur einem Hauch der Wut und Abscheu, die tagtäglich aus dem Westen über den Westen ausgeschüttet wird, über China. Westliche Konsumenten kaufen weiterhin billige Kleidung aus China. Es existiert kein grossflächiger Versuch eines Boykotts. «Made in China» ist kein Abzeichen der Schande. Schreckliche Dinge gehen momentan in diesem Land vor, dennoch wird es als völlig normal behandelt. Autoren, die sich weigern, dass ihre Bücher ins Hebräische übersetzt werden, reagieren begeistert auf die Veröffentlichung in China. Während­dessen bekommt die amerikanische Schnellrestaurantkette Chick-fil-A mehr Kritik bei der Produktion im eigenen Land als Nike dafür, seine Sneaker in chinesischen Ausbeutungsbetrieben herstellen zu lassen.

Abschied von der Farbenblindheit

Der Grund dafür: Im entwickelten Westen greifen andere Standards. Im Hinblick auf die Rechte der Frauen und ­sexuellen Minderheiten und natürlich insbesondere, wenn es um das Thema Rassismus geht, wird alles so dargestellt, als wäre es nie schlimmer gewesen, und das an dem Punkt, an dem es nie besser war. Niemand kann die Geissel des Rassismus leugnen – eine Geissel, die sich in gewisser Form überall in der aufgezeichneten Geschichte findet. Eigengruppe und Fremdgruppe sind ein aussergewöhnlich starker Trend in unserer Spezies. Wir sind nicht so weit entwickelt, wie wir gerne denken. Dennoch war in den vergangenen Jahrzehnten die Situation in westlichen Ländern im Hinblick auf Rassengleichheit besser denn je. Unsere Gesellschaften haben sich bemüht, «Rassen» zu überwinden, angeführt vom Beispiel einiger bemerkenswerter Männer und Frauen jeder ethnischen Abstammung, aber bemerkenswerterweise vor allem durch einige herausragende schwarze Amerikaner. Dass westliche Gesellschaften die Tradition von Rassentoleranz entwickeln oder auch nur anstreben, geschah nicht zwangsläufig.

Es lag nicht in der Natur der Sache, dass wir am Ende in Gesellschaften leben, die Rassismus zu Recht als eine der schlimmsten Sünden ansehen. Dazu kam es, weil viele mutige Männer und Frauen sich dafür einsetzten, kämpften und ihre Rechte geltend machten.

In den vergangenen Jahren klang es plötzlich so, als hätte dieser Kampf nie stattgefunden. Als sei es wie durch ein Wunder geschehen. In den vergangenen Jahren begann ich zu glauben, dass Rassenprobleme im Westen wie ein Pendel seien, das über den Punkt der Korrektur hinaus­geschwungen sei zu einem Punkt der Überkorrektur. Als könne Gleichheit fester etabliert werden, wenn das Pendel nur lange genug in Überkorrektur verbliebe. Mittlerweile ist klar: So gut gemeint eine solche Überzeugung auch gewesen sein mochte, sie war dennoch fehlgeleitet. Ethnische Zugehörigkeit ist nun in allen westlichen Ländern auf eine Weise ein Problem wie seit Jahren nicht. Anstelle von Color-Blindness herrscht nun Ultrawahrnehmung. Dabei entsteht ein verzerrtes Bild.

Wie alle Gesellschaften seit Menschengedenken tragen auch die westlichen Nationen Rassismus in ihrer Geschichte. Aber das ist nicht die einzige Geschichte unserer Länder. Rassismus ist nicht die einzige Linse, durch die unsere Gesellschaften betrachtet werden können, und doch ist es zunehmend die einzige Linse. Alles in der Vergangenheit wird als rassistisch angesehen, und deshalb ist alles in der Vergangenheit beschmutzt.

Jedoch trifft das, wieder einmal, nur auf die Vergangenheit des Westens zu, dank der radikalen rassistischen Filter, die über alles gelegt wurden.

Gegenwärtig existiert schrecklicher Rassismus in ganz Afrika: schwarze Afrikaner gegen andere schwarze Afrikaner. Im Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent grassiert Rassismus. Reisen Sie in den Nahen Osten – sogar in die «fortschrittlichen» Golf-Staaten – und Sie finden ein modernes Kastensystem vor. Auch in Indien, dem Land mit der weltweit zweithöchsten Bevölkerungszahl, hält sich munter und erschreckend ein Kastensystem. Dieses geht immer noch so weit, dass bestimmte Menschengruppen aus keinem anderen Grund als dem Zufall ihrer Geburt als unantastbar gelten. Dieses abscheuliche System der Vor-verurteilung ist äusserst lebendig.

Dennoch hören wir sehr wenig darüber. Stattdessen erhält die Welt täglich Berichte darüber, wie in jenen Ländern dieser Welt, in denen in jeder Hinsicht am wenigsten Rassismus herrscht und Rassismus am stärksten verabscheut wird, der Rassismus grassiert. Diese verzerrte Behauptung hat sogar einen verlängerten Arm: Wenn andere Länder Rassismus aufweisen, muss das zweifellos daran liegen, dass der Westen dieses Laster exportiert – als würde die nichtwestliche Welt nur aus paradiesisch Unschuldigen bestehen.

Zivilisatorische Verschiebung

Es ist offensichtlich, dass hier unfaire Regeln greifen. Nach diesen Regeln wird der Westen mit anderen Standards bemessen als die übrige Welt. Diese Regeln lassen es so aus­sehen, als könne es die westliche Welt gar nicht richtig ­machen und die übrige Welt es nicht falsch machen. Oder nur, wenn wir im Westen sie dazu bringen.

Je mehr ich darüber nachdachte und je weiter ich durch diese Welt reiste, desto klarer wurde, dass diese Zeit vor allem durch eine Sache definiert ist: eine zivilisatorische Verschiebung, die zu unseren Lebenszeiten eingesetzt hat. Diese Verschiebung bringt die Grundfesten unserer Gesellschaften ins Wanken, weil Krieg gegen alles in diesen ­Gesellschaften herrscht.

Es ist ein Krieg gegen alles, was unsere Gesellschaften als ungewöhnlich oder gar bemerkenswert auszeichnet. Ein Krieg gegen alles, was die Menschen, die im Westen ­leben, noch bis vor kurzem als selbstverständlich angesehen haben. Damit dieser Krieg erfolglos bleibt, muss er aufgedeckt und zurückgedrängt werden.

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