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Der Weltuntergang ist vertagt
Markus Schär, zvg.

Der Weltuntergang ist vertagt

Die Menschheit stosse an die Grenzen des Wachstums, warnten Wissenschafter vor fünfzig Jahren. Der Rückblick auf die damalige Debatte lohnt sich. Denn wir führen sie heute wieder.

 

Wir leben auf einem grossen Raumschiff mit begrenzten Reserven und schwieriger Abfallbeseitigung», mahnte der freisinnige Bundesrat Nello Celio. Der wirtschaftsnahe Finanz­minister warnte 1970 in seiner Rede am Ustertag vor der «unheimlichen Maschine des Fortschritts» und der «einseitigen Vergötterung des wirtschaftlichen Wachstums». Und er schlug 1973 gar apokalyptische Töne an, als er bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Club of Rome die Laudatio hielt: «Wir kommen immer mehr zur Erkenntnis, dass die im vergangenen Jahrhundert entwickelten Kräfte zwar ungeheure Fortschritte gebracht haben, die wir bisher als segensreich betrachteten, dass sich jedoch die ganze Entwicklung langsam auf einen Abgrund zubewegt.»

Nicht nur den Bundesrat wühlte das Buch auf, das der Club of Rome 1972 herausgab: «The Limits to Growth» sagte voraus, die Menschheit mit ihrer exponentiellen Vermehrung brauche bis zum Jahr 2000 alle wichtigen Rohstoffe auf und stosse deshalb im 21. Jahrhundert an fixe Grenzen – ohne sofortiges Umdenken führe dies zum ­globalen Kollaps. Die Studie, bis heute in 37 Sprachen übersetzt und über dreissig Millionen Mal verkauft, löste eine weltweite Debatte aus. Und sie prägte zumindest im wohlhabenden Westen die Stimmung während des ganzen Jahrzehnts.

Fünfzig Jahre danach steht die Welt wieder am Abgrund, wie die Apokalyptiker in Wissenschaft, Politik und Medien warnen: Wenn die Menschheit nicht sofort ihr Leben ändere, drohe die Katastrophe. Es lohnt sich deshalb, zum Jubiläum auf die erste Debatte um die «Grenzen des Wachstums» in der industrialisierten Welt zurückzuschauen: Warum kam es dazu? Wie wirkte sie sich aus? Und was ist davon zu halten?

Auftragserteilung in Bern

Dass der Schweizer Finanzminister die Thesen der Studie schon zwei Jahre zuvor verkündete, lässt sich leicht erklären: Nello Celio zählte zu den Prominenten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die der italienische Topmanager Aurelio Peccei 1968 in den Club of Rome berief. Der Debattierklub führte 1970 seine erste Jahreskonferenz auf Einladung des Bundesrates in Bern durch. Dort gab er dem MIT-Professor Jay W. Forrester den Auftrag, die «missliche Lage der Menschheit» mit seinem revolutionären Welt­modell per Grosscomputer zu berechnen. Und der MIT-Forscher Dennis Meadows schrieb zusammen mit seiner Frau, der begabten Autorin Donella Meadows, in eineinhalb Jahren die Studie; der Club of Rome stellte sie 1972 an der Smithsonian Institution in Washington und am St. Gallen Symposium vor.

Das Buch schlug rund um den Globus ein, weil es den Zeitgeist traf. Denn in den frühen Siebzigerjahren endete, was heute in der Wirtschaftsgeschichte als «Les Trente Glorieuses» gilt: der historisch einzigartige Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das drei Jahrzehnte lang fast ungebrochene Wachstum brachte den Menschen zumindest im kapitalistischen Westen einen Wohlstand wie nie zuvor in der Weltgeschichte – es machte sie, wie Bundesrat Celio am Ustertag mahnte, aber nicht glücklich.

In der Schweiz führte die allen Dämpfungsmassnahmen trotzende Hochkonjunktur der 1960er-Jahre zur «Überfremdung» aufgrund des Zustroms vorwiegend italie­nischer Arbeitskräfte und zur Zersiedelung des Landes wegen des Baus des Nationalstrassennetzes und des Bevölkerungswachstums aufgrund von Babyboom und ­Zuwanderung. In Westeuropa und in Nordamerika brach die behütet und verwöhnt aufgewachsene Nachkriegs­generation in der Revolte von 1968 mit dem System, das in Vietnam einen sinnlosen Krieg führte und die Massen angeblich im Konsumzwang hielt.

Schon vor dem Club of Rome traten einige Wissenschafter als Propheten auf. Die ikonischen Fotos, die die Apollo-Astronauten 1969 vom Mond zurückbrachten, zeigten die Erde als Raumschiff im Weltall und schufen damit das Bewusstsein für die Verletzlichkeit und Endlichkeit der menschlichen Lebensgrundlagen. Darauf wiesen die Apokalyptiker vor allem beim ersten Earth Day von 1970 hin. Der Zoologe Kenneth Watt befürchtete wegen der Luftverschmutzung, die in fünfzehn Jahren nur noch die Hälfte des Sonnenlichts durchlasse, eine neue Eiszeit. Der Physiker Stephen Schneider drohte der Menschheit in seinem Bestseller «The Genesis Strategy: Climate and Global Survival» aufgrund der Klimaabkühlung zumindest weltweite Hungersnöte an. Und der Biologe Paul Ehrlich warnte wegen der Bevölkerungsexplosion, der die Nahrungsproduktion nicht folge, vor einem Massensterben: «Im nächsten Jahrzehnt werden mindestens 100 bis 200 Millionen Menschen jährlich verhungern.»

«Schon vor dem Club of Rome ­traten

einige ­Wissenschafter als Propheten auf.»

Heikle Prognosen

In der Schweiz stützte sich der Bundesrat auf einen Pionier der Zukunftsforschung, den St. Galler Ökonomen Francesco Kneschaurek. Auch dieser schrieb, wie ihm seine Kritiker vorhielten, einfach das ungebremste Wachstum der «Trente Glorieuses» fort, so vor allem mit der berühmt-berüchtigt gewordenen Prognose, die Schweiz zähle bis ins Jahr 2000 zehn Millionen Einwohner, die die Gemeinden ihrer Planung zugrunde legten. (Francesco Kneschaurek rechtfertigte sich dreissig Jahre danach im Gespräch mit dem Autor, Nello Celio habe bei der Präsentation des Berichts im Bundesrat geschlafen und einige Wochen später bei einem Referat die angebliche Prognose verbreitet, die ihm nachlaufe «wie ein räudiger Hund». Die Planer hätten nur berechnet, bis 2030 könne die Schweiz maximal zehn Millionen Menschen aufnehmen – damit dürften sie, wie mit der Prognose von sieben Millionen bis 2000, nicht schlecht liegen.)

Der nüchterne Ökonom galt schon als «Weltuntergangsprophet», weil er künftig nur noch ein Wachstum von drei statt vier Prozent verhiess. Aber auch in der Schweiz wuchs bereits um 1970 das Bewusstsein heran, dass aufgrund der wirtschaftlichen Überhitzung Schäden für die Gesellschaft drohten. Gemäss dem Historiker Patrick Kupper setzte sich der Diskurs um die Umwelt in diesem Jahr innert weniger Monate durch. 1970 führte die ETH das Symposium «Schutz unseres Lebensraumes» durch, und das Europäische Naturschutzjahr stiess in der Schweiz wider Erwarten der Organisatoren auf grosses ­Interesse. 1971 galt bei den Nationalratswahlen der Umweltschutz, vier Jahre zuvor noch kaum beachtet, als «Spitzenreiter der Themen-Hitparade». Und das Volk nahm am 6. Juni 1971, bei der ersten Abstimmung mit Beteiligung der Frauen, den Umweltschutzartikel in der Bundesverfassung mit 92,7 Prozent an, der zweithöchsten Zustimmung in der Geschichte des Bundesstaats.

In der Schweizer Öffentlichkeit stiess deshalb der weltweite Bestseller zu den «Grenzen des Wachstums» ebenfalls auf grosses Interesse. Die NZZ führte eine monatelange Debatte, an der sich der aufstrebende Ökonom Bruno S. Frey, damals Professor in Konstanz und Basel, massgeblich beteiligte. Und der Nationalfonds zahlte für das Projekt «Neue Analysen für Wachstum und Umwelt», das Wege zu einer umweltkonformen Wirtschaft aufzeigen wollte. Um den St. Galler Ökonomen Hans Christoph Binswanger arbeiteten daran Wissenschafter, die zwanzig Jahre später den Diskurs in der Schweiz prägten, wie Elmar Ledergerber, SP-Nationalrat und Zürcher Stadtpräsident, Peter Gross, Soziologieprofessor in St. Gallen, Wolf Linder, Politologieprofessor in Bern, Hans Werder, General­sekretär von Bundesrat Moritz Leuenberger, und Samuel Mauch, Ehemann der SP-Nationalrätin Ursula Mauch und Vater der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch.

Der Projektbericht, immer noch lesenswert, kam 1979 im deutschen Fischer-Taschenbuch-Verlag heraus: «Wege aus der Wohlstandsfalle». Die Autoren stellten ebenfalls fest, ein stetiges Wirtschaftswachstum würde «unvermeidlich eine Umweltkrise heraufbeschwören». Als zumeist sozialdemokratische Intellektuelle und teils Politiker – Peter Gross, Wolf Linder und Ernst Koenig sassen zu dieser Zeit im Thurgauer Grossen Rat – sahen sie aber auch, dass bei einem Wirtschaftseinbruch Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung drohten: «Wem nützte ein blauer Himmel über der Ruhr, wenn die Fabrikschlote nicht mehr rauchten, die Maschinen stille ständen?» Ihr Bericht wollte deshalb den Ausweg aus diesem Dilemma weisen, nämlich zum Umdenken mahnen: «Unserer Generation bleibt die Chance, durch die politische Aktion die soziale Wirklichkeit mit den ökologischen Voraussetzungen auf dem Raumschiff Erde in Einklang zu bringen.»

Die Stimmung dreht

Zu dieser Zeit, nur sieben Jahre nach der Debatte um die «Grenzen des Wachstums», herrschten völlig andere Umstände. Denn 1971 brach das 1944 in Bretton Woods ­geschaffene Währungssystem zusammen, weil US-Präsident Richard Nixon aufgrund der Verschuldung durch den Vietnamkrieg die Goldbindung des Dollars aufgeben musste, also die Grundlage der Wachstumspolitik der «Trente Glorieuses», die – mit einem mutwilligen Missverständnis der Lehren von John Maynard Keynes – in jeder Delle die Ausgaben hochfuhr, aber in keinem Boom wieder zurücknahm. Und 1973 drosselten die arabischen Opec-Staaten im Jom-Kippur-Krieg gegen Israel die Erdölförderung, was den Preis für die wichtigste Ressource hochschnellen liess. Das führte zur Krise, besonders schwer in der Schweiz, die 200 000 Fremdarbeiter nach Italien zurückschickte und 1975 einen heute unvorstellbaren Einbruch des BIP um 7 Prozent erlitt.

Die schwerste weltweite Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit bestätigte die Kritik am Club of Rome, die schon wichtige Stimmen in der Debatte der NZZ geäussert hatten. Bruno S. Frey wandte ein, das Weltmodell führe nur zwingend zum Zusammenbruch, weil es von der Annahme ausgehe, dass die Fortschritte der Umwelttechnik nicht mit den Schäden aufgrund des exponentiellen Wachstums mithielten. Und Christian Lutz, NZZ-Korrespondent in Brüssel, warb in einer vierteiligen Analyse für Vertrauen in die anpassungsfähige Marktwirtschaft: «Wenn ein Mann wie EWG-Kommissionspräsident Mansholt aus der MIT-Studie den Schluss zieht, nur eine durchgreifende zentrale Wirtschaftsplanung vermöchte eine Katastrophe zu verhindern, so hilft er sie damit herbeizuführen, denn der Haupteffekt einer straffen zentralen Planung besteht nach allen Erfahrungen darin, gerade jene ständigen Anpassungen der funktionellen Zusammenhänge, die im MIT-­Modell fehlen, auch in Wirklichkeit zu ersticken.» Christian Lutz löste 1980 als Direktor des Gottlieb-Duttweiler-Instituts den Untergangspropheten Hans A. Pestalozzi ab, der wegen seiner Streitschrift «Nach uns die Zukunft» ­gegen das Wachstum, auch jenes der Migros, fristlos entlassen worden war. Seine eigene, optimistische Zukunfts­forschung ist gut gealtert.

Fünfzig Jahre danach ist die These von den «Grenzen des Wachstums» endgültig widerlegt. Zum einen schafften es die demokratischen Staaten, ihre dringenden ökolo­gischen Probleme wie Luft- und Gewässerverschmutzung, Lärmbelastung und Zersiedelung zu lösen oder zumindest zu mindern. Dies obwohl sie dafür über weniger Mittel verfügten als in der Hochkonjunktur, weil das Wachstum stark zurückging, in der Schweiz auf nur noch gut 1 Prozent, was zu schwerer Staatsverschuldung führte. Zum ­anderen brachte die kapitalistische Marktwirtschaft mit ihrem Preismechanismus die Anpassungen, die schon Christian Lutz beschwor, also Innovation und Substitutionen. Deshalb gingen die Rohstoffe nicht aus, ja ihre Preise sanken dank des wachsenden Angebots sogar.

«Der Zoologe Kenneth Watt befürchtete

wegen der Luftverschmutzung,

die in fünfzehn Jahren nur noch

die Hälfte des Sonnenlichts durchlasse,

eine neue Eiszeit.»

Dies weist der MIT(!)-Dozent Andrew McAfee in seinem Buch «Mehr aus weniger» von 2019 nach: Er erzählt darin «die verblüffende Geschichte, wie wir lernten, mit einem geringeren Konsum von Ressourcen zu prosperieren». In den USA geht von 72 wichtigen Rohstoffen nur bei sechs der Verbrauch nicht zurück. Und die Farmer brauchen für ihre stetig wachsenden Ernten immer weniger Dünger, Wasser und Land. Deshalb gaben sie seit 1985 eine Fläche so gross wie den Gliedstaat Washington der Natur zurück. Diese Entwicklung hin zur Dematerialisierung zeigt sich in den meisten westlichen Staaten, auch in der Schweiz.

Dennoch treten heute wieder Wissenschafter mit Computermodellen auf, die vor dem Zusammenbruch warnen und den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft fordern. Und die Apokalyptiker in Politik und Medien sagen gar das Aussterben der Menschheit im Raumschiff Erde voraus. Der Rückblick auf die Debatte vor fünfzig Jahren ist auch ihnen zu empfehlen.

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