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Der weitergetragene Antisemitismus
Ahmad Mansour. Bild: Lena Giovanazzi / laif.

Der weitergetragene Antisemitismus

Die jüngsten Ausschreitungen in Europa zeigen, dass der ­antijüdische Hass, der von islamischen Gemeinschaften ausgeht, viel zu lang tabuisiert worden ist.

 

Ich lebe seit 16 Jahren in Deutschland und bin Deutscher, Palästinenser und arabischer Israeli. Das bedeutet, dass ich mich schon mein ganzes Leben lang mit antisemitischem Hass auseinandersetzen musste. Wie immens dieser unter Arabern ist, begriff ich erstmals im Januar 1991. Ich war damals vierzehn Jahre alt und kauerte in einem kleinen Vorort von Tel Aviv mit meinen Eltern und Geschwistern in einem von meinem Vater mit Plastikfolien und Brettern zum Schutzraum umfunktionierten Zimmer unseres Hauses. Das ganze Land befürchtete einen Gasangriff der Iraker. Wie alle Nachbarn, ob Muslime oder Juden, hatten wir uns mit reichlich Lebensmitteln und Vorräten eingedeckt, um auf einen längeren Krieg vorbereitet zu sein – Angst und Anspannung lagen in der Luft. Dann kamen die Sirenen. Wir hörten die Explosionen von Bomben. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst gehabt wie an diesem Tag. In der Stille danach sah ich die bangen Blicke meiner beiden kleinen Brüder hinter den grossen Gläsern ihrer Gasmasken. Plötzlich ertönten laute Schreie. Ich dachte: So hören sich der Tod und das Sterben an. Minuten später war jedoch klar, was diese Schreie tatsächlich waren: Es handelte sich um ­Jubel von Muslimen! Und zwar aus Freude darüber, dass ein ara­bisches Land es geschafft hatte, Israel anzugreifen. Unsere Nachbarn tanzten auf den Dächern, frohlockten «Allah’hu akkbar» (Gott ist am grössten) und waren ganz ausser sich.

Das konnte ich kaum fassen. Wir hatten doch alle Angst, ob jüdische oder arabische Israelis. Wir waren alle bedroht worden. Woher kam so viel Hass? Nach diesem Tag beschloss ich, ver­stehen zu wollen, was Menschen so auseinanderdividiert, dass das Leid der anderen ignoriert, ja sogar gefeiert wird. Deshalb studierte ich später Psychologie an der Universität von Tel Aviv, auf Hebräisch, das ich seit der dritten Klasse gelernt hatte. Viele jüdische Kommilitonen und Professoren zählten damals wie heute zu meinen Unterstützern und Freunden.

Schimpfwort «Jude»

Heute lebe ich in Berlin. Mein Wunsch, dass meine Familie und ich in Europa eine bessere, sichere Zukunft ohne Angst haben ­mögen, scheint aber ein Wunsch zu bleiben. Vieles, was ich an Hass, Antisemitismus und Vorurteilen gerne hinter mir lassen wollte, begegnet mir auch hier täglich: Angriffe auf Juden oder antisemitische Demonstrationen, bei denen junge Menschen selbstbewusst auf Arabisch, Türkisch und Deutsch ihre Vernichtungsfantasien gegen Israel rufen, Juden beschimpfen und Synagogen attackieren. So war es, als immer wieder kippatragende Personen angegriffen wurden, so war es, als Schülerinnen und Schüler gemobbt wurden, nur weil sie jüdisch waren. Und so war es 2006, 2008, 2014, 2017 und 2021, als die Angriffe von Terrororganisationen auf Israel eskalierten und dessen Militär reagierte, worauf sich daraufhin auf den Strassen Europas ein antisemitischer Mob ­formierte. Antisemitismus kostete in Halle, Paris, Kopenhagen, Nizza, Brüssel und in Toulouse Menschenleben. Die Lage ist so ernst geworden, dass viele Juden Europa für immer in Richtung ­Israel verlassen. Das ist eine Tatsache, die uns alle zum Handeln bewegen muss. Es ist eine Schande, dass Juden Europa den Rücken zukehren, um Sicherheit im Nahen Osten zu finden.

«Warum werden Personen aus muslimischen Gemeinschaften hofiert,

zu Mahnwachen eingeladen und finanziell unterstützt, die nachweislich

die Antreiber des Antisemitismus unter Muslimen sind?»

Damit keine Zweifel aufkommen: Natürlich ist Antisemitismus herkunftsübergreifend, natürlich existiert er auch in der ­jeweiligen Mehrheitsgesellschaft europäischer Länder, heute etwa in der linksradikalen Szene, in der rechtsradikalen Szene, aber auch in der Mitte der Gesellschaft. Dass aber in arabischstämmigen, türkischstämmigen, ja generell in muslimischen ­Gemeinschaften in Europa endemischer Judenhass existiert, wird kaum beachtet. Weder setzt man sich innerhalb dieser Gruppen damit auseinander – ganz gleich, ob in traditionellen oder in politischen Milieus – noch sieht die Mehrheitsgesellschaft genau hin. Relativierungsversuche, die Angst, Rechtsreaktionäre in ihren Vorurteilen zu bestätigen, sowie der stetig wiederkehrende Hinweis, dass es in Europa immer Antisemitismus gegeben habe, sind die üblichen Verdrängungsstrategien, um eine Auseinandersetzung mit dem Thema zu vermeiden. Medien und Politik ignorieren die Angelegenheit erfolgreich, während die Zivilgesellschaft eingeschüchtert und so verunsichert ist, dass sie sich längst nicht mehr traut, Probleme anzusprechen, die mit Muslimen und Migranten zu tun haben. Dazu gehört etwa, dass das Wort «Jude» unter Jugendlichen aus diesen gesellschaftlichen Gruppen zu einem der gängigsten Schimpfworte geworden ist. Vorurteile, Stereotype, Verschwörungstheorien grassieren in diesen Gemeinschaften. «Juden sind dreckig, betrügerisch, geld­gierig», hört man. Und: «Sie beherrschen die Welt.» Oder auch: «Sie sind von Allah verflucht und unsere Feinde.» Vielen gilt als Fakt, dass Juden keine Steuern zahlen würden oder dass deutsche Supermarktketten, Internetkonzerne oder jüdische Firmen den Gaza-Krieg mitfinanziert haben sollen. Der Staat Israel scheint ihnen als ein monolithischer Block. Viele wissen nicht einmal, dass dort Araber leben. Den meisten ist unbekannt, dass es in ­Israel Kriegsdienstverweigerer gibt, eine starke politische Opposition und einen lebendigen Pluralismus mit vielen politischen Strömungen.

Unwissen, Fehlinformationen und Fake News haben unter den Jugendlichen enorme Ausmasse angenommen – und sie sind die Norm. Die Entwicklung dieses Weltbildes beginnt im Elternhaus, es wird vererbt, weitergegeben und darf nicht hinterfragt werden. Dort und bei Freunden hört und sieht man via Satellitenschüsseln arabische und türkische Sender. Manche verbreiten ­direkt Hetze gegen Israel und Juden, andere arbeiten geschickt mit Verschwörungsbildern und Unterstellungen in den sozialen Medien. In so manchen Moscheen geschieht Ähnliches, und zuletzt werden diese Stereotype noch in den Peer-Groups verstärkt. Dazu kommt eine Erziehung, die eigenes Denken nicht fördert, in der die kleinen Jungen Paschas sind und Gewalt oft als legitimes Mittel gegen den «Ungehorsam» von Kindern gilt.

Grenzen der Aufklärung

Angesichts all dessen ist der Schulunterricht, etwa in Geschichte oder Gesellschaftskunde, wie er gegenwärtig in Deutschland praktiziert wird, gegen den Antisemitismus dieser Gemeinschaften fast machtlos. Er erreicht diese Jugendlichen schlicht nicht. Curricula sind auf herkunftsdeutsche/-europäische Kinder und Jugendliche ausgelegt. Für Heranwachsende mit arabischem oder türkischem Hintergrund ist es deshalb sehr einfach, die rheto­rische Frage «Was haben wir, was hatten unsere Eltern oder Gross­eltern denn mit dem Holocaust zu tun?» zu stellen.

Nach den feigen, antisemitischen Mobs, die dieses Frühjahr wieder in Europa aktiv wurden, wird die Politik bald wie gehabt reagieren. Man wird eifrig Fachtagungen organisieren, während muslimische Vertreter behaupten werden, Antisemitismus habe mit ihren Milieus nichts zu tun. Man wird Israel und seine Politik für den Hass selbst verantwortlich machen, es wird heftig debattiert werden, wobei die heute institutionalisierte Verharmlosung der Judenfeindschaft eine grosse Rolle spielen wird. Dann werden Regierungen PR-wirksam hier und da ein paar Euro für Präven­tionsarbeit freigeben – ob diese aber tatsächlich wirkt, weiss man nicht genau.

Ob solche Schritte für die ernsthafte Bekämpfung des Antisemitismus in den betroffenen Gemeinschaften von Nutzen sind, wage ich ernsthaft zu bezweifeln. Damit wird es lange nicht getan sein, wenn man einen wirklichen Wandel dieser gefährlichen Ressentiments erreichen möchte, die keineswegs Probleme am Rande der Gesellschaft sind. All die Jahre, während derer sich Beamte und Geldgeber mit Anträgen, Projektbeschreibungen und Dokumentationen beschäftigt haben, hat sich der Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund, Flüchtlingen oder muslimischen Einwohnern schleichend zu einem Alltagsphänomen entwickelt, das Juden in Berlin, Bern, Wien oder Paris daran hindert, in bestimmten Gegenden sicher spazieren gehen zu können.

Nicht allein das Wegsehen der Mehrheitsgesellschaft lässt den Antisemitismus dieser Milieus ungehindert blühen, sondern auch ihre erschreckende Naivität. Wie kann es zum Beispiel sein, dass die Hamburger Regierung mit den dort ansässigen muslimischen Verbänden kooperiert, obwohl diese seit Jahren an antisemitischen Demonstrationen teilnehmen und diese in manchen Fällen sogar mitorganisieren? Wie kann es sein, dass die Regierung in Nordrhein-Westfalen dem türkischen Präsidium für Religions­angelegenheiten, der DITIB, einen Zugang zu Religions­unterricht an staatlichen Schulen ermöglicht, obwohl dieser Verband gleichzeitig seine antisemitischen Einstellungen für die ganze Welt sichtbar zeigt? Wie kann es sein, dass in manchen Kantonen in der Schweiz bei den Integrationskursen das Thema Antisemitismus gar nicht auftaucht, dafür aber mehrere Stunden über Mülltrennung gesprochen wird? Viel wichtiger noch: Warum werden sogar Personen aus muslimischen Gemeinschaften hofiert, zu Mahnwachen eingeladen und finanziell unterstützt, die nachweislich die Antreiber des Antisemitismus unter Muslimen sind? Warum ist die Angst, dass diese Themen Rechtsradikalen in die Hände spielen könnten, wichtiger als die Angst der Juden? Warum werden sie alleine gelassen, wenn es um ihre Sicherheit geht? Antisemitismus trifft nicht nur Juden. Antisemitismus ist ein Symptom einer kranken Gesellschaft. Wo Antisemitismus herrscht, stirbt am Ende die Demokratie.

Was tun?

Es muss tiefgreifend umgedacht werden. Wenn der Antisemitismus dieser Gemeinschaften bekämpft werden soll, müssen sich vor allem die pädagogischen Prozesse viel klarer und gezielter an alle Schülergruppen wenden und nicht im innerschweizerischen oder innerdeutschen Kontext verharren. Das dichotomische Denken in diesen Milieus muss dringend aufgelöst werden. Dazu müssen vor allem die Gemeinschaften selber das Problem erkennen und mutig benennen. Es muss möglich werden, dass sie sich mit dem real existierenden Antisemitismus auseinandersetzen, damit sie ihre religiös-politischen und ideologischen Inhalte ernsthaft hinterfragen. Die Empörung muslimischer Verbände über die jüngsten antisemitischen Ereignisse in Europa klang gut, versuchte aber den Eindruck zu erwecken, hier handle es sich um «Einzelfälle». Wenn sie ihre Worte wirklich ernst meinen, sollten sie aufhören, Antisemitismus mit «antimuslimischem Rassismus» gleichzusetzen. Was Antisemitismus angeht, sind sie Täter und als solche sollten sie sich wahrnehmen, um reflektieren zu können und vielleicht neue Wege zu gehen. Diese Wege sollen dazu führen, dass in jeder Moschee in Europa die Gläubigen direkt und kritisch angesprochen werden. Ihnen muss vermittelt werden, dass diejenigen, die hier leben und sich integrieren wollen, Israels Existenzrecht anerkennen müssen. Sie müssen heilige Texte hinterfragen und lernen, diese in ihrem lokalen historischen Kontext zu interpretieren, sowie jegliche antisemitischen Passagen, die sich in ­solchen Texten finden, ablehnen.

«Antisemitismus ist ein Symptom einer kranken Gesellschaft.

Wo Antisemitismus herrscht, stirbt am Ende die Demokratie.»

Derweil muss die Mehrheitsgesellschaft den Mut finden, diese Fragen direkt anzusprechen und anzugehen. Lehrer an schweizerischen, deutschen und österreichischen Schulen dürfen nicht – wie es bisher oft der Fall war – davor zurückschrecken, konflikt­reiche Themen wie die Geschichte und die Gegenwart des Nahen Ostens zu behandeln. Dafür brauchen sie aber adäquate pädagogische Werkzeuge, eine bessere Ausbildung und neue Lehrpläne. Ermöglichen Schulen dies nicht, werden in den sozialen Medien anderweitige Informationen gesucht und konsumiert, die den Konflikt nicht sachlich, sondern in einseitigen Schwarz-Weiss-Bildern schildern, die Hass und Aggressionen reproduzieren.

Einsichten aus der Praxis

Persönliche Begegnungen mit jüdischen Jugendlichen oder Familien bewirken oft sehr viel, auf beiden Seiten. Doch sie finden so gut wie gar nicht statt. Wichtig ist zudem, dass manche palästinensische Jugendliche – nicht generell alle Muslime – tatsächlich traumatische Erfahrungen gemacht haben. Sie brauchen Raum für ihre Empfindungen, und ihre Erlebnisse müssen anerkannt werden. Dies jedoch nicht, um sie in einem Opferstatus zu bestätigen oder um Feinbilder festzuzurren, sondern im Rahmen einer sinnvollen Auseinandersetzung mit der komplexen Geschichte des Nahen Ostens.

Erfahrungen in der Präventionsarbeit zeigen, dass auch arabisch- und türkischstämmige Jugendliche gut erreichbar sind, wenn sie einem Holocaust-Überlebenden oder einem Juden zuhören, ihnen persönlich begegnen, auf Augenhöhe diskutieren und ihnen Fragen stellen. Ich habe gesehen, dass viele von Erlebnissen ergriffen und beeindruckt sind. Das gilt auch für das ­gemeinsame Anschauen kluger Dokumentarfilme wie «To Die in Jerusalem». Wenn dort die Eltern der jungen Palästinenserin, die bei einem Selbstmordattentat eine gleichaltrige Israelin getötet hat, mit den Eltern des Opfers zusammentreffen, verschlägt es vielen jungen Zuschauern die Sprache, denn die beiden 18-Jährigen – Täterin und Opfer – sehen sich so ähnlich wie Schwestern. Solche Einsichten vermitteln Wissen und Empathie, und genau das brauchen wir. Um Hass etwas entgegenzusetzen, müssen wir dort aktiv werden, wo er entsteht: vor allem im Netz, wo Halbwahrheiten und hochemotionalisierte Schwarz-Weiss-Darstellungen zirkulieren – zum Beispiel solche, die nahelegen, Israel sei der Täter, böse und als Staat falsch, während die Palästinenser, auch die Hamas, die Opfer oder «die Guten» seien. Hier müssen wir digitale Sozialarbeit betreiben, Gegennarrative schaffen und Wissen vermitteln, differenziert und sachlich. Aus eigener Erfahrung weiss ich auch: Unterricht über den Israel/Palästina-Konflikt ist in allen Schulen notwendig und richtig. Dafür müssen Lehrer aber befähigt werden, das Thema jenseits von Emotionen und ­falschen Tatsachen zu bearbeiten. Die Bereitschaft dazu sehe ich allerdings nur selten – und das, wo es doch gar nicht genug davon geben könnte.

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