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Der Weg aus der Armut
Mario Vargas Llosa. Bild: Francesca Mantovani/Opale/Laif.

Der Weg aus der Armut

Viele unterentwickelte Länder sind Gefangene kollektivistischer Ideologien. Dagegen hilft nur ein Bewusstseinswandel hin zu ­einer freiheitlichen ­Gesellschaft.

 

Bemerkenswert an der heutigen Zeit ist nicht, dass es reiche Länder gibt, sondern arme. Bei allem, was wir über Entwicklung, Unternehmen, Investitionen wissen, sollte es arme Länder auf der Erde nicht mehr geben. Und dennoch sind vier Fünftel der Menschheit von Armut und Arbeitslosigkeit bedroht, nur die wenigsten Länder haben einen so hohen Lebensstandard erreicht, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Zugang hat zu einer Bildung, die diesen Namen verdient, zu Arbeit und einem funktionierenden Gesundheitssystem, kurz, zu einem würdigen Leben.

Wie sich das erklärt? Nun, der Populismus, die Suche nach dem Paradies, die sozialistischen und kommunistischen Träume sind nach wie vor lebendig, so offenkundig die Wirklichkeit sie bei allen bisherigen Versuchen, die Gesellschaft nach dergleichen Idealen zu organisieren, auch widerlegt hat. Sie sind sämtlich gescheitert, und doch richten sie in grossen Teilen der Welt weiterhin ihr Unheil an, mit Unterstützung all jener, die an den Universitäten, in den Medien und in aktivistischen Kreisen der politischen Korrektheit das Wort reden und die Kultur der Freiheit verteufeln. Angesichts so vieler Niederlagen, die diese Lehren haben einstecken müssen, sollte das nicht der Fall sein. Doch der Irrtum – in der Politik vor allem – treibt sein Unwesen ungeniert, zumal in den sogenannten unterentwickelten Ländern, und vorerst sieht es nicht so aus, als würde sich etwas daran ändern.

«Der Populismus, die Suche nach dem Paradies,
die sozialistischen
und kommunistischen Träume
sind gescheitert,
und doch richten sie
in grossen Teilen der Welt weiterhin ihr Unheil an.»

Der Staat erstickt die Wirtschaft

Dabei wissen wir sehr genau, was ein Land tun sollte, um aus dem Elend herauszufinden und sich zu entwickeln, auch welcher Massnahmen es bedarf, um eine Wirtschaft auf die Beine zu stellen, die der breiten Bevölkerung eine Teilhabe erlaubt und den Menschen ein anständiges Leben ermöglicht, einigen, den Tüchtigsten oder Visionärsten, auch ­einen Reichtum, wie ihn die fortschrittlichsten Gesellschaften denjenigen zugestehen, die für sie von grösstem Nutzen sind.

Will ein Land die Unterentwicklung hinter sich lassen und zu Wohlstand gelangen, muss es seine Wirtschaft öffnen, denn in der gegebenen Situation befindet es sich zum grossen Teil aufgrund seiner geschlossenen Strukturen und eines Staates, der dazu tendiert, ökonomische Aktivitäten zu monopolisieren, womit er die Wirtschaft erstickt. Solange sie vom Staat kontrolliert wird, ist die Folge unweigerlich Korruption, die Privilegierung eines kleinen Kreises von Bürokraten, wissenschaftliche und techno­logische Rückständigkeit und die Abhängigkeit vom Ausland, will sagen ihre Unterwerfung unter die entwickelteren und wohlhabenderen Länder. Öffnung der Wirtschaft bedeutet zunächst ihre Privatisierung, das heisst die Überführung einer Staatswirtschaft in eine freie Wirtschaft, in der es die Zivilgesellschaft ist, die sich ihrer annimmt, nicht eine kleine Minderheit, die sie für den Staat im Griff hält und auch noch vorgibt, sie handle zum Wohle der Mehrheiten, mithin der unterprivilegierten Schichten. Wie oft haben wir diese Lüge schon gehört! Auch in Zukunft werden wir sie bestimmt weiter zu hören bekommen.

Falsches Bild des Unternehmers

Die Überführung einer etatistischen oder Staatswirtschaft in eine freie Wirtschaft ist relativ einfach und rasch zu bewerkstelligen, vorausgesetzt, es gibt eine Regierung, die sich dieses Ziel auf die Fahne geschrieben hat, sich also ­dafür einsetzt, die durch die angeblichen Vorzüge staat­lichen Handelns gehemmte Wirtschaft zu öffnen. Dafür muss sich allerdings ändern, was sich die breite Masse unter einem typischen Unternehmer vorstellt und was auch in den Köpfen der von kollektivistischen Ideen verblendeten Eliten spukt. Am weitesten verbreitet ist die Version, wonach der Unternehmer ein egoistischer und habgieriger Mensch ist, der nur ans Geldverdienen denkt, dem Grossherzigkeit fremd ist und der sich jeglicher Tricks bedient, auch ungesetzlicher, um auf Kosten der hungernden Massen Reichtümer anzuhäufen und zu immer grösserer Macht und Einfluss zu gelangen.

Diese Vorstellung ist natürlich falsch, um nicht zu sagen dumm. Einige Unternehmer mit einer solchen Haltung mag es geben, und in der Regel sind sie Verführte eines Systems, das sie zu einem derartigen Handeln antreibt. In einer freien Gesellschaft aber sind es vor allem sie, die ­Unternehmer, die schneller als ihre Mitbürger die Zukunft in den Blick nehmen, Bedürfnisse im vorhinein ausmachen und, indem sie Steuern zahlen und Arbeitsplätze schaffen, der Gesellschaft Fortschritt ermöglichen. Nicht mit Hass sollte man ihnen begegnen, sondern mit Respekt und Bewunderung, wie wir es aus entwickelteren, moderneren Ländern kennen.

Allerdings gehört ein solches Umdenken in Ländern, in denen der Populismus und der Kollektivismus ihre Verheerungen angerichtet haben, zum Allerschwierigsten. Öffnet sich ein Land jedoch aus der wirtschaftlichen Isolation und geht den Weg in die Freiheit, ergibt sich der Mentalitätswandel automatisch, wenn nur die Bevölkerung in ihrer Mehrheit erkennt, dass allein die Privatwirtschaft in der Lage ist, Arbeitsplätze zu schaffen, die Menschen zu versorgen und die öffentliche Verwaltung zu stärken.

Ein Magnet für Dollars

Sich der Welt zu öffnen heisst nicht nur, die Privatwirtschaft innerhalb der nationalen Grenzen anzukurbeln, nein, sich der Welt zu öffnen heisst – durchaus wörtlich verstanden –, sich allen Märkten auf dem Planeten zu öffnen und von Anfang an Orte zu etablieren, an denen sich nationale Produkte verkaufen und möglichst einfach jene erwerben lassen, an denen es zu Hause fehlt, heisst, mit anderen Worten, die Wirtschaft anzukurbeln, indem man sich zunutze macht, was die heutigen Märkte auszeichnet, anders als früher, als die zeittypischen Voreingenommenheiten überwogen und wir es mit eingeschränkten oder geschlossenen Märkten zu tun hatten. Heute verschliessen sich im Wirtschaftsleben nur sehr wenige Länder, die meisten versuchen, sich in die Weltmärkte zu integrieren, eben weil sie um die Vorteile für die eigene Volkswirtschaft wissen. Mit diesen grundlegenden Massnahmen wird ein Land schon interessant für ausländische Investitionen.

Unmengen von Dollars ziehen um die Welt und wollen investiert werden. Natürlich nicht irgendwo. Der Satz «Es gibt nichts Feigeres als eine Million Dollar» könnte wahrer nicht sein. All diese Dollars suchen nach Sicherheit, nach Unterstützung durch internationale Institutionen oder Banken, das Risiko einer Investition wäre sonst zu hoch. Deshalb müssen Länder, die Kapital anziehen wollen, sich also um diese Dollars bemühen – hauptsächlich die sogenannten unterentwickelten oder Entwicklungsländer –, attraktive und vor allem absolut sichere Investitionsmöglichkeiten bieten. Investitionen wird es immer geben, Nutzniesser aber sind all jene Länder, die sich der Welt wirklich öffnen. Zwar fliessen Investitionen heute vor allem aus entwickelten Ländern in Länder, die ebenfalls recht hoch entwickelt sind, aber sie sind eher uninteressant im Vergleich zu Investitionen in unterentwickelten Ländern, wo die Renditen aufgrund des sehr viel niedrigeren Entwicklungsstands in der Regel ungleich höher sind.

Chancengleichheit ist der Schlüssel

In einem armen Land birgt die Öffnung gegenüber der Welt natürlich immer die Gefahr, dass sich unverhältnismässig hohe Einkommen herausbilden, in manchen Bereichen geht es wirtschaftlich nur sehr langsam voran, in anderen, oft nur wenigen, sehr schnell. Daher die enormen Einkommensunterschiede, wie sie etwa in Chile, einem Land, das mit seiner Öffnungspolitik auf dem richtigen Weg zu sein schien, die Menschen auf die Strasse getrieben haben, weil das zur Mittelschicht aufstrebende oder aufgestiegene Proletariat eine derart ungleiche Verteilung des Reichtums nicht länger hinnehmen wollte.

Um solchen Unterschieden vorzubeugen, kennt der ­Liberalismus eine geeignete Massnahme: die Gewährleistung von Chancengleichheit. Sie ist ein wesentliches Moment des Fortschritts und ein unabdingbares Mittel für ­Demokratien, um auf dem Weg aus der Armut die soziale Gerechtigkeit garantieren zu können. Das betrifft zuallererst den Sektor der Bildung. Es ist nicht gerecht, dass Menschen je nach Angehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe in den Genuss ihrer Wohltaten kommen oder nicht. Wer seine schulische Ausbildung, wie so viele Kinder aus den weniger privilegierten Schichten, in erbärmlichen Einrichtungen erhalten hat, mit kaum Lehrpersonal und ohne technische Ausstattung oder Bibliotheken, ist verdammt zu den schlechtesten Jobs; wogegen die jungen Leute aus den privilegierten Schichten, die sich eine gute Schule leisten können, Zugang haben zu Berufen oder Funktionen, die als Sprungbrett in die Elite der Gesellschaft und zu den höchsten Gehältern dienen. Das beste Mittel zur Bekämpfung dieser Ungerechtigkeit ist Bildung. Was auch heisst, dass ein Land, das sich der Gerechtigkeit in Freiheit verschreibt, beträchtliche Summen in die Hand nehmen und für einen hohen Standard im öffentlichen Bildungswesen sorgen muss, es muss die besten Lehrer ausbilden und bezahlen, muss Schulen und Hochschulen bauen, die mit den privaten konkurrieren können oder sogar besser sind als diese. Es gibt keinen anderen Weg zu einer solchen Gleichheit, als sie von Anfang an herzustellen, nur so formt sich, an ihren Wurzeln, eine wirklich egalitäre Gesellschaft, in der junge Menschen aus allen sozialen Schichten zu gleichen Bedingungen miteinander wetteifern.

Viele werden jetzt denken, das sei ein unmöglich zu erreichendes Ideal. Aber das stimmt nicht. Frankreich hatte einmal ein öffentliches Bildungssystem auf allerhöchstem Niveau, Arbeiter schafften es so in führende Positionen. Argentinien, um ein unterentwickeltes Land zu nennen, das damals so unterentwickelt gar nicht zu sein schien, war zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ein Land mit einem öffentlichen Bildungssystem, auf das die Welt voller Neid und Bewunderung blickte.

Chancengleichheit kann hervorragend funktionieren; sie ist eine wesentliche Grundlage in einer solchen Phase der Öffnung, wenn wir nicht wollen, dass der Prozess der Befreiung, den ein Land auf dem Weg aus der Armut einschlägt, durch wirtschaftliche Verzerrungen und Ungleichheiten zunichtegemacht wird. Auf die Umsetzung kommt es an, in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, aber gerade in der Bildung gilt es die Folgen des Wandels abzufedern, schliesslich sind hier, erst recht mit Blick auf die Zukunft, die auf hohen Einkommen und intellektuellen Vorteilen gründenden Privilegien am deutlichsten zu spüren. Genauso liesse sich jeder andere der Vermittlung von Wissen und Kenntnissen dienende Bereich nennen. Das Bildungswesen hebe ich insofern hervor, als es der umfassendste Bereich ist und hier wie nirgends sonst alle Gesellschaftsschichten zusammentreffen, was auch heisst, dass es hier zu den grössten Konflikten zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen kommt. Ebendeshalb, um Konflikte zu vermeiden, und damit gerade die Benachteiligten in den Genuss der Veränderungen kommen und nicht nur die ohnehin Privilegierten, sollten in der Bildung – immer im Rahmen des Möglichen – alle Ausgaben erlaubt sein.

Politische Führung ist entscheidend

Keine Frage, die Öffnung eines Landes nach innen wie nach aussen ist kein Spaziergang, das Land ist anfällig für Krisen und Konflikte, Dramen nicht ausgeschlossen. Es ist eine Übergangsphase, und je nachdem, in welchem Zustand sich das Land befindet und in welchem Tempo der Wandel angegangen wird, lässt sich diese Phase abkürzen oder in die Länge ziehen. Die Veränderungen dürfen nicht so schnell vonstattengehen, dass grössere gesellschaftliche Verwerfungen unvermeidlich sind, und auch nicht so langsam, dass sie den Eindruck erwecken, es bliebe alles beim Alten. Eine Formel für die Geschwindigkeit der Veränderungen, gültig für alle Länder, gibt es nicht. Alles hängt von der politischen Führung ab und davon, inwieweit sich eine Mehrheit der Bevölkerung für die Reformen begeistern lässt. Je motivierter die Menschen sind, je grösser das Bewusstsein dafür, wie wichtig solche Veränderungen sind – und dass die Reformen in die richtige Richtung gehen und Schritt für Schritt überprüft werden können –, desto leichter fällt es, die damit einhergehenden Schwierigkeiten hinzunehmen und sich dem Neuen anzupassen.

Am wichtigsten, allerwichtigsten ist es, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Land, das sich nach innen wie zur Welt hin öffnet, strebt nach Wohlstand und echter sozialer Gerechtigkeit, nach einem System, in dem alle Menschen in einen Wettbewerb um höhere Einkommen treten können und sich niemand aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage an den Rand gedrängt sieht, verurteilt zu einer armseligen Bildung, zu mangelnder Gesundheitsversorgung oder zum Betteln auf der Strasse. Dieses Ideal sollte das Engagement der Menschen wachhalten und sie optimistisch stimmen für den eingeschlagenen Weg der Reformen, im Wissen darum, dass sich das Land in einem Prozess befindet, hin zu wahrem Wohlstand.


Aus dem Spanischen übersetzt von Thomas Brovot.

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