Der Verlobte der Ehefrau
Jürg Amann: «Die kalabrische Hochzeit». Zürich: Arche, 2009.
Die Geschichte beginnt mit einer Zugfahrt. Emma, eine Frau Mitte vierzig, reist von Triest ins süditalienische Calopezzati, das Heimatdorf ihres Verlobten Lorenzo. Im Gepäck hat sie neben einigen Fotos des Geliebten einen zerbrochenen Armreif und eine Rose aus Metall, Geschenke, die sie vor vielen Jahren von ihm bekommen hat und jetzt wieder zurückbringt. Spätestens als am Bahnhof nicht Lorenzo, sondern dessen Bruder Antonio auf sie wartet, weiß der Leser, dass die im Titel angekündigte kalabrische Hochzeit kein rauschendes Fest wird.
Vierzehn Jahre zuvor ist Emma dem sieben Jahre jüngeren Lorenzo in der Disco begegnet. Die schüchterne, sexuell unerfahrene Frau erliegt der selbstsicheren, leicht anrüchigen Ausstrahlung des Süditalieners, der für sie aus einer ganz anderen Welt zu kommen scheint. Lorenzo lebt exzessiv und ziellos. Sein Studium der Politikwissenschaften hat er abgebrochen, verdient seinen Lebensunterhalt als Barkellner und Drogenkurier und unterhält ein reges Liebesleben. Für ihn zählt der Genuss im Augenblick, nicht das Versprechen auf eine nahe oder ferne Zukunft. Nach nur vier Monaten trennt Emma sich von Lorenzo und lässt sich noch am selben Tag mit Carlo ein, einem feinfühligen Dichter, von dem sie sich Halt und Sicherheit erhofft. Obwohl sie keinerlei Leidenschaft für ihn empfindet, heiratet sie Carlo, bekommt mit ihm ein Kind und zieht auf seinen Wunsch nach Triest. Allerdings erweist sich der scheinbar so sensible Poet schon bald als selbstverliebter Träumer, der in den Kaffeehäusern der Stadt seinen Weltschmerz kultiviert und mit den banalen Anforderungen des Alltags nicht belästigt werden will.
Unentschlossenheit und die Sorge um ihre Tochter hindern Emma daran, aus dem Gefängnis ihrer Ehe auszubrechen, bis sich nach exakt zehn Jahren plötzlich Lorenzo wieder bei ihr meldet. Von da an beginnt für Emma ein Doppelleben mit heimlichen Treffen in Bologna oder Venedig, ohne dass sie den Absprung wagt. Zwar führt auch Lorenzo inzwischen eine bürgerliche Existenz, doch sieht sein Zukunftsplan vor, ein Antiquariat zu eröffnen, wo er sich jeden Tag in der Mittagspause mit Emma zwischen den Bücherstapeln zu lieben gedenkt. Anders als früher drängt er Emma jetzt, ihren Ehemann zu verlassen und reagiert auf ihr Zögern abwechselnd verletzt, hämisch oder mit der Drohung, sie nicht mehr sehen zu wollen. Mitten in den sich zuspitzenden Konflikt hinein kommt der Anruf von Lorenzos Tod, der Anlass für Emmas Reise in den Süden wird.
Obwohl die Geschichte reichlich Stoff für abgründige Leidenschaften bietet, herrscht durchweg ein spröder, kühl distanzierter Erzählton. Der Autor vertraut ganz der Erzählperspektive seiner Prota-gonistin, die ihren Gefühlshaushalt nüchtern bilanziert und sich keine emotionalen Auf- oder Abschwünge erlaubt. Ihr deshalb innere Teilnahmslosigkeit zu unterstellen, wäre allerdings voreilig. Wenn Emma im Zug Verse der italienischen Lyrikerin Alda Merini wie ein Mantra vor sich hersagt und zu ihrem Lied macht, wirkt dies authentischer als jeder wortgewaltige Innerlichkeitsmonolog. Wie auch in seinen anderen Texten setzt Jürg Amann auf die Kunst des Andeutens und zeigt einmal mehr, dass Sparsamkeit zu den großen erzählerischen Tugenden gehört.