Der verlängerte Arm des FBI
Die Enthüllung der Twitter-Files zeigt auf, wie staatliche Organe sehr direkt auf die Inhalte von wichtigen Medienplattformen Einfluss nehmen. In einer freien Gesellschaft ist das fehl am Platz.
Im Oktober 2022 übernahm Elon Musk für rund 44 Milliarden Dollar den Kurznachrichtendienst Twitter als privater Besitzer. Als neuer CEO startete er rasant und im Rampenlicht der Öffentlichkeit: Innert Wochenfrist tüftelte er an einem Bezahlmodell für die bisher kostenlose Plattform, verärgerte zahlreiche Nutzer und verlor prominente Werbekunden. Im Dezember liess Musk dann die nächste Bombe platzen: Er spannte einen kleinen Kreis von Journalisten ein – unter ihnen mit Bari Weiss und Michael Shellenberger auch zwei Autoren des «Schweizer Monats» – und liess diese unter dem Stichwort «Twitter-Files» interne Dokumente auswerten. Diese zeigen auf, wie Twitter-Mitarbeiter Inhalte nach politischen Kriterien zensierten und gewisse Geschichten bewusst verschwinden liessen – etwa eine Recherche der «New York Post» zum Laptop von Hunter Biden, auf dem sich E-Mails fanden, die auf problematische Geschäfte in der Ukraine hinweisen – und von denen wohl auch sein Vater wusste, der heutige US-Präsident Joe Biden.
Im deutschen Sprachraum stiessen die Berichte auf wenig Interesse. Das Schweizer Fernsehen SRF fand die Twitter-Files bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe keiner Berichterstattung wert. Mareile Ihde, Leiterin für digitale Kommunikation beim deutschen Beratungsnetzwerk polisphere, erklärte sich im «Faktenfinder» der ARD-«Tagesschau» die Enthüllungen so: «In einer Zeit, in der so viel Desinformation verbreitet wird in den sozialen Netzwerken, ist es logisch, dass dort eine entsprechende Moderation stattfindet.» Letztlich stütze Musk mit der Veröffentlichung der Twitter-Files primär die Narrative vieler Verschwörungserzählungen, die in den USA kursierten, so der «Faktenfinder». In linksliberalen US-Medien war von einem «Nothingburger» die Rede: zwei Scheiben Brot ohne Fleisch, ein Hauch von Nichts also. Zwar gab es auch einzelne Beiträge, welche die Enthüllungen durchaus ernst nahmen, etwa von USA-Korrespondent Martin Suter in der «Sonntags-Zeitung». Trotzdem dominierte die Meinung zu den Twitter-Files: Alles halb so wild.
Propaganda für das Pentagon
Dass Angestellte sozialer Medien in den Informationsfluss auf dem Netzwerk eingreifen (müssen), ist nichts Neues. Doch die Twitter-Files liefern Sprengstoff: So unterstützten Twitter-Verantwortliche etwa direkt Propagandazwecke des Pentagons im Nahen Osten, indem sie die Reichweite von Accounts mit USA-freundlichen Inhalten erhöhten, wie etwa Journalist Lee Fang bei «The Intercept» ausführt. Ein Mailverkehr zeigt, dass ein Angehöriger des Zentralkommandos Centcom, einer Abteilung im US-Verteidigungsdepartement, einem Twitter-Mitarbeiter eine Liste von 52 wohlgesinnten Kanälen zuschickte, deren Wirkung von der Plattform doch bitte verstärkt werden solle. Inhaltlich behaupteten diese Accounts etwa, dass US-Drohnenangriffe im Jemen äusserst treffgenau Terroristen vernichteten und dass dabei kaum je Zivilisten ums Leben gekommen seien. Andere Kanäle machten im Irak Stimmung gegen den Iran. Die enge Kollaboration mit den US-Behörden überrascht: Twitter hatte über Jahre hinweg behauptet, gegen staatliche Propagandakampagnen auf der eigenen Plattform entschieden vorzugehen, wie etwa Unternehmenssprecher Nick Pickles 2020 vor dem Intelligence Committee des US-Repräsentantenhauses betonte.
Standen dagegen Desinformationsvorwürfe von russischen oder chinesischen Akteuren im Raum, so scheute sich Twitter nicht vor Massnahmen: Ab 2017 kommunizierte man der breiten Öffentlichkeit gegenüber, dass die Firma alleine über die Offline-Schaltung einzelner Accounts entscheide. In Tat und Wahrheit hielt ein interner Leitfaden zur gleichen Zeit fest, dass man sich bei der Identifikation von staatsgesteuerten Cyberoperationen auf die Vorarbeit der US-Nachrichtendienste stützen wolle. So nahm Twitter Sperrlisten von Behörden wie dem FBI und der NSA entgegen. Mails zeigen, wie Twitter-Mitarbeiter dafür im eifrigen, ja ständigen Austausch mit FBI-Agenten standen, Daten teilten sowie Für und Wider spezifischer Kontosperren diskutierten. «Der Kontakt von Twitter zum FBI war konstant und durchdringend – als ob Twitter eine Tochterfirma gewesen wäre», schreibt Journalist Matt Taibbi.
«Twitter nahm Sperrlisten von Behörden
wie dem FBI und der NSA entgegen.»
Die Twitter-Files zeigen auch, dass nicht nur staatliche Behörden, sondern auch Vertreter einflussreicher Unternehmen direkten Einfluss auf die Moderations- oder Zensurentscheidungen hatten. So wurde etwa im August 2021 ein Tweet des Arztes Brett Giroir, eines ehemaligen 4-Sterne-Admirals und Interimsleiters der wichtigen Food and Drug Administration, mit einer Warnung versehen. Giroir hatte geschrieben, dass die natürliche Immunität nach einer Covid-Erkrankung der Immunität nach einer Covid-Impfung deutlich überlegen sei. Deshalb gebe es keine wissenschaftliche Rechtfertigung, von Menschen, die zuvor an Covid erkrankt seien, einen Impfnachweis zu verlangen. Twitter versah den Tweet mit dem Label: «Irreführend: Erfahren Sie, wieso Gesundheitsbeamte die Impfung für die meisten Menschen empfehlen.» Gemäss der Recherche von Journalist Alex Berenson ging diese Kennzeichnung auf eine Intervention von Scott Gottlieb zurück, der bis heute im Verwaltungsrat des Impfstoffherstellers Pfizer sitzt – und entsprechend ein ökonomisches Interesse am Einsatz der Pfizer-Impfung hat.
Die kritische Rolle der digitalen Plattformen
Die Twitter-Files machen bewusst, wie mächtig die sozialen Medien als digitales Forum geworden sind – kein Wunder, suchten staatliche Institutionen wie das FBI oder die CIA einen direkten Draht zur Firma. Das eigentlich Schockierende hinter den neuen Enthüllungen ist, mit welcher Systematik und Selbstverständlichkeit dieser Austausch erfolgte. Doch statt über diese gefährliche Allianz zu diskutieren, prasselt die Kritik vornehmlich auf die Absender nieder, auf den exzentrischen Elon Musk. Das ist eine verpasste Chance: Die Twitter-Files haben es verdient, eine ernst zu nehmende Debatte über die kritische Rolle von Plattformen für den demokratischen Diskurs anzustossen.
Die Machtansammlung bei digitalen Plattformen, die wohl in Zukunft noch wichtiger werden, macht anfällig für Missbrauch. Solange ein zentrales Gremium über die Moderation oder die Sperrung von Accounts entscheiden kann – egal ob in der Form einer Gruppe von linksliberalen Meinungsmachern oder einer Musk’schen Alleinherrschaft –, bleibt der freie Austausch vom Gutdünken der Lenker abhängig.
Der freie, ungehinderte Austausch der Meinungen, den eine funktionierende Demokratie benötigt, erfordert letztlich wohl eine neugedachte Netzwerkarchitektur der sozialen Medien. Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit sollten sich dabei stark an der rechtlichen Notwendigkeit orientieren, um Verleumdungen oder klare Aufrufe zur Gewalt zu verhindern, keinesfalls aber an den politischen oder wirtschaftlichen Zensurgelüsten. Entscheidungen müssen im Ablauf transparent und für die Allgemeinheit nachvollziehbar werden. Noch als CEO schrieb Twitter-Gründer Jack Dorsey am 14. Januar 2021, rund eine Woche nachdem Präsident Donald Trump von der Plattform verbannt worden war: «Diese Massnahmen zu ergreifen, fragmentiert die öffentliche Diskussion. Sie entzweien uns. Sie schränken das Potenzial für Klärung, Wiedergutmachung und Lernen ein. Und sie schaffen einen Präzedenzfall, den ich für gefährlich halte: die Macht, die eine Einzelperson oder ein Unternehmen über einen Teil der globalen öffentlichen Diskussion hat.»
Die Lösung der Frage, wer die Kontrolleure kontrollieren soll, ist aktuell noch nicht sichtbar. Mastodon, eine oft erwähnte Alternative für Twitter-Flüchtlinge, setzt zwar auf einen dezentralen Ansatz mit verschiedenen Servern. Gleichzeitig gehen aber auch Vorteile von Twitter verloren – die Suchfunktion, die globale Reichweite, der direkte Zugang zu Quellen –, während die Tendenz zur ideologischen Blasenbildung gestärkt wird. Jack Dorsey selbst sucht eine dezentrale Alternative zu den gegenwärtigen Social-Media-Plattformen und will nächstens mit «Bluesky Social» an die Öffentlichkeit treten.
Die Bedeutung von sozialen Medien dürfte weiter wachsen; das optimale Set-up, das von möglichst vielen Teilnehmern als fair beurteilt wird, scheint noch nicht gefunden zu sein. Die Twitter-Files sollten daher auch genutzt werden, um über die Meinungsfreiheit im Internet vertieft nachzudenken. Denn die Demokratie stirbt in der Dunkelheit.