Der vergessene Held von Diepoldsau
Wie in einer kalten Winternacht 1938 das Schicksal einer jungen jüdischen Familie an der Schweizer Grenze eine unerwartete Wende nahm.
In der Nacht vom 9. November 1938 brannten die Synagogen in ganz Deutschland und Österreich lichterloh. Auch im 2. Bezirk in Wien, wo Ida und Jakob wohnten. Das junge jüdische Paar war wenige Monate zuvor zu stolzen Eltern geworden. In jener Nacht war der kleine Robert krank; er hatte Fieber. Sein Vater kam schwerverletzt nach Hause. Er war von der Gestapo zusammengeprügelt worden. Der einzige Grund für diesen gewaltvollen Akt war, dass Jakob Jude war. Die Nazi-Schergen prügelten so lange auf den 26-Jährigen ein, bis sie von ihm abliessen, weil sie dachten, er wäre tot. Als er sich mit letzter Kraft nach Hause schleppte, verschlug es seiner Frau Ida die Sprache. Sie sollte sie erst einige Tage später wiederfinden.
In dieser Nacht entschieden die jungen Eheleute, Wien zu verlassen. Hals über Kopf reisten sie am nächsten Tag zunächst mit der Bahn nach Feldkirch und dann zu Fuss nach Hohenems (beide Orte befinden sich im Vorarlberger Rheintal). Von dort versuchten sie den Alten Rhein bei Diepoldsau zu überqueren, um in die Schweiz zu gelangen. Erfolglos. Sie wurden zurückgeschickt. Es blieb nicht bei einem einmaligen Versuch. Sie waren mutig und probierten es immer wieder. Beim vielleicht zehnten Versuch am 29. November 1938 fiel der kleine Robert ins Wasser, er begann zu schreien. Das laute Schreien des Einjährigen war auf der anderen Flussseite zu hören. Dort stand Grenzwächter Alfons Eigenmann. Dieser stellte sich vor die Familie und sagte: «Sie müssen zurück.» Da entgegnete Ida ihm entschlossen: «Erschiessen sie mich. Aber ich gehe nicht mehr zurück.» In diesem Moment packte Alfons Eigenmann die Menschlichkeit. Dieses Gefühl war stärker als sein Pflichtbewusstsein als Grenzpolizist. Er begleitete die Familie über die Grenze.
«In diesem Moment packte Alfons Eigenmann die Menschlichkeit.
Dieses Gefühl war stärker als sein Pflichtbewusstsein als Grenzpolizist.»
Unfreiwilliger Kronzeuge
An diesem eiskalten Novembertag vor 86 Jahren wurde Grenzpolizist Alfons Eigenmann zum Fluchthelfer. Er wusste, dass es illegal war, Flüchtlinge in die Schweiz zu schmuggeln, er wusste, dass er dafür bestraft werden konnte. Es hätte seine Pflicht als guter Polizist sein müssen, die Familie zurück und damit in den sicheren Tod zu schicken. Aber er wollte das Leben dieser jungen Familie nicht aufs Spiel setzen. Er wusste auch, was für ihn auf dem Spiel stand. Aber das nahm er in Kauf. Alfons Eigenmann bewies Menschlichkeit und Zivilcourage. Er rettete diese Familie nicht einfach nur, sondern nahm sie auch bei sich zu Hause im Zollhaus auf und bot ihr ein Versteck, getrieben allein von der Idee, helfen zu wollen. Die Familie musste sich von der Flucht erholen, der kleine Junge genesen. Sich nicht um das eigene Schicksal kümmernd, legten Alfons Eigenmann und seine Frau Susann ihre schützende Hand über die drei jüdischen Flüchtlinge aus Österreich, die diese Nacht vielleicht nicht überlebt hätten – zu verletzt war Jakob, zu krank Robert, zu erschöpft Ida.
Während Jakobs Schädel bald geflickt wurde, Ida sich ausruhen konnte und Robert mit der Katze der Eigenmanns spielte, telefonierte Alfons Eigenmann mit seinem Vorgesetzten in St. Gallen, mit Polizeihauptmann Paul Grüninger. Er versprach seinem Untergebenen, die Familie, wie viele andere auch, nicht auszuliefern. Auch er setzte seinen Ruf, seine Karriere und sein Leben aufs Spiel, um Menschen vor dem sicheren Tod zu retten.
Alfons Eigenmann liess es nicht dabei bewenden, die Familie zu retten, sie bei sich zu verstecken und seinen Chef um Hilfe zu bitten, damit sie in der Schweiz bleiben konnte. Er setzte sich noch am gleichen Tag an seinen Schreibtisch und verfasste einen Brief an den Schweizer Arzt Dr. Grogg, der sich für eine Lockerung der rigorosen Grenzbestimmungen für jüdische Flüchtlinge einsetzte. Den Brief unterschrieb er allerdings nicht, denn er hätte jederzeit auffliegen können. Grogg wusste nicht, dass mit diesem Brief ein Beamter der Grenzpolizei ihn kontaktierte, und veröffentlichte das Schreiben in der «Berner Tagwacht». Am 22. Dezember 1938 wurde das Schreiben in der «Thurgauer Arbeiterzeitung» publiziert mit einem eindringlichen Appell an den Bundesrat. Gerichtet an Bundesrat Giuseppe Motta stand da: «Herr Motta, verantworten Sie das?» Alfons Eigenmann wurde vom Retter unfreiwillig zum politischen Kronzeugen und zum Druckmittel. Durch ihn erfuhr eine breite Öffentlichkeit von der unmenschlichen Situation an der Schweizer Ostgrenze.
Alfons Eigenmann hatte Glück. Anders als sein Vorgesetzter Paul Grüninger wurde er nicht entlassen, sondern lediglich versetzt, gleich nachdem die Geschichte in der Zeitung veröffentlicht worden war.
Späte Genugtuung
Fast sechzig Jahre später, im Jahr 1997, trafen sich Jakob und Ida, beide inzwischen 85-jährig, mit Susann Eigenmann. Sie wollten sich bei ihr, inzwischen auch eine alte Frau von 100 Jahren, und ihrem mittlerweile verstorbenen Mann einmal mehr für den Mut und die Zivilcourage, die das Ehepaar an der Grenze bewiesen hatte, bedanken. Susann Eigenmann, Jakob und Ida starben alle kurz darauf.
Nochmals 14 Jahre später, im Jahr 2011, traf sich Robert, mit 75 Jahren inzwischen selbst ein Senior, mit dem Sohn von Susann und Alfons Eigenmann am Alten Rhein in Diepoldsau, keine 500 Meter vom alten Zollhaus entfernt. Aus dem damals kleinen Robert war eine starke Persönlichkeit und stolzer Vater von drei erwachsenen Söhnen geworden. Doch er blieb das Kind seiner Eltern, das sich der Familie Eigenmann ein Leben lang zu Dank verpflichtet fühlte.
2023 erfuhr Robert schliesslich von einem seiner Söhne, dass im alten Zollhaus, wo die Familie Eigenmann damals gelebt und er und seine Eltern Zuflucht gefunden hatten, der erste nationale Vermittlungsort für die Opfer des Nationalsozialismus entstehen könnte. Nach 85 Jahren eine späte Genugtuung, aber eine mit Signalwirkung.
Im gleichen Jahr sprach der Enkel von Jakob und Ida in St. Gallen über seine Familiengeschichte. Am Ende des Vortrags stand ein Mann auf und erzählte, dass er Andreas Eigenmann heisse und der Enkel von Alfons und Susann sei.
Der Enkel von Jakob und Ida sprach zu Andreas sichtlich bewegt: «Ohne Ihre Grosseltern, ohne deren Zivilcourage hätten meine Grosseltern und mein Vater nicht überlebt. Ohne sie würde es auch mich nicht geben. Ich stünde heute nicht vor Ihnen. Vielen Dank.» Dieser Enkel von Jakob und Ida, das bin ich.