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Der Trottel ist weniger gefährlich als jene, die sich über ihn lustig machen
Wie viele Intellektuelle bewunderte Simone de Beauvoir das maoistische China. Bild: WikiMedia.

Der Trottel ist weniger gefährlich als jene, die sich über ihn lustig machen

Wie können brillante Köpfe absurde Ideen und Regime vertreten, die Millionen von Todesopfern fordern? Ein neues Buch von Samuel Fitoussi gibt Antworten.

Als Simone de Beauvoir 1957 von einer Reise nach China zurückkehrte, lobte sie das maoistische Regime und erklärte, dass «das umgesetzte Programm dasjenige ist, das jede moderne und aufgeklärte Regierung, die ihr Land voranbringen möchte, verabschiedet hätte». Sie behauptete zudem, dass Mao keineswegs ein Diktator sei und nicht mehr Macht habe als Roosevelt. Sie, die fest an die Vorzüge des Kollektivismus glaubte, weigerte sich, das zu sehen, was sie vor Ort sah – und zog es vor, das zu erzählen, was sie gerne gesehen hätte. Heute wissen wir, dass der Kommunismus ein krimineller Totalitarismus war, der Millionen von Menschenleben forderte. Faszinierend ist, dass de Beauvoir nicht die einzige berühmte Intellektuelle ihrer Zeit war, die sich in dieser Frage irrte.

In «Pourquoi les intellectuels se trompent» fragt sich Samuel Fitoussi, wie es möglich ist, dass kluge Köpfe sich fundamental irren können, ohne dass ihr Ruf dauerhaft geschädigt wird. Ein Ansatz zur Erklärung dieser Irrtümer liegt in der Art und Weise, wie wir unsere kognitiven Fähigkeiten einsetzen. Wir nutzen sie nicht nur, um nach der Wahrheit zu suchen, sondern auch, um einen guten Ruf zu wahren und Freunde zu gewinnen. Wir verfügen über eine «epistemische» Rationalität – die Fähigkeit, gültige Überzeugungen anzunehmen, um zur Wahrheit zu gelangen –, aber auch über eine «soziale» Rationalität.

Fitoussi weist darauf hin, dass «im Laufe unserer Evolutionsgeschichte der Ruf eines Individuums – von dem seine Fähigkeit abhängt, den Schutz anderer zu geniessen, Partner zu finden (…) – oft wichtiger für sein Überleben war als die Richtigkeit der Ideen, an denen es festhielt». Mit anderen Worten: Aus Angst, unseren Mitmenschen zu missfallen, schliessen wir uns manchmal absurden, aber mehrheitlich vertretenen Ideen an. Der Selektionsprozess hat also die Fähigkeit begünstigt, den Konsens zu rationalisieren, und nicht die Fähigkeit, die Wahrheit herauszuarbeiten und zu verteidigen. Fitoussi schliesst daraus: «Wir sind nicht die Nachkommen von Kopernikus und Galileo, sondern der Menge, die sie verurteilte.»

Intellektuelle tragen kaum Risiko

Das Problem wird dadurch verschärft, dass Intellektuelle überdurchschnittlich stark von der Meinung ihres Umfelds abhängig sind. Eine Abweichung von der Linie kann sie sozial sehr teuer zu stehen kommen. Hinzu kommt, dass Intellektuelle kein grosses Risiko eingehen, wenn sie eine falsche Position weiterhin vertreten, da nicht sie die Konsequenzen ihrer Ideen tragen müssen. Ihres Lobes zum Trotz musste Simone de Beauvoir nie die Hölle durchleben, welche die Chinesen unter Mao erlitten. Das alles führt dazu, dass unter Intellektuellen die soziale Rationalität Vorrang vor der epistemischen Rationalität nehmen kann.

«Aus Angst, unseren Mitmenschen zu missfallen, schliessen wir uns manchmal absurden, aber mehrheitlich vertretenen Ideen an.»

Diese Situation ist bedenklich. Im Gegensatz zum Dorftrottel, dessen absurde Ideen niemand umsetzt, haben Intellektuelle Einfluss auf Medien und Politik. Somit können ihre Thesen erheblichen Schaden anrichten. Mit der Ausweitung der Rolle des Staates haben sich auch die Möglichkeiten für Menschen wie Intellektuelle, die sich über die Menschheit stellen, um sie zu regieren, vervielfacht – ohne Verantwortung zu tragen, wenn etwas schiefgeht. Am Ende des Buches stellt Fitoussi fest: «Die Vorstellung, dass die intellektuellen Eliten der Gesellschaft einen Dienst erweisen könnten, indem sie der gesamten Bevölkerung ihre Kriterien der Wahrheit aufzwingen, ist eine Idee, die fälschlicherweise die Überlegenheit der Intellektuellen der Gegenwart gegenüber denen der Vergangenheit postuliert, die menschliche Natur missachtet und vergisst, dass weder Intelligenz noch die Zugehörigkeit zur Elite noch der Wille, Irrtümer zu bekämpfen, vor Irrtümern schützen.»

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Französisch bei «Le Temps».

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