Der totale Intellektuelle
Bernard-Henri Lévys prossartiges Sartre Porträt
Ein leidenschaftliches, ein atemloses, ein grandioses Buch, pathetisch und klug, chaotisch und präzise, ein kreativer Exzess, bewundernd bis zum Enthusiasmus und gleichwohl freimütig Abstand nehmend. Bernard-Henri Lévy ist der Autor, Ende der siebziger Jahre einer der führenden «Neuen Philosophen», die den alten, den Meisterdenkern, den linken Apologeten des kommunistischen Totalitarismus vom Schlage Sartres den Krieg erklärten. Und nun das Porträt eines «absoluten Intellektuellen», der «der Philosoph des 20. Jahrhunderts», ja, «der Jahrhundert-Mensch» höchstpersönlich gewesen sein soll, der «Champion des Antitotalitarismus» – jener Sartre, von dem Lévy zeigen möchte, «dass er die Freiheit selbst war». Man reibt sich die Augen – aber so, dass man anschliessend klarer sieht als zuvor. Will man die Bedeutung dieses faszinierenden Monstrums von Buch würdigen, das biographisch ist, ohne eine chronologisch-lineare Biographie zu sein, so muss man zu dem Punkt zurückkehren, bei dem Lévy wie die meisten Biographen einsetzt.
Am 15. April 1980 stirbt Jean-Paul Sartre in Paris. Vier Tage später begleiten etwa 50 000 Menschen den Sarg auf dem Weg zum Friedhof von Montparnasse, mehr als jemals zuvor einen Philosophen zu Grabe getragen haben. «Einen Voltaire verhaftet man nicht» – glaubt man Präsident Charles de Gaulle in den Auseinandersetzungen des Pariser Mai 1968, aber man kann ihn immerhin beerdigen. Sartre, der geniale Philosoph, Sartre, der grosse Schriftsteller, Sartre, der engagierte politische Aktivist, Sartre, der Liebhaber, Sartre, der Café-Literat, Sartre, der grosszügigste aller Trinkgeldgeber, Sartre, der Humanist, Sartre, das Tribunal, Sartre, die Inkarnation der Freiheit, Sartre, der nie Berechenbare, sich unablässig Wandelnde, Sartre, der dialektische Sonnenkönig, Sartre, der schielend Klarsehende, Sartre, die Personifikation des denkenden «Für-sich», der nie weiss, nie zu wissen braucht, gar nicht wissen kann, wer oder was er an sich ist.
Aber die Anderen wissen nun bei seinem Tod wenigstens, wer er war. Die Zeitungen, zu denen er die von ihm gegründeten, eigenhändig verteilten, selbst beigetragen hatte, die Rundfunk-, die Fernsehanstalten veranstalten seine «pompes funèbres», die Nachrufer verkünden seinen unsterblichen Ruhm, den Ruhm des Mannes, der es sich leisten konnte, den Literaturnobelpreis auszuschlagen, den ein Freund und Gegner wie Albert Camus angenommen hatte, wenn nicht bei bescheideneren Gaben anzunehmen gezwungen war.
Doch dann wird es still und stiller um Sartre. Im neo- und poststrukturalistischen Paris, ganz zu schweigen vom postmodernen, wird der Lacancan getanzt, der Derridada inszeniert. «Struktur» und «System» haben schon seit längerem den Einzelnen verabschiedet. «Simulation» läuft der Eigentlichkeit den Rang ab. Die Rotation der Signifikanten wird die Nachfolgerin der zur Entscheidung verurteilten Freiheit. Das Begehren, von dem freilich auch Sartre genug hatte, mag nichts mehr von Verantwortung wissen. Existenz, die der Essenz vorausgeht – nur noch dekonstruktionsbedürftige «existenzialistische» Spätscholastik. Kurzum: Sartre ist ein toter Hund, wie der Kommunismus, die Dialektik und der Humanismus, der vergeht wie das Gesicht des Menschen im Sand.
Aber jetzt, zu Beginn des dritten Jahrtausends, die neuerliche Peripetie. In dem Buch von Lévy, im Jahr 2000 in der französischen Erstausgabe erschienen und nun von Petra Willim auf der Höhe der virtuosen Sprachexzesse des Autors ins Deutsche übersetzt, hat der Stimmungswandel nicht nur seinen Fanfaren-stoss, sondern auch seinen substantiellsten Ausdruck gefunden.
Der grösste Vorzug des Buches neben seinen literarischen Meriten ist die von Bewunderung, ja, Liebe grundierte, aber durchgehaltene Ambivalenz. Lévy beschreibt die Irrungen und Wirrungen, die Brüche und Widersprüche eines «totalen Intellektuellen», der sich, wie er in allen literarischen Gattungen, auf allen literarischen Schauplätzen zu Hause ist, wo immer es nötig ist, engagiert. Keine der Häutungen Sartres, die ihm eine Nietzsche vergleichbare Wandlungsfähigkeit eben, keine seiner «Kehren», wie Lévy mit Heidegger, aber in einem ganz anderen Sinn sagt, wird unter den Teppich gekehrt. Weder die vom Existenzialisten zum zeitweiligen bekennenden Stalinisten und Maoisten noch jene letzte «Bekehrung», die Sartres Gemeinde so sehr zu schaffen gemacht hat: diejenigen, die ihn unter dem Einfluss seines letzten Sekretärs, des nicht mit Bernard-Henri Lévy zu verwechselnden Benny Lévy alias Pierre Victor, der Philosophie von -Emmanuel Levinas, der jüdischen Mystik und Ethik, am Ende gar dem Glauben an die Auferstehung des Fleisches nahegebracht zu haben scheint.
Wie auch immer: Die Geschichte der Wandlungen ist der Ausdruck eines ausserordentlichen Intellektuellen-Lebens, das dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch genausowenig wie irgendeiner anderen Instanz gehorcht und selbst in den konträrsten Ausprägungen jenen Freiheitsexistenzialismus der
Anfänge bekräftigt, der sich unter keinen Umständen festlegen, «verdinglichen» lässt: «Dieser Fachmann des Widerrufs, dieser Meister der Untreue hat es sich stets zur Pflicht gemacht, gegen sich selbst zu denken.» Im Widerspruch gegen die politischen Verdächtigungen Sartres betont Lévy gleichwohl die gravierenden Unterschiede zu den wirklichen Sündenfällen, deren Kontur sich zumal in einem vorzüglich informierten, mit der Forschung bestens vertrauten Heidegger-Kapitel zeigt. Wie einseitig, ja willkürlich Sartre Heidegger philosophisch gelesen hat, wird dabei nicht dementiert.
Am berührendsten aber wird Lévys Porträt, wo es den hässlichen, den schielenden, den blinden, den verwahrlosten, schmutzigen, den inkontinenten wie zuvor den zwanghaft den Frauen nachsteigenden oder auch den verschwenderisch grosszügigen Sartre zeigt, die inkarnierte Verausgabung, den personifizierten Potlatch. Lévy zitiert Michel Leiris‘ «Mannesalter», das Sartre bewundert hat: «Die Hässlichkeit habe ich durch die Frauen entdeckt.» Der Kommentar eines schönen Mädchens über den zwölfjährigen «Poulon»: «Was ist das für ein Typ mit einem Auge, das zum anderen Scheisse sagt?»
Simone de Beauvoir, «La grande Sartreuse», hat die «Cérémonie des Adieux» des inkontinenten Jahrhundertphilosophen drastisch publik gemacht. Bernard-Henri Lévy belässt es nicht beim Abschied.
Bernard-Henri Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts. Aus dem Französischen von Petra Willim. Hanser 2002.
Ludger Lütkehaus, geboren 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br.