Der Strommangel versperrt den E-Autos den Weg
Wird der Stromengpass nicht entschärft, kann der Individualverkehr nicht auf Elektro umsteigen. Die Schweiz muss wieder über Atomenergie diskutieren.
Elektroautos werden sich durchsetzen, davon bin ich überzeugt. Dies nicht etwa, weil sie umweltfreundlicher, leiser oder schöner wären, sondern weil sie ganz einfach günstiger sind und gut genug, um im Alltag zu bestehen. Elektroautos haben viel weniger bewegliche Teile als Verbrenner, was sie in Herstellung und Wartung einfacher macht. Sie sind zudem energieeffizienter und bei den gegenwärtigen Preisen pro Kilometer günstiger. Dieser Kostenvorteil der Elektromobilität dürfte meiner Meinung nach trotz schwankender Energiepreise kaum ins Gegenteil kippen – besonders wenn fossile Energieträger aufgrund des CO2-Ausstosses politisch verteuert werden.
Aber können die Elektrofahrzeuge denn auch geladen werden? Haben wir genügend Strom? Diese Fragen wurden gerade durch die jüngsten Entwicklungen auf den Strommärkten in den Fokus gerückt. Kurt Egger etwa, Thurgauer Nationalrat der Grünen, legte E-Autofahrern aus Stromspargründen den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel nahe. Hat er mit seinen mahnenden Worten recht? Fokussieren wir uns zur Vereinfachung mal lediglich auf den individuellen Personenverkehr, da für schwerere Fahrzeuge in Zukunft andere Treibstoffe wie Wasserstoff ebenso wahrscheinlich zum Einsatz kommen werden.
Im Winter am Anschlag
In der Schweiz waren Ende 2021 gemäss Bundesamt für Statistik 6,3 Millionen Motorfahrzeuge eingelöst, davon knapp 4,7 Millionen Personenwagen und 800 000 Motorräder. Werden all diese Fahrzeuge künftig elektrisch betrieben, müssen dafür rund 9 Terawattstunden Strom pro Jahr bereitgestellt werden. Das entspricht immerhin 15 Prozent des aktuellen Schweizer Jahresverbrauchs. Ebenso wichtig wie die Energieverfügbarkeit ist zudem, diese zeitgerecht zu den Verbrauchern transportieren zu können. Oder bildlich gesprochen: Was nützt mir all das Wasser im Reservoir, wenn die Rohre zu dünn sind, um in vernünftiger Zeit meine Badewanne füllen zu können? Gehen wir davon aus, dass die allermeisten Fahrzeuge in der Nacht geladen werden – was netztechnisch sinnvoll wäre – und dafür 10 Stunden zur Verfügung stehen, würden in einer normalen Nacht insgesamt 2,5 Gigawatt zusätzliche Leistung benötigt. Dies entspricht fast einem Drittel von dem, was unsere Netze aktuell zu Spitzenzeiten hergeben. Rechnet man diesen Zusatzaufwand zur Standardbelastung des Netzes in einer durchschnittlichen Winternacht hinzu, so kommt man aller Voraussicht nach sehr nahe an die maximale Netzkapazität.
In den letzten zehn Jahren hat die Schweiz laut Bundesamt für Energie (BFE) im Sommer netto durchschnittlich 5,1 Terawattstunden Strom exportiert und im Winter 3,6 Terawattstunden importiert. Wenn wir nun vereinfacht davon ausgehen, dass im Winter und im Sommer gleich viele Fahrzeuge unterwegs sind, darf festgestellt werden, dass im Sommer ausreichend Strom für Elektroautos vorhanden sein dürfte – nur für den Export reicht es ohne eine Erhöhung der Produktion kaum mehr. Im Winter jedoch muss die fehlende Energie zusätzlich beschafft werden. Wie so oft bei Stromfragen ist also auch die Mobilitätswende im heutigen Energieumfeld ein Winterthema.
«Sollte ein Anteil des Schwerverkehrs ebenfalls elektrisch arbeiten, wird offensichtlich, dass wir weder genügend starke Netze noch die benötigte Energie für eine umfassende Mobilitätswende haben.»
Zusammengefasst gilt: Wenn sämtliche Personenwagen und Motorräder rein elektrisch unterwegs wären, würde die Schweiz 15 Prozent zusätzliche elektrische Energie pro Jahr brauchen. In den Winternächten wären die Stromnetze ebenso am Anschlag, wie sie es heute bereits zu den intensivsten Zeiten tagsüber sind. Sollte nun zusätzlich ein Anteil des Schwerverkehrs ebenfalls elektrisch arbeiten, wird offensichtlich, dass wir weder genügend starke Netze noch die benötigte Energie für eine umfassende Mobilitätswende haben. Zudem gilt es zu bedenken, dass klimaschutzbedingt für den gewünschten Ersatz von fossilen Heizungen durch Wärmepumpen bis im Jahr 2030 bei Minergiestandard mit nochmals rund 2,5 Terawattstunden benötigtem Strom gerechnet werden muss. Auch ohne die Auswirkungen des Ukrainekriegs droht der Schweiz somit künftig eine zünftige Energiemangellage in den Wintermonaten. Selbst das BFE geht davon aus, dass bis 2050 trotz erhöhter Energieeffizienz mit 40 Prozent höherem Strombedarf als heute gerechnet werden muss. Was passieren wird, sollte es zu einer «durch Elektroauto provozierten Mangellage» kommen, ist in erster Linie eine politische Frage. Darf man dann als TeslaFahrer sein Auto nicht mehr aufladen? Verteilungskämpfe rund um den Strom stehen vor der Tür.
Stromproduktion ausbauen
Bisherige Energiestrategien gingen länderübergreifend meist davon aus, dass fehlende elektrische Energie im Winter importiert werden kann. Mittlerweile setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass dies wohl unrealistisch ist – nur schon, weil Deutschland mit der Ausserbetriebnahme seiner Kohle- und Kernkraftwerke als Winterlieferant wegfällt und Frankreich mit seinem alten AKW-Park alles andere als zuverlässig liefert. Natürlich kann dem entgegengehalten werden, dass die dezentrale Produktion von erneuerbaren Energien voranschreitet, Heizungen, Geräte sowie Autos effizienter werden und dass mit Smart Grids und intelligentem Lastmanagement die Energieflüsse optimiert werden können. Gelöst ist das Winterproblem damit jedoch wohl kaum.
Unsere Herausforderung ist also folgende: Die Schweiz soll ihre Stromversorgung möglichst selbst bewerkstelligen können und den Strom genau dann zur Verfügung stellen, wenn er von der Bevölkerung auch gebraucht wird. Fossile Kraftwerke möchte das Stimmvolk bekanntlich nicht, man wird also keine einfache Lösung finden. Ich sehe drei Lösungsansätze: Erstens sollen so viele Solaranlagen gebaut werden wie nur möglich; wo machbar sollen die Kapazitäten von Wasserkraftwerken erhöht werden. Zweitens soll die überschüssige Sommerenergie mit geeigneten Speichern von synthetischen Treibstoffen, so gut es geht, in den Winter gerettet werden – technisch ist das allerdings leider nach wie vor eine grosse Herausforderung. Drittens soll die Schweiz die erneuerbare Stromproduktion mittels Geothermie und der wenigen geeigneten Standorte für Windkraftwerke ausbauen – was politisch jedoch grosse Widerstände der Lokalbevölkerung hervorrufen dürfte. Zu guter Letzt müssen die Scheuklappen punkto Atomstrom wieder abgelegt werden. Sollte es innenpolitisch unmöglich sein, im Inland neue Atomkraftwerke zu bauen, so könnten wir wie in den 1970er-Jahren in ebensolche ennet der Grenze in Frankreich investieren. Ich bin überzeugt, dass mit jedem weiteren Mangellagenwinter diese Option an politischem Gewicht gewinnen wird.
Berechtigterweise könnte man nun entgegnen, dass solche Massnahmen ihre Wirkung erst in der mittleren Frist entfalten werden, da sie oft nur langsam umgesetzt werden können und somit als Notoption wegfallen müssten: Das finnische Kernkraftwerk Olkiluoto beispielsweise hätte ursprünglich nach fünfjähriger Bauzeit 2010 in Betrieb gehen sollen, wurde aber erst im Frühjahr 2022 ans Netz angeschlossen. Ich halte das jedoch für ein falsches Denken. Wie geht doch die Geschichte vom alten Mann in Afrika, der seinem Enkel bei brütender Hitze im Schatten eines grossen Baumes eine Lebensweisheit erzählt? «Du, Grossvater, wann ist eigentlich der beste Zeitpunkt, um einen Baum zu pflanzen?», wollte der Junge wissen. Der Greis erwiderte: «Dazu gibt es zwei gute Zeitpunkte. Der beste Zeitpunkt war vor 20 Jahren – der zweitbeste hingegen ist genau heute!»