Der Stoff, aus dem das Neue ist
Der Innovationsbegriff ist am Ende. Zeit für einen besseren!
Wer heute nicht innovativ ist, dem geht es schlecht – so schlecht, dass man sich fragen muss, ob ihm überhaupt noch zu helfen ist. In Zeiten, in denen viele Manager und Politiker, Medienleute und Soziologen vor lauter «Digitalisierung» und damit zusammenhängender, herausposaunter «Innovation» kaum noch laufen können, stellt niemand mehr die eigentlich wichtige Frage: Reden diese Leute tatsächlich von Innovation? Also von Erneuerung?
Nein, sie beschwören viel eher die herrschenden Verhältnisse. Vieles von dem, was als Neues verkauft wird, ist genau besehen ein alter Hut, eine Mischung aus Kopie, Rekombination und viel Marketing. Diese Entwicklung liegt an der Kontinuität einer überkommenen Kultur, alter Denkmuster und Routinen, schlechter Angewohnheiten im Umgang mit Neuem und Überraschendem. Der Blick ist nach innen gerichtet. In Unternehmen und Politik, Peer Groups und Familien bestimmt die Innensicht nahezu alles: es riecht muffig, man hört nichts, und ausserdem ist der Ausblick miserabel. Innovation entsteht nicht in Powerpoint-Präsentationen, in Seminaren, in langweiligen Meetings und anderen Absurditäten der Angestelltengesellschaft, sondern dort, wo Menschen unternehmerisch tätig sind – ganz gleich, ob innerhalb einer Organisation oder ausserhalb. Unternehmer in diesem Sinne sind nicht Menschen, die einen Gewerbeschein für ihre Tätigkeit benötigen, sondern Selbstdenker, Selbstermächtiger, Ermöglicher.
Wenn wir wieder lernen, was Innovation tatsächlich ist, kann, leistet, wozu wir sie brauchen, woher sie kommt und was sie für uns bedeutet, können wir die Weichen für die Zukunft nach ihr stellen. Denn: echte Innovation ist nichts anderes als die harte Währung der Wissensgesellschaft – und wenn alle «innovativ» sind, haben wir es entweder mit einer Begriffsverirrung oder einer dramatischen Inflation zu tun. Oder mit beidem. Schauen wir also näher hin.
Was ist Innovation?
Die Fähigkeit, die Welt, so wie sie ist, zu verbessern und vieles in ihr «neu zu erfinden», ist eine zentrale kulturelle Leistung, vielleicht die wichtigste von allen. Echte Innovation als empirischer Ausdruck dieser Fähigkeit ist der Beweis, dass die Zukunft existiert, dass es einen Fortschritt gibt, eine Perspektive. Innovationen sind damit Kinder der Moderne, Kinder der menschlichen Emanzipation von einem schicksalhaften Glauben an höhere Mächte. Mit der Innovation, die oft gleichbedeutend mit einer Erleichterung des Alltages und einem Mehr an Möglichkeiten einhergeht, erobern wir uns Stück für Stück das Paradies zurück, aus dem wir einst vertrieben wurden – weil Adam und Eva eine selbständige Entscheidung trafen. Seither wissen wir uns zu helfen. Innovation und der hinter ihr steckende unruhige Geist der Veränderung kämpft sich gegen das Schicksal nach vorne, zum Licht hin. Diese Erleuchtung, so der Sinn des englischen Wortes für Aufklärung, «Enlightenment», lässt uns besser sehen, wohin wir wollen könnten. Sie ermöglicht mehr Durchblick. Dadurch lässt sich echte Innovation von vermeintlicher unterscheiden.
Die Wissensgesellschaft und ihre Feinde
Aber – und hier beginnen die Probleme mit der zeitgeistigen Verwendung des Begriffs: Das Neue ist eben neu, unbekannt, es bedarf ernsthafter Beobachtung – und dazu ist der Aktionismus des aktuell auslaufenden Industriezeitalters eine denkbar schlechte Sehhilfe. Wir sind in der Situation, die John Maynard Keynes als das Grundproblem aller Erneuerung bereits 1936 in seiner «Allgemeinen Theorie» erkannte: «Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken als in der Befreiung von den alten.» Und diese alten Gedanken bestehen in Wirtschaft und Politik, in Kultur und Gesellschaft weiterhin aus Masse, Normen und Routinen, also Grössen, die die Industriegesellschaft geprägt haben – und von ihr geprägt wurden. Die meisten Menschen benehmen sich immer noch wie die Belegschaft einer Fabrik aus der Gründerzeit: alle fahren morgens zur gleichen Zeit zur Arbeit und spätnachmittags wieder zurück. Man organisiert sich, definiert sich in der Menge, im Schwarm, im Kollektiv, in der Regel, der Routine, dem Bekannten, das man für das Verlässliche hält.
Der Schein trügt – in der digitalen Wissensgesellschaft kann sich diese Arbeitskultur nicht halten, denn die Vorzeichen sind heute völlig andere. Es geht nicht mehr um geballte Arbeitskraft, sondern um Einfallsreichtum. Es geht auch nicht mehr um Fleiss und Genauigkeit, das ist die Domäne der Automaten, endgültig. Es geht um eine kulturelle Veränderung. Mit Keynes gesprochen könnte man sagen: die meisten Leute, die sich heute mit Innovation beschäftigen oder glauben, eine solche gemacht zu haben, versuchen einen Algorithmus auf der Dampfmaschine zu weben. In Organisationen, die für die Fabrikgesellschaft gemacht wurden, wird heute munter Wissensgesellschaft gespielt – und was dabei herauskommt, sind grösstenteils Behauptungen, kleine Optimierungen, vor allen Dingen aber: mehr vom Gleichen. Wir sind nicht annähernd von den alten Gedanken und ihren Limiten befreit, im Gegenteil, wir pflegen sie gerade bei der Beschwörung des Neuen. Innovation ist zur Glaubensfrage geworden. Woran liegt das?
Wissen und Ideen als zentrale Ressourcen
Kern echter Innovation ist die «schöpferische Zerstörung», von der Joseph Schumpeter uns berichtete. Sie ist ein evolutionärer Prozess – und nicht der sozialdarwinistische Unfug, der immer erzählt wird.
Innovative Ideen sind zunächst nichts anderes als zugelassene Vielfalt, Angebote, gewonnen aus Komplexität, mögliche Alternativen zu dem, was ist. Die Welten der Arbeit und der Politik sind von dieser Einsicht weit entfernt: schon eine Offerte wird als Drohung wahrgenommen, ein Konkurrent sowieso – dabei handelt es sich genau besehen nur um Möglichkeiten. In der alten, wohlgeordneten Welt der Industrie hat aber niemand gelernt, sich zu entscheiden – Hauptsache, man war dabei. Mittelmass und Mitläufer hat man produziert, Verwaltungen, die sich fancy names geben, aber letztlich doch nur Bürokratien sind, blühen, und mit ihnen jene Verwalter des Bestandes, die dafür sorgen, dass Neuerungen abgedreht werden, bevor sie auch nur den Luftraum der Erwägung erreichen. Kaum irgendwo lässt sich das heute genauer beobachten als an den Ränkespielen der deutschen Automobilindustrie, die ihre Pfründe im Geschäft mit dem Verbrennungsmotor verteidigt. Das bisschen E-Mobilität ist Alibi. Aber: echte Innovation setzt die Fähigkeit des Erkennens des Unterschieds und die Einlassung darauf voraus. «Wir können auch anders», ist in diesem Umfeld keine Drohung, sondern die Normalität.
Was für den Umgang mit Ideen gilt, gilt auch für die Begriffe, die ihnen Form geben sollen: Wir leben in Organisationen, in Kulturen, ganzen Welten, die nicht für die Erneuerung gemacht wurden. Wir benutzen Begriffe wie Quer- und Vordenker, die aber nur anzeigen, dass betreffende Denker eben quer zur eigenen Organisation liegen, ausserhalb der Logik dieser Strukturen bestehen. Der Zweck der klassischen Organisation lässt sich hier schön ablesen: ihr Zweck ist es, ihren Zustand zu erhalten. Veränderung bedeutet in dieser Hinsicht Gefahr – und wird deshalb auch nur pro forma geduldet. Die Quer- und Vordenker sind Hofnarren des Status quo. Die Leitkulturen im Westen halten Innovation für einen närrischen Sonderfall und nennen sie, wenn sie doch wirklich Früchte trägt, ängstlich «Disruption», Erschütterung. Daran mag man ermessen, wie es um die Erneuerungsfähigkeit wirklich steht.
Widerspruch der Normalität!
Nein, die Innovation braucht all diese falschen Freunde, die sie ins Unkenntliche überhöhen oder völlig verachten, nicht. Innovation ist eben keine Glaubensfrage, sondern handfest, vielfach sogar Handwerk, das etwas Glück gebrauchen kann. Innovation ist das Kind einer Kultur der Neugier, verbunden mit Geduld und Durchsetzungsvermögen. Innovatoren sind Unternehmer. Ihre Arbeit braucht Begeisterung, Ausdauer, Nüchternheit, Know-how, Leidenschaft, Pragmatismus, von allem reichlich. Das Neue kommt als Widerspruch zur «Normalität» zur Welt, und Widerspruch gehört damit zum Wesen der Innovation. Natürlich, es ist oft nicht leicht, sofort den Unterschied zwischen Luftblase und Jahrhundertidee zu erkennen, den zwischen Querulanten und Innovatoren. Aber eine wichtige Unterscheidung lässt sich meist machen: letztere fördern das Experiment, den Versuch, das Probieren – aber lassen die, die das tun, in Ruhe! Und erstere? Genau, die wussten es ohnehin stets «besser».
Was Innovation ebenfalls nicht braucht, sind Vormünder, die sie so schnell wie möglich in die alte Ordnung integrieren wollen. Dabei geht es um Ruhigstellung, um Kontrolle aller Aus- und Nebenwirkungen. Dabei werden zuweilen edle Motive vorgeschoben: man wolle ja nur das Risiko kleinhalten, heisst es, verhindern, dass etwas geschieht, womit niemand rechnen kann. Sicherheitswahn ist der Superkleber der Risikogesellschaft. Damit aber verhindert man im Grunde genommen alles, denn das Neue hat immer Risiken. Es lässt sich nicht vollständig berechnen. Innovationen, die sicher sind, sind keine. Das wahre «Innovator’s Dilemma», um Clayton M. Christensens berühmten Buchtitel aufzugreifen, ist, dass kreative Geister mit ihren Ideen immer stärker in ein Korsett der Kontrolle und des Sicherheitsdenkens gepresst werden. Oder einfacher: dass ihre Erneuerungsarbeit stets mit altem Mass gemessen wird.
Für die Wissensgesellschaft brauchen wir folglich neue Kulturtechniken und Sichtweisen. In ihre Aufspürung, ihre Entwicklung und Einübung sollten wir investieren. Wir wissen nämlich sehr wenig über sie. Und es braucht auch eine andere Sprache als die, die wir im Zusammenhang mit Innovation benutzen: die Auseinandersetzung zwischen Alt und Neu ist etwa nicht zwangsläufig die zwischen Alt und Jung. Erneuerung, Innovation, Veränderung, das wird uns in unserer Kultur von jeher erzählt, sei stets der Kampf der Ungestümen, der Jungen, der Revolutionäre gegen die Alten, Verstockten, Unbelehrbaren. Das ist ein Mythos, den eine neue Innovationskultur beseitigen muss, nicht nur, weil der «Rohstoff Erfahrung» in der Wissensgesellschaft von grösster Bedeutung ist. Allerdings darf diese Erfahrung auch nicht mehr so selbstgerecht sein wie in früheren Tagen, als die «Ältesten» es «am besten» wussten: sie ist offen, eine Grundlage für das Neue. Eine Innovationskultur für die Wissensgesellschaft ist eine inklusive Innovationskultur, sie nutzt alle geistigen und kreativen Ressourcen, die zur Verfügung stehen. Und weil, wie der Soziologe Talcott Parsons wusste, jede Inklusion auch Exklusion erzeugt, wird ein Sowohl-als-auch möglich, das bisher nicht zur Debatte stand: es gibt mehr Alternativen und gleichzeitig klare Grenzen. Im Mittelpunkt allen Nachdenkens steht die Fähigkeit zur Entscheidung, zur eigenen, selbständigen Entscheidung. Erfahrung und Experiment sind zwei Seiten derselben Medaille.
Freiheit, Kooperation und Austausch
Innovation wird dann zu einem Prozess, der auf Gemeinsamkeiten, auf Austausch, auf Kooperation und Konsens beruht, nicht nur auf Konkurrenz. Transformation, nur zur Erinnerung, heisst Verwandlung, nicht Vernichtung. Jede kulturelle Innovation braucht denn auch soziale Erneuerungsimpulse. Ist es, beispielsweise, richtig, dass der Sozialstaat auf Regeln der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts beruht? Selbst seine glühendsten Verteidiger müssten diese Frage verneinen. Und was fangen wir mit den vielen Talenten an, die nicht in die engen Korsette der Betriebswirte und Managementmechaniker von gestern passen? Kann es eine Innovationsgesellschaft geben, in der die Rolle der Kreativen (im Sinne nach Lösungen strebender Kopfarbeiter) nach wie vor als Aussenseiterposition definiert ist? Natürlich nicht.
Die Wissensgesellschaft dreht sich um den menschlichen Faktor, die Person, das Individuum. Es verlässt die Zone der Massenkultur. Für Deutschland, dessen kulturelle Identität stets mit Masse und Industrie verbunden war, werden die Lehrjahre besonders hart werden – für die Schweiz als Hochpreisinsel ist der Weg aber bereits vorgezeichnet. Es darf ihr nicht nur darum gehen, die kulturelle Vorliebe zum Bestehenden zu überwinden, sondern darum, Menschen sich frei entwickeln zu lassen. Das ist die schwierigste Übung von allen, denn sie widerspricht allen Regeln, die bisher in Gemeinschaften galten: Bisher genügte es uns, dass Menschen sich zu etwas entwickeln, das mehr oder weniger genau definiert ist, und mit Problemlösungen hielten wir es genauso. Wenn wir aber lernen können, unseren Blick nicht zu verengen, sondern zu öffnen, erkennen wir, was uns sonst noch umgibt. Denn dort, am Rand, liegen die Überraschungen.
Das Unterfangen braucht Geduld und Vertrauen. Geduld, einhergehend mit der unpopulären Einsicht, dass die Zukunft nicht auf «Tools» und «Modellen» beruht, wie uns das die Technokraten der «digitalen Revolution» weismachen wollen – und wie es ihre Vorgänger taten. Die «Planung und Gestaltung» der Zukunft ist so oft und so gründlich und so fürchterlich misslungen, dass es schon auf unsere Laune gegenüber der Innovation abfärbt. Vielleicht ist es besser, einfach mal sitzen zu bleiben und nachzudenken, statt mit den Sozialingenieuren und Revolutionären nach vorn zu stürmen. Vielleicht ist das eine echte Innovation: Versöhnung und Ausgleich mit dem Neuen statt Gerede von Zerstörung und Revolution, dem Kammerton der ewigen Drohung.
Ein neues Innovationsbild kann ohne Gewaltakte auskommen – Innovation ist kein Schicksal, sondern ein Angebot. Erwachsene entscheiden, welche Veränderungen sie annehmen möchten. Das Neue soll nicht schocken, sondern überzeugen. Auch das gehört zu einer Innovationskultur, die in die Wissensgesellschaft passt: die Freiheit, bei dem bleiben zu dürfen, was man hat. Immanuel Kants Aufklärungszauberformel «Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen» zeigt, wie das nötige Rüstzeug in dieser Situation aussieht. Innovationsfähigkeit ist eine persönliche Sache. Eigensinn schafft Innovation.
Nicht nur Technik…
Die Schweiz ist laut Global Innovation Index das innovativste Land der Welt1, das ist aber vor allen Dingen dem hohen Anteil an MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Fachkräften im Land geschuldet – und der hohen Anzahl an Patenten von Fachgebieten daraus. Das ist ohne Zweifel wichtig, diese Bereiche liegen aber fast alle im Bereich des Maschinenbaus, der Industrie, der Chemie – also der «klassischen Industrien», auf die die Schweiz weiterhin so stolz ist. Bei der Digitalisierung befindet sich die Schweiz auf dem immerhin 3. Rang2, in Forschung und Technologie investiert sie ca. 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, deutlich mehr als das OECD-Mittel von 2,4 Prozent. Die Bildungsausgaben liegen derweil klar unter dem OECD-Schnitt (4,9 Prozent des BIP, im OECD-Mittel sind es 5,3 Prozent), und bei der PISA-Studie liegt sie im Mittelfeld. Die Schweiz lebt also nicht ganz so stark wie etwa ihr grosser Bruder Deutschland von der Vergangenheit – trotzdem frühstückt sie sie ab.
Dieser Umstand lässt sich, das muss man auch den unaufhörlich nach mehr staatlicher Förderung rufenden Verbänden der Branchen zurufen, mit mehr Subventionen ebenso wenig aus der Welt schaffen wie mit Detailreformen in den einzelnen Bereichen. Auch das Kultivieren von Untergangsängsten und das ängstliche Klammern ans Gestern nützt nichts. Das ist die Politik, die rechte und linke Populisten betreiben: mehr Zentralismus und neue Vereinheitlichung sind genau die falsche Antwort auf die Entwicklung, Öl ins Feuer.
Es geht darum, Unterschiede zu lernen. Zu verstehen, dass Innovation und Differenz dieselben Wurzeln haben. Innovation ist nicht mehr vom Gleichen, und es ist das Gegenteil von Gleichmacherei. Gleichzeitig gehören technische, soziale und kulturelle Innovationen stets zusammen. Eines bedingt das andere. Wo Menschen beispielsweise durch Wohlstand mehr Freiräume und Individualität einfordern, entstehen durch die damit verbundenen sozialen und kulturellen Erneuerungen auch neue technische Lösungen. Der Personal Computer, die Smartphones und Tablets von heute sind nur ein Beispiel dafür. Auch das Automobil hat eine solche Geschichte: nur in einer zunehmend partizipativen und damit beweglichen Welt konnte das Auto, das dem Individuum mehr Freiräume gibt, überhaupt zum Erfolg werden. Es wäre mehr als sinnvoll, nach solchen Vernetzungen im 21. Jahrhundert ernsthaft Ausschau zu halten, denn sie erschliessen nicht nur interessante Erkenntnisse, sondern helfen auch dabei, neue Lösungen und Produkte zu entwickeln. Gründliches Nachdenken lohnt sich – auch geschäftlich.
… sondern auch eine Kultur, die zu etwas taugt
Das Ziel aller Methoden und Werkzeuge, die Menschen im Laufe der Kulturgeschichte erfanden, war die Erleichterung von Arbeit, letztlich die Befreiung davon. Deshalb sind uns Routinen auch so wichtig und nehmen eine zentrale Rolle in unserem Denken ein. Aber die sich wiederholende, stupide, schwere, nervtötende Arbeit, sie sollte sich seit jeher besser von selbst machen. Das deutsche Wort «Arbeit» leitet sich vom germanischen «arbaipis» ab, das so viel bedeutet wie Leiden, Mühsal. Es stand auch als Begriff für Sklaverei. Automatisierung ist deshalb eine zentrale Kulturtechnik, die Innovation der Innovationen, vielleicht die wichtigste überhaupt, die durch Automaten, Maschinen, Software, Algorithmen, Methoden und immer neue Systeme vorangetrieben wird. Das Schlagwort «Digitalisierung» ist nur ein kleiner Teil dieser gewaltigen Innovation. Das eigentliche Projekt allen Fortschritts und aller Innovation heisst: mehr Freiraum. Mehr Zeit für sich selbst. Wenn es einen Sinn des Lebens gibt, dann diesen.
Eine Innovationskultur, die etwas taugt, so könnte man abschliessend sagen, weist nach vorne und weiss, was vorher war. Wir brauchen – im Sinne von Karl Poppers «offener Gesellschaft» – keinen Historizismus, sondern den Realismus des Gestaltenwollens. Nichts ist vorherbestimmt oder Schicksal. Dazu braucht man aber, das Allerwichtigste, nicht nur Innovatoren in Technik und Kultur, Sozialem und Politischem, sondern auch Alltagsinnovatoren, Bürger, die selbstbewusst und selbstbestimmt handeln. Der Stoff, aus dem das Neue ist, sind wir selbst. Menschen, die immer wieder herausfinden wollen, was richtig und wichtig ist. Innovation ist das endlose Spiel mit besseren Möglichkeiten und Chancen, eine Verhandlungssache mit offenem Ausgang. Der Leitsatz dieser «neuen» Innovationskultur ist eine Erfolgsformel, die über 200 Jahre alt ist. Sie stammt vom Physiker Georg Lichtenberg, der aufgeschrieben hat: «Das Neue kann man nur sehen, wenn man das Neue macht.»
1 World Economic Forum Global Competitiveness Index. Web: www.weforum.org/agenda/2017/10/these-are-the-10-most-innovative-countries-in-the-world/
2 Digital Evolution Index 2017 (Fletcher School an der Tufts University). Web: fletcher.tufts.edu/IBGC/News/A57FE315F81543DC8EECDD73E65FE837.aspx
Wolf Lotter
ist Mitbegründer und Leitartikler des deutschen Wirtschaftsmagazins «brand eins». Dieser Text ist ein vom Autor in Kooperation mit der Redaktion überarbeiteter Auszug aus dem Buch «Innovation. Eine Streitschrift für barrierefreies Denken», das am 22. April in der Edition Körber erscheint.