Der staunenswert belesene Ästhet
Rüdiger Görner beherrscht die Klaviatur des Schreibens
Man muss nicht gleich in Ehrfurcht erstarren. Aber man kommt nicht umhin, respektvoll zu staunen über diesen Mann, der die unterschiedlichsten Varianten lyrischen, erzählenden, literatur- und musikkritischen, essayistischen und geisteswissenschaftlichen Schreibens beherrscht und zudem mit geradezu ausserirdischer Schaffenskraft gesegnet zu sein scheint. Der 1957 in Rottweil geborene Rüdiger Görner, ein mit Enthusiasmus den Künsten zugewandter Europäer des Geistes, als umtriebiger Essayist und Rezensent im literarischen Leben von Wien bis Hamburg bekannt und auch den Lesern der «Schweizer Monatshefte» als ständiger Mitarbeiter vertraut, ist zunächst Germanist. Wie viel jedoch versteht er von der Musik, der Malerei, der bildenden Kunst, wie behutsam kramt er geschichtliches Wissen herauf, wie aufmerksam setzt er all dies in Beziehung zur aktuellen Gegenwart! Und vor allem: wie weit ist sein Horizont! Görner schreibt luzide Essays zur «Poetik des Transitorischen» oder zur «Kunst des Absurden», aber auch Gedichte und Prosastücke. Er publiziert «Literarische Betrachtungen zur Musik», gibt «Deutsche Elegien des 20. Jahrhunderts» heraus, Gedichte von Friedrich Hölderlin, August von Platen oder Alexander Lernet-Holenia, Briefe von Beethoven oder Schubert und Bücher über «Nietzsche-Revisionen im 20. Jahrhundert». Er interpretiert Carossa-Gedichte sowie Bach-Biographien, und wenn er den Roman «Tristan da Cunha» von Raoul Schrott als masslos und am Ende gescheitert qualifiziert, dann weiss er genau darzulegen, warum man dies so sehen muss. Anders gesagt: Rüdiger Görner ist in vielen Gefilden zu Hause, und manchmal sogar in so vielen zugleich, dass man ihm zurufen möchte: Verweile doch und bleib da, wo Du gerade bist! Ganz kurz nur, versprochen!
Der Germanist Görner ging früh von Tübingen nach England, wurde Universitätslektor und bald Professor in Birmingham. Seit 1999 arbeitet er als Direktor des weltweit renommierten, seit 1950 bestehenden Londoner «Institute of Germanic Studies», einer Einrichtung mit hochkarätigem Vortrags- und Tagungsprogramm und vielerlei Aktivitäten zum kulturellen Austausch zwischen Deutsch- und Englischsprechenden, vor allem aber mit einer unvergleichlich reichen und gepflegten Bibliothek, einem Eldorado für Literaturforscher und Kulturwissenschafter. Mit über 90 000 Werken vom späten 15. Jahrhundert bis heute ist sie ausserhalb des deutschen Sprachraums die grösste ihrer Art. Man findet deutschsprachige Literatur in Erst-, Einzel- und Gesamtausgaben weit über die bekannten Schriftstellernamen hinaus, wichtige Anthologien und Zeitungen, mehr als 300 literarische und germanistische Periodika und eine Fülle bedeutender Sekundärliteratur, vor allem aus den letzten 150 Jahren. Ganz besonders gepflegt werden die umfangreichen Sammlungen und Nachlässe zur Exilliteratur, was 1995 zur Gründung des verdienstvollen «Research Centre for German and Austrian Exile Studies» führte. Um eine ungefähre Ahnung von Wirkung und Qualität des Instituts zu geben, sei bloss darauf hingewiesen, dass allein seit Herbst 2003 mehr als hundert international angesehene Wissenschafter am Londoner Russell Square ihre Forschungsergebnisse vorstellten, zum Beispiel auf Tagungen über wechselseitige (Nicht-) Wahrnehmung von Exil und Innerer Emigration, über britisch-deutsche Kultur-Affinitäten und -Antipathien im 19. Jahrhundert oder über Adalbert Stifter, Georg Kaiser und andere Autoren. Robert Musil und Joseph Roth stehen 2004 auf dem Tagungsprogramm, und die Tagungen haben wiederum Bücher zur Folge, die angesehenen «Publications of the Institute of Germanic Studies». Auch ein deutschsprachiger «Writer-in-Residence» darf nicht fehlen – 2004 ist es Evelyn Schlag. All dies trägt dazu bei, dass London unbestritten eine der ersten Adressen der internationalen Germanistik ist. Und Rüdiger Görner immer mittendrin.
Seit 25 Jahren lebt Görner in London oder zumindest in der Nähe dieses faszinierend-chaotischen Amalgams, und das ist beim Lesen seiner «Londoner Fragmente» auf jeder Seite bemerkbar. «Literarische Streifzüge» lautet der Untertitel dieses immer der Literatur entlang geschriebenen, von enormer Belesenheit und verblüffender Sachkenntnis zeugenden Buches, das Görners London- und Leseerfahrung derart dicht bündelt, dass dem Leser angst und bange werden kann. Man wusste: London ist auch eine Literaturstadt. Aber was für eine reiche, auch in sich widersprüchliche, vertrackte und begeisternde Literaturstadt die britische Kapitale ist, weiss man erst nach 199 Seiten Görner. Seine Streifzüge führen ihn durch Southwark, die City, Bloomsbury, Westminster und Chelsea bis hinaus nach Hampstead und in die Suburbs. Hier kennt jemand seine Stadt und deren Dichter, von Daniel Defoe bis Hanef Kureishi. London aber «ist keine Stadt der Ziele, sondern der Um- und Abwege», und so sind die U-Bahn oder das sogenannte Nachtleben unumgängliche Begleiterscheinungen solcher Streifzüge.
Görner spricht darüber ebenso elegant und niveauvoll wie über Theodor Fontane, den legendären «Reform Club» oder über die heterogene Gruppe deutschsprachiger Exilautoren, von H.G. Adler, Franz Baermann Steiner und Elias Canetti über Theodor Kramer bis zu Stefan Zweig. Er kennt London auch aus den Werken von Heinrich Heine, Friedrich Hebbel oder Wolfgang Hildesheimer. Der Görner-Leser bekommt eine gehörige Menge von diesem reichen Wissen mit auf seine eigenen Wege, und gewisse Stimmungen und Farben, das Tempo dieser Mega-City und ihre bisweilen neblig-verhangene Melancholie mit dazu. Wenngleich: «Das sogenannte London-Wetter hat sich von London verabschiedet und findet sich jetzt in Birmingham oder Lille, in Oxford oder Brügge. London, so scheint es mir oft, bewegt sich in Richtung Wetterlosigkeit.» Der Autor, der 1997 schon «Streifzüge durch die englische Literatur» vorgelegt hat, erweist sich geradezu als Idealbesetzung für dieses Buch, das leicht doppelt so lang sein könnte: «London, so lautet der Name eines hartnäckigen, unabschliessbaren Fortsetzungsromans.»
Gibt es gar nichts Kritisches zu sagen? Doch, denn erstaunlicherweise wird dieser so versierte Erzähler mit einem Nebenstrang seines Textgewebes auch Opfer seines hohen ästhetischen Anspruchs. Eine in erstaunlich kontrastreichen Gelbtönen gekleidete Reisebekanntschaft dient ihm zum «ein wenig exaltiert-erotisierten Rahmen» seiner grandiosen London-Reflexionen, wie die für ihre vornehme Zurückhaltung bekannte «Frankfurter Allgemeine Zeitung» formuliert – ein netter und doch, so darf man verdeutlichend hinzufügen, höchst überflüssiger Erzählrahmen, den dieses wundersam gelungene, weil lehrreiche und zugleich poetische Buch nicht gebraucht hätte. Geniessen wird man es dennoch. Sein jüngstes Buch gilt Rainer Maria Rilke. So treulich und akribisch folgt Görner dessen Spuren, dass ihm gängige Einordnungen und Periodisierungen immer fraglicher werden müssen. Die Darstellung des Schaffensprozesses und der Nachweis der Geschlossenheit von Rilkes Werk stehen im Mittelpunkt. Er erörtert Rilkes «Denken des Herzens», das «Herz» als Urwort, die Frage nach dem «Herz» als einzigem «Ort» in einer ortlosen Welt. «Im Herzwerk der Sprache» lautet der Untertitel dieser Studie, die – man mag es nach den letzten vier Germanistik-Jahrzehnten kaum glauben und schon gar nicht locker hinschreiben – Lebensbeschreibung und Deutung der Texte plausibel miteinander verwebt. Von den Jugendwerken bis zu den spätesten Gebilden geht Görner dem nach, was Rilke beeindruckt und was er in seine unvergleichlich dichte poetische Sprache umgeformt haben könnte – Musik, bildende Kunst und Literatur, Begegnungen und Reisen, immer wieder die Politik, im Grunde das ganze Leben.
Görner schreibt auch hier luzide, er schreibt elegant und begeistert und bleibt trotzdem auf dem Boden und damit für ein grösseres Publikum lesbar. Wenn – ja wenn man die gut zwei Seiten umfassende Insider-Vorbemerkung überblättert. Das dort aus einem Brief von Carl Jacob Burckhardt an Hugo von Hofmannsthal Zitierte mag bedenkenswert, das zum heutigen Rilke-Bild Gesagte mag ganz richtig sein – aber an den Anfang einer höchst gebildeten und dennoch schwebend-leichten Rilke-Biographie, die zu Recht auf eine breitere Leserschicht zielt, gehört das nicht. Da stellt sich der eminente Universalgelehrte und hochrangige Stilist, als der sich Görner auch hier wiederum präsentiert, unnötigerweise selbst ein Bein. Was nicht weiter schlimm ist und bald vergessen, wenn man sich eingelesen hat. Wer schreibt noch Dichterbiographien, die das Erste und Wichtigste ins Zentrum stellen, das Werk nämlich, wer schreibt sie mit mitreissender Begeisterung und nüchternem Philologensachverstand zugleich? «Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung …» – man ist am Ende des Buches fast versucht, Rilkes Verse aus der «Zweiten Duineser Elegie» auf den Autor zu beziehen. Von dem, da darf man ganz sicher sein, noch eine ganze Menge lesens- und studierenswerte Bücher kommen werden.
Rüdiger Görner, «Londoner Fragmente. Literarische Streifzüge», Patmos / Artemis & Winkler, Zürich 2003.
Rüdiger Görner, «Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache», Zsolnay, Wien
2004.
Klaus Hübner, geboren 1953 in Landshut, promovierte in Germanistik und lebt als Publizist und Redaktor der Zeitschrift «Fachdienst Germanistik» in München.