Der Stadt-Land-Graben ist
komplexer als gedacht – trotzdem gefährdet er den Schweizer Zusammenhalt
Die politischen Unterschiede zwischen Stadt, Agglomeration und Land sind weniger klar, als man meinen würde. Ressentiments sind vor allem bei jenen Leuten relevant, die sich sehr stark mit ihrem Wohnort identifizieren.
Städterinnen wählen die SP, fahren Fahrrad und ernähren sich vegan; Landbewohner wählen die SVP, besitzen mehrere Autos und singen im Jodelchor. Solche stereotypischen Bilder existieren bis heute in den Köpfen vieler, wenn sie über städtische und ländliche Wohnorte in der Schweiz nachdenken. Doch die Realität ist bei Weitem nicht so simpel. In meiner Forschung habe ich herausgefunden, warum der Schweizer Stadt-Land-Graben komplexer ist als gedacht und wie er künftig zu einer Zerreissprobe für die Gesellschaft werden könnte.
Das grosse Dazwischen
Wenn wir über den Stadt-Land-Graben sprechen, weckt das das Bild zweier entgegengesetzter Gruppen: dicht besiedelte Orte mit Hochhäusern, Verkehr und Lärm auf der einen Seite, romantisierte Dörfer mit Einfamilienhäusern und gelegentlichen Kühen auf der anderen. Was dabei oftmals vergessen geht, ist aber, dass rund die Hälfte der Schweizer Bevölkerung weder in der Stadt noch auf dem Land lebt, sondern irgendwo dazwischen: in den Agglomerationen.
Zwar leben Agglomerationsbewohner nahe an den Städten, pendeln teilweise sogar täglich für ihre Arbeit in urbane Zentren und profitieren auch in der Freizeit von deren Infrastruktur, so ganz können sie sich mit der kosmopolitischen Lebensweise aber trotzdem nicht anfreunden. Entsprechend ordnet sich auch knapp jede vierte Person, die in einer Agglomeration lebt, fälschlicherweise dem Land zu. Münsingen, die Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin, ist ein Paradebeispiel dafür. Mit dem Regioexpress nur zehn Minuten von Bern entfernt und gemäss Bundesamt für Statistik eine Agglomerationskerngemeinde, nehmen viele Münsingerinnen und Münsinger ihren Wohnort bis heute eher als ländlich wahr, geprägt durch einen Dorfplatz und das älteste Gasthaus des Kantons Bern.
Doch Agglomerationen sind nicht einfach nur eine Mischung aus Stadt und Land oder können einer der beiden Seite zugerechnet werden: So sind sie in ihren Umwelteinstellungen ähnlicher wie die Städte, während ihre Einstellungen zur aussenpolitischen Öffnung denen auf dem Land gleichen. Und in einigen Fällen scheren sie sogar komplett aus: Menschen in Agglomerationen sprechen sich beispielsweise am stärksten für kleine Einkommensunterschiede aus – stärker sowohl als Städter als auch als Landbewohnerinnen.
«Menschen in Agglomerationen sprechen sich am stärksten für kleine Einkommensunterschiede aus.»
Nicht für alle existiert ein Graben
In meiner Forschung werde ich oftmals mit dem Vorwurf konfrontiert, dass es den Stadt-Land-Graben eigentlich gar nicht gebe. Und tatsächlich existiert die Kluft nicht für alle Menschen gleichermassen. Damit meine ich aber nicht nur die Bewohner der Agglomerationen, die sich weder der städtischen noch der ländlichen Seite zuzuordnen vermögen. Auch unter den Menschen, die ganz klar in einer Grossstadt oder auf dem Land leben, gibt es einige, die der vielzitierte Graben kaum betrifft: nämlich diejenigen mit einer geringen ortsbezogenen Identität.
Jede und jeder von uns hat eine Vielzahl sozialer Identitäten, die ihn oder sie ausmachen. So schreibe ich diesen Artikel als Politikwissenschafterin, bin aber gleichzeitig Frau, Schweizerin, deutschsprachig, jung und – nicht zuletzt – Städterin. All diese Gruppenzugehörigkeiten können die Einstellungen und das Verhalten eines Menschen beeinflussen. Wie stark sie dies tun, hängt davon ab, wie sehr sich jemand mit der entsprechenden Gruppe identifiziert. So spielt der Wohnort beispielsweise erst dann eine Rolle, wenn jemandem wichtig ist, Bewohnerin oder Bewohner der Stadt, Agglomeration oder des Lands zu sein.
Illustrieren möchte ich dies am Beispiel der Migrationseinstellungen. Bei der Frage, ob es sich in der Schweiz wegen der Zuwanderung besser oder schlechter leben lasse, antworten Menschen aus demselben Wohnort ganz unterschiedlich, je nachdem, wie stark sie sich mit ihrem Ort identifizieren. Bei Menschen mit einer geringen ortsbezogenen Identität finden sich kaum Unterschiede zwischen Stadt, Agglomeration und Land; Landbewohnerinnen scheinen Zuwanderung in der Tendenz sogar etwas aufgeschlossener gegenüberzustehen. Der klassische Stadt-(Agglomeration-)Land-Graben findet sich hingegen erst bei Menschen mit einer hohen Identifikation mit ihrem Wohnort: Hier sind die Städter viel migrationsfreundlicher als die Bewohnerinnen und Bewohner der Agglomerationen und vor allem des Lands. Wer eine tiefe ortsbezogene Identität hat – beispielsweise, weil er oder sie häufig umzieht oder sich über andere Merkmale als den Wohnort identifiziert –, trägt also kaum zur Kluft zwischen Stadt und Land bei.
«Wer eine tiefe ortsbezogene Identität hat – beispielsweise, weil er oder sie häufig umzieht oder sich über andere Merkmale als den Wohnort identifiziert –, trägt kaum zur Kluft zwischen Stadt und Land bei.»
Weg mit den Klischees!
Der Stadt-(Agglomeration-)Land-Graben existiert also längst nicht für die gesamte Gesellschaft, sondern nur für einen Teil davon. Ist er dann überhaupt ein Problem? Das hängt zunächst einmal natürlich davon ab, wie viele Menschen überhaupt eine starke ortsbezogene Identität haben. Während sich in Städten und Agglomerationen etwa jede vierte Person stark mit ihrem Wohnort identifiziert, ist es auf dem Land jede dritte. Und in Zukunft könnten es sogar noch mehr werden: Denn wenn der Stadt-Land-Konflikt in den Medien und in politischen Kampagnen plakativ aufgegriffen wird und Ressentiments gegen die andere Seite geschürt werden, kann das die ortsbezogenen Identitäten der Menschen stärken.
Gegenwärtig ist der Graben in der Schweiz aushaltbar. Identifizieren sich künftig aber noch mehr Menschen stark mit ihrem Wohnort und werden in politischen Kampagnen weiterhin negative Gefühle gegen Bewohnerinnen anderer Orte geschürt, könnte sich der Graben künftig vergrössern; und das ist nicht zuletzt auch gefährlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn Gruppenkonflikte zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern von Städten, Agglomerationen und dem Land hängen unter anderem mit politischem Vertrauen und Demokratiezufriedenheit zusammen: Wer negativer gegenüber Bewohnern anderer Orte empfindet, ist im Durchschnitt auch weniger zufrieden mit der Demokratie und misstrauischer gegenüber den politischen Institutionen. Werden Stadt und Land also gezielt gegeneinander aufgebracht, könnte das im schlimmsten Fall unser gesamtes politisches System gefährden.
Umso wichtiger ist es also, den Zusammenhalt zwischen Stadt, Agglomeration und Land zu stärken, indem wir versuchen, das Verständnis für urbane und rurale Lebensweisen zu erhöhen. Ein erster Schritt kann die Überwindung des Klischees der grün-veganen SP-Städte und des Auto fahrenden Jodel-SVP-Lands sein. Denn der Stadt-Land-Graben ist viel komplizierter, als er auf den ersten Blick scheinen mag.