Der Staat und die vielen Nullen
Wenn die Konjunktur nicht von allein läuft, brauchen wir eben staatliche Konjunktur-programme. Sagen viele. Und denkt auch der Bundesrat. Wär die Welt doch so einfach! Warum politischer Aktivismus zumeist mehr schadet als nützt.
Der politische Aktivismus im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise hätte noch vor wenigen Jahren den lautstarken Widerstand vieler ernsthafter Ökonomen und Politiker hervorgerufen. Nach den letzten Monaten, in denen Zahlen mit immer mehr Nullen herumgereicht wurden, scheint es nun aber so, als seien die meisten Realisten und seriösen Rechner verstummt. Zur Erinnerung: auf dem G20-Gipfel in London wurde das grösste fiskalische und monetäre Programm zur Konjunkturstimulierung in der Wirtschaftsgeschichte der Menschheit geschnürt. Dabei ist gross nicht unbedingt gleichbedeutend mit vernünftig, wohl aber mit teuer.
Ohne Zweifel befindet sich die Welt derzeit in einer schwierigen Lage. Allein bis heute haben Privatanleger, Unternehmen und Institutionen Verluste in Höhe von mehr als 50’000 Milliarden US-Dollar bei ihrem Finanzvermögen erlitten. In der Schweiz hat allein die AHV im vergangenen Jahr einen Anlageverlust von fast 5 Millarden Franken erlitten. Die Exportnation Japan musste im Februar dieses Jahres einen rekordhaften Einbruch bei den Ausfuhren um fast 50 Prozent hinnehmen – und so weiter, und so fort. Die Welthandelsorganisation (WTO) prognostiziert, dass das Handelsvolumen aller Industrieländer im laufenden Jahr um zehn Prozent sinken werde – so stark wie noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Für die Weltwirtschaft wird eine Schrumpfung des globalen Bruttoinlandproduktes um rund zwei Prozent vorhergesagt. Das ist viel, aber niemand weiss, ob die Schrumpfung am Ende nicht noch drastischer ausfällt.
Wenn also das freie Spiel der Marktkräfte daran ist, die unübersichtliche Lage zu korrigieren, d.h. Vermögenswerte ebenso wie Arbeitsplätze zu vernichten, dann ruft das weltweit Zentralbanken und Politiker auf den Plan. Denn steht nicht in jedem ökonomischen Lehrbuch geschrieben, dass sie in der Lage seien, die Konjunktur zu stabilisieren – der Staat mittels Fiskalpolitik und die Zentralbank durch ihre Geldpolitik? Das Problem ist nur: das Leben lässt nicht in ein Lehrbuch pressen.
Die unbequeme Wahrheit fängt nämlich schon damit an, dass diese als Retter auserkorenen Institutionen die Wirtschaftskrise wesentlich mitverursacht haben. Hat nicht das amerikanische Fed durch seine expansive Geldpolitik mit Niedrigzinsen erst den Weg für die Immobilienblase in den USA geebnet? Muss man der Finanzmarktaufsicht nicht grösstenteils Versagen vorwerfen? Insofern erinnern die aktuellen Rettungsaktionen von Staaten und Zentralbanken ein wenig an den Feuerwehrmann, der den Brand erst selbst legt, um ihn dann (mehr oder weniger) erfolgreich zu löschen.
Lässt man die letzten Monate Revue passieren, in denen Notenbanken und Regierungen Tausende von Milliarden Dollars, Euros oder Schweizer Franken in den Markt gepumpt haben, dann muss man Zweifel an der schnellen Wirksamkeit dieser expansiven Konjunkturmassnahmen hegen. Die Schweizer Nationalbank betreibt de facto eine Nullzinspolitik und setzt mittlerweile ebenso wie das Fed «unkonventionelle» Geldinstrumente ein, um den Markt mit ausreichend Liquidität zu versorgen – und trotzdem will der Konjunkturmotor kaum anspringen.
Wenig verwundert über diese offensichtliche Wirkungslosigkeit der Geldpolitik zeigt sich die amerikanische Ökonomin Anna Schwartz, die spätestens seit ihrem Werk «A Monetary History of the United States», das sie in den 1960er Jahren gemeinsam mit Milton Friedman herausgegeben hat, hohes internationales Ansehen geniesst. In einem Interview im «Wallstreet Journal» weist die mittlerweile 90jährige Ökonomin lapidar darauf hin, dass die eingesetzten geldpolitischen Instrumente schlichtweg die falschen seien, weil aktuell – anders als in den 1930er Jahren – keine Liquiditätskrise, sondern eine Vertrauenskrise herrsche, deren Ursache nicht auf der Passivseite, sondern auf der Aktivseite der Bilanz zu suchen sei. Schwartz empfiehlt eine einfache, aber radikale Problemlösung: «Firms that made wrong decisions should fail. … Everything works much better when wrong decisions are punished and good decisions make you rich.»
Warum sind staatliche Konjunkturprogramme nicht geeignet, das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Wirtschaft wiederherzustellen? Die Skepsis resultiert keineswegs nur aus ideologischen Überlegungen, sondern sie stützt sich auf die Erkenntnisse zahlreicher empirischer Studien (zum Beispiel des International Monetary Fund IMF), die belegen, dass der theoretisch ableitbare Multiplikatoreffekt diskretionärer Konjunkturpolitik in der Realität oftmals kleiner als eins ist. Die langfristigen Multiplikatoren expansiver Fiskalpolitik können sogar negativ sein. Dies bedeutet nichts anderes, als dass dadurch sowohl mittel- als auch längerfristig mehr Schaden als Nutzen entsteht. Mit solchen Rezepten lässt sich das verlorengegangene Vertrauen in die Zukunft bei den Bürgern und Steuerzahlern verständlicherweise kaum wieder herstellen. Hinzu kommt, dass dadurch die staatliche Verschuldung zunimmt und im Gegenzug die Handlungsfreiheit des Staates reduziert wird – ebenfalls kein besonders vertrauensbildendes Szenario.
Ist es deshalb das beste, nichts zu tun? Hier sei zunächst angemerkt, dass der Verzicht auf eine aktive Konjunkturpolitik nicht zwangsläufig mit Nichtstun gleichzusetzen ist. Denn schliesslich sind all unsere Systeme mit zahlreichen automatischen Stabilisatoren durchsetzt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ohne Dazutun der Politik ein antizyklisches Ausgabenverhalten der privaten Wirtschaftssubjekte bewirken. Besonders deutlich zeigen sich die automatischen Stabilisationseffekte im Steuersystem – und hier vor allem bei den direkten Steuern. Generell nimmt in einer Rezession das staatliche Steueraufkommen aus den indirekten Steuern (wie beispielsweise der Mehrwertsteuer im Falle rückläufiger Verkaufszahlen) ebenso wie aus den direkten Steuern (wie beispielsweise der Einkommens- oder Unternehmenssteuer im Falle rückläufiger Einkünfte und Gewinne) automatisch ab. Im Falle der direkten Steuern, die unmittelbar an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gekoppelt sind, müssen die Steuerzahler bei rezessionsbedingten Einnahmeausfällen nicht nur absolut, sondern aufgrund des progressiven Steuersystems auch relativ zu ihrem Einkommen weniger Steuern zahlen. Dies hat zur Folge, dass die Konsum- und Investitionsausgaben infolge der Konjunkturschwäche nicht so stark zurückgehen, wie dies ohne Stabilisierungseffekte im Steuersystem der Fall wäre.
Aber nicht nur die Einnahmenseite des Staatshaushaltes wirkt als automatischer Stabilisator, sondern auch die Ausgabenseite, wie etwa die Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Der grösste Vorteil solcher automatischer Stabilisatoren ist, dass sie ohne Zeitverzögerung wirken und, im Gegensatz zu den aktivistischen Staatseingriffen in Form von Konjunkturpaketen, kaum schädliche Nebenwirkungen entfalten. Selbst die programmierten Budgetdefizite nehmen sich im Verhältnis zu zahlreichen kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen bescheiden aus. Prognosen für die Schweiz, nachzulesen beispielsweise bei Boris Zürcher (Mitglied der Geschäftsleitung von Avenir Suisse), rechnen für das laufende Jahr mit einem automatischen Stabilisierungseffekt in Höhe von ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Während den automatischen Stabilisatoren somit die kurzfristige Aufgabe zukommt, den Konjunkturverlauf zu glätten, sollte jede aktive Wirtschaftspolitik des Staates sich an längerfristigen Zielen orientieren. Während konjunkturelle Schwankungen in erster Linie die Auslastung bestehender Kapazitäten betreffen, geht es auf lange Sicht um das Volumen der vorhandenen Kapazitäten selbst und damit um nichts anderes als um das nachhaltige Wachstum einer Volkswirtschaft.
Arbeitsvolumen und Arbeitsproduktivität sind die beiden Schlüsselgrössen für Wirtschaftswachstum. Dem Staat kommt dabei die Rolle zu, wachstumsfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Entsprechende Ansätze, wie etwa Bildungs- und Forschungsinvestitionen sowie Wettbewerbsförderung, lassen sich dem Wachstumspaket des Bundesrates entnehmen. Um tatsächlich auch konjunkturgerecht zu sein, muss sich die Wirtschaftspolitik allerdings zwingend an den drei T-Prinzipien orientieren: (1) «timely» in dem Sinne, dass sie geeignet ist, auch zeitnah zu wirken; (2) «targeted», indem sie gezielt wirkt und (3) «temporary», d.h. dass sie zeitlich befristet eingesetzt wird. Da sich diese drei T-Kriterien in der Praxis oftmals nur sehr schwer einhalten lassen, sollte im Zweifelsfall der langfristigen Nachhaltigkeit mehr Gewicht als den kurzfristigen Impulsen im Sinne des «timely» beigemessen werden. Vertrauen kann nämlich nur dann wiederhergestellt werden, wenn auch die Regierungen mit ihrer Politik nicht nur die Gegenwart, sondern vor allem auch die Zukunft im Auge haben.
Schliesslich kann die Vertrauenskrise nur dann überwunden werden, wenn eine Neuregulierung der Finanzmärkte stattfindet – nicht im Sinne von mehr Regulierung, sondern in dem Sinne, dass künftig falsche Entscheidungen bestraft werden und richtiges Handeln belohnt wird, wie Anna Schwartz dies fordert. Das ist die eigentliche Herausforderung für die Zukunft. Und es ist eine harte Tour, die viel Mut, Konsequenz und Durchhaltevermögen verlangt. Deshalb tendieren viele Politiker ebenso wie Vertreter der Privatwirtschaft dazu, die leichte Tour zu wählen: Aktivismus zu entfalten und die Botschaft zu verbreiten, dass es der Staat richten werde. Die Botschaft kommt gut an. Aber dass sie gern gehört wird, macht sie nicht wahrer.
Silvia Simon, geboren 1971, ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur und stellvertretende Leiterin der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik.