Der Staat und die Kinder
Verzicht auf Nachwuchs wird belohnt Der demographische Wandel ist für die Wohlfahrtsstaaten Europas eine Herausforderung von epochaler Dimension. Implizit betreiben sie alle eine aktive Bevölkerungspolitik
– mit Abreizen statt mit Anreizen.
Nach Ansicht des deutschen Bevölkerungswissenschafters Herwig Birg steht uns eine demographische Zeitenwende bevor. Schon einmal hat Europa eine solche durchlebt, allerdings in umgekehrter Richtung, als es im späten 18. Jahrhundert die Fesseln der malthusianischen Falle sprengte. Im Zuge der Industriellen Revolution stiegen die Bevölkerungszahlen stark an; Angehörige aller Schichten konnten früher Ehen schliessen und Kinder haben. Die Zahl der Geburten nahm zu, während gleichzeitig eine bessere medizinische Versorgung die Kindersterblichkeit senkte und die Lebensdauer steigerte. Innerhalb von nur hundert Jahren verdoppelte oder verdreifachte sich die Bevölkerung in den meisten Ländern des Kontinents.
Schon Karl Marx schrieb in seinem «Kapital», dass steigender Wohlstand die Geburtenziffern nicht steigen, sondern sinken lasse. Mit höherem Einkommen, so zeigte er im Widerspruch zur malthusianischen Lehrmeinung, werde die Zahl der Kinder abnehmen. Und in der Tat: die von Malthus beschriebenen sogenannten positive checks (Krieg, Hungersnöte oder Epidemien) blieben zwar aus, aber die Menschen entdeckten rasch neue Möglichkeiten von preventive checks, nämlich jene der Familien- und Geburtenplanung.
Schon am Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Geburtenraten drastisch zu fallen, in Deutschland von fast sechs Kindern pro Frau im Jahr 1870 auf drei Kinder kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Darin drückt sich ein einfaches ökonomisches Gesetz aus, das den Übergang von der traditionellen zur rationellen Gesellschaft markiert: Je geringer der wirtschaftliche Nutzen von Kindern und je grösser die Last ihrer Erziehung, desto weniger Nachwuchs wünschen die Menschen. Die rationale Orientierung an dieser von Joseph Schumpeter im Jahre 1942 eindrücklich beschriebenen «unausgesprochenen Kostenrechnung» gilt auch im Privatleben; sie ist nicht zu verurteilen, sondern als Faktum anzuerkennen.
Auch der Staat, seine Alterssicherungs- und Umverteilungssysteme spielen eine gewichtige Rolle. Bismarcks paternalistische Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre zeitigte anfangs nur geringe redistributive Wirkung. Da auf strenge Parität zwischen den Ein- und Auszahlungen der Versicherten geachtet wurde, wirkte die Sozialkasse ökonomisch neutral. Bald schon bemächtigten sich Sozialpolitiker eines anderen Schlags der Wohlfahrtssysteme. Krieg und Inflation hatten die Reserven zweimal vernichtet. Statt der Kapitaldeckung erschien ein Umlageverfahren als der bessere Weg. Adenauers Rentenreform kurz vor Wahlen, die 1957 eine dynamische Steigerung der Alterspensionen vorsah, verhalf der CDU zur absoluten Stimmenmehrheit. Die dynamische Rente rief allerdings schon damals Warner, unter ihnen Ludwig Erhard, auf den Plan. Wilhelm Röpke etwa wetterte, das Rentnergeschenk beschleunige den Weg in die Abhängigkeit vom Taschengeldstaat. Der Wohlfahrtsstaat sei das Ende der Wohlfahrt, seelenlose Massenorganisationen und Umverteilungsbürokratien träten an die Stelle der gelebten Familiensolidarität. Für den liberalen Röpke war der aufgeblähte Wohlfahrtsstaat nicht die Lösung, sondern Teil des Problems.
Vom Babyboom zum Babystreik
Freilich sah damals keiner der Kritiker die demographischen Umwälzungen voraus, die das Prinzip der umlagefinanzierten Sozialsysteme untergraben sollten. Die kühnsten demographischen Projektionen der Statistiker reichten gerade bis in die 1980er Jahre. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde ein Anstieg der Rentnerpopulation von knapp acht auf vierzehn Prozent der Bevölkerung vorausgesagt. Für die Jahre danach ging man stillschweigend von einer Umkehr dieses Trends aus – eine Illusion, die vermutlich durch das kurzlebige Phänomen eines Babybooms nach dem Krieg genährt wurde.
Mit der Einführung der empfängnisverhütenden Pille brach die Geburtenrate weltweit ein. Seit Anfang der 1970er Jahre wird in fast allen westlichen Ländern die Nettoreproduktionsrate, also jene Anzahl von KinKindern pro Frau, die zur Erhaltung der Bevölkerung führt, deutlich unterschritten. Osteuropa scheint nach dem Schock des kommunistischen Zusammenbruchs im völligen Geburtenstreik. Deutschland liegt mit einem Wert von 1,3 Kindern pro Frau auf dem 180. Platz der Weltskala, die Schweiz mit 1,4 Kindern pro Frau nur knapp davor. In Frankreich werden immerhin 1,8 Kinder pro Frau geboren. Von allen Industriestaaten sind die USA das einzige Land, dessen Statistik einen gesunden Wert von knapp über zwei Kindern pro Frau aufweist. Der Geburtenrückgang ist ein universelles Phänomen. Selbst in ärmeren Regionen sinken die Geburtenraten schneller, als Prognosen glauben machen wollten. In Mexiko etwa ist die Zahl der Kinder pro Frau seit 1970 von 6,5 auf 2,7 gefallen.
Kinder galten früher als Altersversorgung. Diese Funktion hat nunmehr der Sozialstaat mit seinen Rentenkassen übernommen. Welchen Einfluss aber die Umverteilungsmechanismen auf das Reproduktionsverhalten haben, ist den wenigsten klar. Man kann den Lenkungseffekt einer umlagefinanzierten Rente zwar schwer quantifizieren, die Richtung ist aber eindeutig negativ. Eltern kommen für die Erziehungskosten ihres Nachwuchses auf, später aber profitieren auch Kinderlose von den Rentenbeiträgen der Kinder. Mit der umlagefinanzierten Rente vergesellschaftet der Staat die Leistungen der Kinder, ihre Beiträge sind Allgemeingut. Auch darum werden tendenziell weniger Kinder geboren.
Ist es nicht eine gar reduktionistische Sicht des Menschen, den Nachwuchs derart unter materialistischen Gesichtspunkten zu beurteilen? Ob es gefällt oder nicht, Nobelpreisträger Garry Becker hat darlegt, wie stark Menschen bei ihrer Familienplanung ökonomische Signale beachten. Heute erscheint eine grosse Kinderschar, relativ zu anderen Konsumgütern, die mit hohem Maschineneinsatz immer billiger hergestellt werden, als unerschwinglicher Luxus. Junge Paare bleiben immer öfter kinderlos.
Profitierende Nachwuchsabstinente
Der redistributive Effekt des Rentensystems variiert von Land zu Land. In der Schweiz ruhen schätzungsweise 40 Prozent der Rentenansprüche auf den Säulen der individuellen, kapitalgedeckten privaten und betrieblichen Vorsorge. Die Umverteilung ist hier viel geringer als beispielsweise in Deutschland, wo das System zu 85 Prozent auf eine vermeintlich sichere staatliche Rente baut. Sicher ist, dass die deutsche Rente, wie jedes Schneeballsystem, bald einmal gegen die Wand fahren wird.
Die allgemeine Umlage bewirkt nicht nur einen erheblichen Nettotransfer von der arbeitenden Generation zur jetzigen Rentnergeneration. Zusätzlich profitieren die Kinderlosen von jenen, die noch Nachwuchs haben. Nach Schätzungen des Chefs des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, schöpft der deutsche Staat von den späteren Beiträgen eines jeden neugeborenen Kindes etwa 100’000 Euro in den allgemeinen Rententopf. Im Ergebnis schaufelt die öffentliche Hand so über das Rentensystem jährlich mehrere Milliarden Euro von Familien mit Kindern zu den Nachwuchsabstinenten. Zahlen dieser Grössenordnung zeigen, wie stark der umverteilende Staat bereits heute die Entscheidung für oder gegen Nachkommenschaft verzerrt.
Grundsätzlich beurteilen Liberale eine aktive staatliche Bevölkerungspolitik mit Skepsis: In den Schlafzimmern hat die Obrigkeit nichts zu suchen. Verfassungsrechtler argumentieren zwar, zur Sicherung des Sozialstaats sei eine stimulierende Familienpolitik akzeptabel. Doch nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit totalitären Regimen stehen politische Massnahmen zur Anhebung der Geburtenrate unter dem Verdacht der staatlichen Einmischung und Bevormundung. So oder so: Die demographische Zeitenwende taucht den umverteilenden Sozialstaat in ein fahles Licht. Seine verzerrenden Effekte und fiskalischen Fehlanreize können nicht länger ignoriert werden. Denn alle Untersuchungen belegen: Neben dem gesellschaftlichen Klima, das während der letzten dreissig Jahre hedonistische Selbstverwirklichung der familiären Bindung vorzog, lenken ökonomische Massgaben die Entscheidung für oder gegen Kinder. Mit dem Anziehen der Steuerschraube würgt der umverteilende Sozialstaat den Produktivitätszuwachs ab. Die demographischen Folgen solcher Politik mögen den Verantwortlichen bislang kaum bewusst sein, sie werden aber unser Schicksal bestimmen. Eine aktive Bevölkerungspolitik ist in den meisten westlichen Wohlfahrtsstaaten längst Realität – nur eben im negativen Sinn. De facto läuft eine riesige intergenerationelle Umverteilungsmaschinerie von den Kinderhabenden zu den Kinderlosen. Um das demographische Ruder herumzureissen, müsste der Staat durch den geordneten Rückzug aus kontraproduktiven Fördermassnahmen dafür sorgen, dass die Menschen im Hinblick auf ihre Altersvorsorge wieder ein persönliches Interesse an eigenen Kindern haben, und zwar an solchen, die gut erzogen und gut ausgebildet sind.
Philip Plickert, geboren 1979, studierte Ökonomie an der Universität München und an der London School of Economics. Zur Zeit doktoriert er an der Universität Tübingen.