Der Spagat zwischen Legitimation und Unabhängigkeit
Richter können nicht demokratisch gewählt und zugleich immun gegen politische Beeinflussung sein. Das Dilemma lässt sich entschärfen – mit klaren und transparenten Regeln.
Die Diskussionen um die Wiederwahl von Bundesrichter Yves Donzallaz haben der Öffentlichkeit ein von Politik und Rechtswissenschaft bislang ungelöstes Problem aufgezeigt: Wie können die Mitglieder von Gerichten durch demokratische Wahlen legitimiert werden und gleichzeitig über richterliche Unabhängigkeit verfügen? Solche Debatten sind auch in anderen demokratischen Staaten unter den jeweils spezifischen Gegebenheiten an der Tagesordnung. Dennoch wird in der Schweiz von Seiten der Medien, der Politik, aber auch der Wissenschaft der Eindruck erweckt, die richterliche Unabhängigkeit sei hierzulande in besonderer Weise bedroht. Ist dem wirklich so?
Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt ist das Gebot, dass in der Demokratie die Ausübung aller Staatsgewalt auf das Volk zurückgeführt werden kann. Um eine hinreichende demokratische Legitimation der Richterinnen und Richter sicherzustellen, muss das Volk somit in irgendeiner Weise an der Bestellung der Richterschaft mitwirken. Das kann unmittelbar durch eine Volkswahl geschehen, wie dies beispielsweise bei den Bezirksgerichten im Kanton Zürich und vielen weiteren Gerichten in der Schweiz der Fall ist. Unter Geltung des Demokratieprinzips ebenso unproblematisch ist eine Wahl der Gerichtsmitglieder durch das vom Volk gewählte Parlament. Dies ist in der Schweiz auf Bundesebene und in verschiedenen Kantonen bei den obersten Gerichten der Fall. Weitet man den Blick auf das Ausland aus, bietet sich ein äusserst vielfältiges Bild. Nicht selten werden in europäischen Staaten Auswahlverfahren angewendet, bei denen Legislative und Exekutive zusammenwirken. Gerade bei Verfassungsgerichten lässt sich aber eine Dominanz der Wahl durch das Parlament beziehungsweise von spezifisch hierfür eingesetzten Gremien aus dem Kreis der Parlamentarier feststellen.
In der Hand des Parlaments
Sämtliche demokratischen Verfahren zur Bestellung von Gerichten geraten in einen strukturellen Konflikt mit dem ebenfalls verfassungsrechtlich verankerten Gebot der richterlichen Unabhängigkeit. Dies gilt jedenfalls, soweit die richterliche Unabhängigkeit vor Beeinflussungen durch die anderen Staatsgewalten schützt. Jedes demokratische Staatswesen steht daher vor der Herausforderung, die Anforderungen an die demokratische Legitimation der Gerichte in einen Ausgleich mit der richterlichen Unabhängigkeit zu bringen. Die Staaten verfügen dabei über einen weiten politischen Spielraum, wie auch das Bundesgericht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Gerichtshof der Europäischen Union anerkennen. Dabei kann festgehalten werden, dass das gegenwärtig auf Bundesebene geltende Verfahren zur Wahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter durch das Parlament auf eine Amtszeit von sechs Jahren in der Bundesverfassung selbst verankert ist und auch mit den Vorgaben des internationalen Rechts wie insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention im Einklang steht. Auch in anderen europäischen Staaten geht der Trend hin zu einer Bestellung jedenfalls der obersten Gerichte durch die Parlamente. Vor diesem Hintergrund besteht kein Anlass, an der Zuständigkeit des Parlaments zu rütteln. Dies gilt auch im Hinblick auf die Justizinitiative. Diese schlägt vor, dass eine vom Bundesrat eingesetzte Kommission eine Auswahl geeigneter Kandidaten trifft, unter denen danach das Los entschiede. Ein solches Verfahren muss unter den Gesichtspunkten von Transparenz und Pluralität als Rückschritt bezeichnet werden.
Nun könnte es aber sein, dass sich in der Praxis Usanzen oder gar gewohnheitsrechtliche Regeln herausgebildet haben, die das verfassungsrechtlich austarierte Gleichgewicht stören. In diesem Zusammenhang genannt werden die Vergabe der einzelnen Stellen an Gerichten nach dem Parteienproporz und die damit verbundene Mitgliedschaft der Richterinnen und Richter in einer Partei. Die Parteimitgliedschaft zieht eine je nach Partei unterschiedlich hohe Mandatsabgabe nach sich. Der Kritik hieran liegt die Auffassung zugrunde, die Verbindungen der Gerichtsmitglieder zu den Parteien mache diese politisch voreingenommen und beeinträchtige dadurch deren Unabhängigkeit.
«Es würde sich lohnen, über eine Beschneidung der Zuständigkeiten des
Bundesgerichts in hochpolitischen Fragen nachzudenken – auch um eine
Instrumentalisierung der Justiz durch die Politik zu erschweren.»
Letztlich bleibt die Diskussion um die Parteizugehörigkeit indes an der Oberfläche und versucht dem Kernproblem mithilfe eines rein formalen Kriteriums auszuweichen. Denn wie immer auch das Verfahren zur Besetzung von Gerichten ausgestaltet ist, die für die Bestellung zuständigen Organe werden immer versucht sein, Personen auszuwählen, die mutmasslich ihren politischen Präferenzen entsprechen. Man denke etwa an die kürzlich erfolgten Reformen in Polen, die Besetzung der im Jahr 2014 neu geschaffenen Verwaltungsgerichte in Österreich, die regelmässig wiederkehrenden Polemiken bei der Besetzung des amerikanischen Supreme Court und des deutschen Bundesverfassungsgerichts sowie jüngst die von der spanischen Regierung geplante Umgestaltung des Wahlausschusses für die obersten Gerichte. Die Liste von Beispielen aus fast allen demokratischen Staaten liesse sich beliebig verlängern.
Die Versuchung der bestellenden Behörden, die Richterinnen und Richter nach eigenem politischem Gusto auszuwählen, wird umso grösser, je politischer die jeweils von dem Gericht zu treffenden Entscheidungen eingeordnet werden. Bei einem Verfassungsgericht, das über die Befugnis verfügt, Gesetze des Parlaments oder im Notstand von der Regierung erlassene Beschlüsse aufzuheben, liegt der Anreiz zur politischen Beeinflussung auf der Hand. Nicht zuletzt deshalb hat die Politik in Deutschland das Bundesverfassungsgericht stärker unter Kontrolle gebracht, indem das Parlament zuletzt vermehrt politische Amtsträger in das Gericht wählte.
Auch in der Schweiz überrascht die Intensivierung der Auseinandersetzungen um die Besetzung der Richterstellen am Bundesgericht nicht. Das Bundesgericht wird in politisch umstrittenen Fragen ein immer wichtigerer Akteur. Es übt zum einen eine machtvolle Verfassungsgerichtsbarkeit über die Kantone aus. Dies zeigt sich beispielsweise an den kleinteiligen Vorgaben für das Wahlrecht der Kantone oder die extensive Auslegung von Grundrechten. Zum anderen erlangte das Bundesgericht durch die im Jahr 2000 angenommene Justizreform auch auf der Bundesebene zusätzliche Kompetenzen. Die erstmalige Aufhebung einer eidgenössischen Volksabstimmung vergangenes Jahr ist deutlicher Ausdruck davon, dass das Bundesgericht seine hinzugewonnene Macht auch bewusst ausübt. Die zunehmende Bedeutung des Völkerrechts wie etwa der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU festigt die Stellung des Bundesgerichts zusätzlich. Vor diesem Hintergrund würde es sich lohnen, über eine Beschneidung der Zuständigkeiten des Bundesgerichts in hochpolitischen Fragen nachzudenken – auch um eine Instrumentalisierung der Justiz durch die Politik zu erschweren.
Wahl auf Lebenszeit?
Unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit muss es also darum gehen, die Gerichtsbarkeit vor allzu penetranten Beeinflussungen durch die Politik in Parlament und Regierung abzuschirmen. Verschiedene Staaten versuchen dies dadurch zu erreichen, dass bei der Besetzung der Gerichte qualifizierte Mehrheiten erforderlich sind. In der Logik parlamentarischer Systeme zwingt dies die Regierungsmehrheit dazu, die Opposition zu beteiligen. Unter der Annahme politischer Wechsel im Rhythmus der Legislaturperioden führt dies im Ergebnis zu einer proportionalen Verteilung der Stellen an den Gerichten. Der im Konkordanzsystem der Schweiz zur Anwendung gelangende Parteienschlüssel führt zu einem ähnlichen Ergebnis. Nur dass dies präziser und schneller geschieht. Vor allem neue politische Kräfte kommen viel eher zum Zug, wie sich am Beispiel der Grünliberalen Partei deutlich zeigt. Der Parteienproporz ist somit letztlich auch im internationalen Vergleich ein ausgewogener und flexibler Verteilungsmechanismus.
Noch nicht beantwortet ist damit aber die Frage, wie die Richterinnen und Richter nach erfolgter Wahl vor politischem Einfluss abgeschirmt werden können. Ein besonders wirksames Instrument wäre zweifellos die Wahl auf Lebenszeit. Zwischen der sechsjährigen Amtsdauer mit Wiederwahlmöglichkeit und der einmaligen Wahl auf Lebenszeit finden sich in den verschiedenen Staaten zahlreiche Varianten. Gerade bei Verfassungsgerichten kommen häufig einmalige Amtszeiten von um die zehn Jahre vor. Welche Kombination von Amtszeit und Wiederwahlmöglichkeit als opportun anzusehen ist, bleibt letztlich eine politische Frage, die im jeweiligen Kontext des politischen Systems zu beantworten ist. Eine Evidenz, die sechsjährige Amtszeit mit Wiederwahl auf Bundesebene sei funktional ungeeignet, besteht jedenfalls nicht. Die Forderung einiger Richterinnen und Richter nach einmaliger Wahl bis zum Pensionsalter ist als standespolitische Forderung nachvollziehbar. Eine derartige Regelung würde aber das Demokratieprinzip schwächen und müsste jedenfalls mit Blick auf die Machtfülle des Bundesgerichts im europäischen Vergleich als Singularität erscheinen.
Das gegenwärtige System lässt sich somit verfassungspolitisch nach wie vor gut begründen. Es basiert jedoch massgeblich auf der politischen Kultur der Konkordanz. Gerade der Parteienschlüssel ist ein Ausfluss dieser Kultur. Mit ihm verbunden ist die politische Garantie, Richterinnen und Richter wiederzuwählen. Erst wenn eine Parteienkoalition mit einfacher Mehrheit alle sechs Jahre sämtliche Richterinnen und Richter der Gerichte des Bundes auswechseln beziehungsweise mit Personen aus dem eigenen politischen Lager besetzen würde, müsste dringend über den verfahrensmässigen Einbezug der Opposition und die stärkere Abschirmung der Justiz gegenüber der Politik nachgedacht werden. Die Wiederwahl sämtlicher Bundesrichterinnen und -richter, Yves Donzallaz eingeschlossen, im Herbst dieses Jahres zeigte aber, dass eine grosse Mehrheit im Parlament das Bekenntnis für eine politisch möglichst breit abgestützte Richterschaft nach wie vor mitträgt. Die Zurückhaltung der Politik hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit geht so weit, dass eine Partei einen ihr nicht mehr genehmen Richter nicht aus politischen Gründen gleichsam abberufen kann.
Befragungen öffentlich machen
Dies heisst aber nicht, dass nicht verfahrensrechtliche Verbesserungen im Interesse der richterlichen Unabhängigkeit angezeigt wären. Solche wurden auf Bundesebene im Jahr 2003 mit der – vom Parlament selbst initiierten – Institutionalisierung der Gerichtskommission zur Vorbereitung der Wahlen der Richterinnen und Richter an den Gerichten des Bundes auch bereits vorgenommen. Mit der öffentlichen Ausschreibung der Stellen wurde die Transparenz erhöht und die Sichtung der Bewerbungen durch die Kommission führt zu einer stärkeren Gewichtung fachlicher Kompetenzen. So kam es in der Praxis durchaus vor, dass fachlich als hervorragend erachtete Bewerberinnen und Bewerber in Abweichung vom Parteienschlüssel gewählt wurden und dieser erst bei einer späteren Vakanz erfüllt wurde. Auch hat die Gerichtskommission durch ihre Wiederwahlempfehlung massgeblich dazu beigetragen, den auf genau bezeichnete «Fehlurteile» gestützten Forderungen nach der Nichtwiederwahl von Yves Donzallaz argumentativ den Boden zu entziehen.
An diesen Punkten sollten behutsame Reformen zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit ansetzen. Unter Beibehaltung des Parteienschlüssels, der aus Transparenzgründen in groben Zügen im Gesetz zu verankern wäre, sollten weitere Auswahlkriterien hinzugefügt werden, die auf die fachliche und soziale Kompetenz der Bewerberinnen und Bewerber abstellen. In der Umsetzung müssten Instrumente zur Prüfung des individuellen Leistungsausweises etabliert werden, indem beispielsweise Fachpublikationen einem Review unterzogen oder die Ausübung bisheriger Führungsfunktionen evaluiert würde. Dies bedingt zum einen, dass die Mitglieder der Kommission selbst über Fachkenntnisse verfügen oder sich diese zumindest mithilfe externer Expertise zugänglich machen können. Zum anderen sollten auch die sozialen Kompetenzen einer systematischen Prüfung unterzogen werden. Mit Blick auf die Vorgänge an verschiedenen Gerichten des Bundes in jüngerer Zeit, etwa am Bundesstrafgericht, scheint dies besonders wichtig. Externe Assessments wären hier eine Option. Und warum soll die Befragung der Kandidatinnen und Kandidaten in der engeren Auswahl nicht öffentlich erfolgen? Die in einem derart anspruchsvollen Verfahren ausgewählten Richterinnen und Richter böten dann aufgrund ihrer fachlichen und sozialen Kompetenzen beste Gewähr, um Einflussnahmen von Seiten der Politik zu widerstehen. Flankiert durch eine seriöse Begleitung seitens der Gerichtskommission und eine Kontrolle durch kritische Medien sollten dann jedenfalls durchsichtige, auf einzelne Urteilssprüche Bezug nehmende Manöver ins Leere laufen. Zugleich könnte dies durchaus dazu führen, dass auch einmal eine hervorragend qualifizierte Person ohne Parteizugehörigkeit gewählt wird. In ausdifferenzierte und transparente Verfahrensvorschriften gegossen, bestehen gute Aussichten, dass sich die richterliche Unabhängigkeit auf dem Fundament solider demokratischer Legitimation der Gerichte mittelfristig weiter festigen lässt.
Der anspruchsvolle Spagat zwischen demokratischer Legitimation und richterlicher Unabhängigkeit gelingt in der Schweiz bei genauerem Hinsehen nach wie vor gut – gerade auch im internationalen Vergleich. Die zunehmende Komplexität und Spezialisierung im Rechtswesen spricht aber für eine Professionalisierung der Auswahlverfahren, um die fachliche und soziale Kompetenz der Aspirantinnen und Aspiranten noch stärker auf den Prüfstand zu stellen. Auf Bundesebene könnte der Einbezug externen Sachverstands durch die Gerichtskommission eine zielführende Massnahme sein.