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Der schwindende Arbeitswille gefährdet die Altersvorsorge
Gregory Nöthiger, zvg.

Der schwindende Arbeitswille gefährdet die Altersvorsorge

Immer mehr Erwerbstätige arbeiten Teilzeit. Dadurch droht das Vorsorgesystem aus dem Gleichgewicht zu geraten. Die individuelle Leistung muss wieder wichtiger werden.

Der Wunsch, weniger zu arbeiten, der sich insbesondere in den jüngeren Generationen zunehmend verbreitet, könnte weitreichende Konsequenzen haben. Aber vielleicht nicht jene, die sich die jungen Grünen ausmalen, wenn sie in einem Positionspapier1 die 24-Stunden-Woche bei einem Mindestgehalt von 5000 Franken fordern und sich dabei auf «Das Kapital» von Karl Marx berufen.

Wenn immer mehr Menschen weniger arbeiten wollen und bereit sind, niedrigere Gehälter in Kauf zu nehmen, verstärkt dies die bereits bestehenden Pro­bleme unseres Pensionssystems. Die Leute werden älter – und das ist auch gut so. Moderne Medizin, gesündere Lebensstile und weniger gefährliche Arbeiten bewirken, dass die Menschen mehr Lebenszeit zur Verfügung haben. Die Schweizerinnen und Schweizer haben aber auch immer weniger Kinder. Und hierin liegt bekanntlich die grosse Schwäche des Umlageverfahrens der AHV. Immer weniger Arbeitstätige müssen eine grös­sere Anzahl Rentenbezüger finanzieren. Die erste Säule der Vorsorge kommt also rein demografisch an ihre Grenzen, wenn sie nicht reformiert wird.

Der Zinseszinseffekt schlägt durch

Die starke Mittelschicht, die das Fundament für den Erfolg der Schweiz ist, hat scheinbar keine Anreize mehr, so viel wie unsere Vorfahren zu arbeiten. Es geht uns ja gut … Work-Life-Balance ist sicher wichtig; auch wenn ein vielbeschäftigter Arzt der alten Garde mal meinte, dass «work part of life» sei und dieses Konzept daher nicht realistisch sei. Durch die geringeren Arbeitsstunden und freiwilligen Lohneinbussen werden weniger Beiträge in die Vorsorge eingezahlt; übrigens auch in die eigene Pensionskasse. Die bereits stark angeschlagene AHV wird dadurch weiter beeinträchtigt, aber weit schlimmer trifft es die Pensionskassen. Das Anlagekapital, welches im Kapitaldeckungsverfahren individuell angespart wird, setzt stark auf die Zinserträge und Zinseszinseffekte. Die exponentielle Entwicklung dieser Effekte, welche das Kapital bei einem langen Anlagehorizont besonders stark vermehren, reduziert sich durch die tieferen Einzahlungen enorm. Das mangelnde Bewusstsein für diese Effekte schafft ein Ungleichgewicht, das langfristig zu einem finanziellen Loch führen wird. Im schlimmsten Fall bricht das System der Altersvorsorge zusammen.

«Durch die geringeren Arbeitsstunden und freiwilligen Lohn­einbussen werden weniger Beiträge in die Vorsorge eingezahlt; übrigens auch in die eigene Pensionskasse.»

Dies mag auf den ersten Blick sehr schwarzmalerisch scheinen, denn es ist durchaus möglich, dass es dem einzelnen reicht, wenn er nur 80 Prozent arbeitet. Das Problem ist aber ein gesellschaftliches. Der Rückgang des Einkommens (zunächst in Form des Lohns, später der Rente) der heute Erwerbstätigen, die in Zukunft zu Rentnerinnen und Rentnern werden, führt zu einer Reduktion des Konsums, welche sich wiederum auf die gesamte Volkswirtschaft auswirkt. Dieser Multiplikationseffekt verstärkt sich weiter mit dem demografisch bedingten, zunehmenden Anteil an Rentenbezügern im System, welche weniger Geld investieren und ausgeben. So kommen die Altersvorsorge und die Wirtschaft immer stärker in Bedrängnis. Ganz zu schweigen vom Effekt, dass bei weniger Arbeit auch Steuersubstrat verlorengeht, worunter die Schweiz als Ganzes leidet.

Die Rente reicht nicht mehr

Aber nicht nur die Wirtschaft und das Vorsorgesystem sind von den Auswirkungen betroffen. Auch für das Individuum können sich langfristig schwerwiegende Konsequenzen ergeben. Wenn jemand bewusst weniger arbeitet und dadurch eine niedrigere Rente in Kauf nimmt, kann dies im Alter zu finanziellen Schwierigkeiten führen. Möglicherweise reicht die Rente nicht aus, um den gewohnten Lebensstandard aufrechtzuerhalten oder unerwartete Ausgaben zu decken. Ganz abgesehen davon, dass die Inflation das Leben mit der Zeit nicht billiger macht. Das Individuum wird möglicherweise auf andere finanzielle Unterstützung angewiesen sein oder seinen Lebensstil stark einschränken müssen. Die jüngeren Generationen bewerten Freizeit jedoch als viel wichtiger als den zukünftigen Wohlstand. Offensichtlich sind viele nicht fähig, die negativen Auswirkungen ihrer Entscheide in der fernen Zukunft zu erkennen, oder das bisherige System begünstigt untragbare Arbeitszeitmodelle zu stark. Oder aber sie nehmen es bereitwillig in Kauf.

Dazu kommt, dass die Arbeitslast mit der abnehmenden Anzahl Vollzeit arbeitender Menschen ungleich verteilt wird. Das könnte auch Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit haben. Wer weiterhin Vollzeit arbeitet, muss möglicherweise zusätzliche Verantwortung übernehmen und länger arbeiten, um den gleichen Output zu erreichen. Dies kann bei Teilen der Bevölkerung zu Überlastung, Burn-out und einer ungesunden Work-Life-Balance führen, während andere ihre zusätzliche Freizeit geniessen. Diese überlasteten Arbeitenden stellen uns ebenfalls vor Herausforderungen, insbesondere für das Gesundheitswesen, aber auch in der Altersvorsorge. Jemand, der aufgrund von Überlastung aus dem Erwerbsleben aussteigt oder längere Zeit nicht arbeiten kann, verursacht enorme Kosten für die Gesellschaft. Es muss also ein gesunder Mittelweg gefunden werden, welcher die individuelle Leistung und das gesellschaftliche Wohlergehen berücksichtigt.

Illustration von Corina Vögele.

Eine stärkere Leistungsorientierung des Pensionssystems kann sowohl für das Individuum als auch für die Gesamtwirtschaft erhebliche Vorteile bringen. Die individuelle Leistung sollte einen stärkeren Einfluss auf die Rente haben. Wer freiwillig weniger arbeitet, sollte nicht durch Zuschüsse auf den gleichen Lebensstandard kommen wie die vielen fleissig Einzahlenden. Dieser Ansatz belohnt diejenigen, die einen aktiven Beitrag zu ihrer Vorsorge und zur Gesellschaft leisten, was letztlich zu höherer Produktivität und höherem Wirtschaftswachstum führt. Ein meritokratischer Ansatz gewährleistet nicht nur die Nachhaltigkeit der Altersvorsorge, sondern trägt insgesamt zu einer gerechteren und wohlhabenderen Gesellschaft bei.

Der Status quo ist keine Option

Eine Diskussion über die Zukunft unserer Altersvorsorge und der Arbeitszeitmodelle ist dringend notwendig. Dabei sollte die Palette möglicher Konsequenzen und Lösungen offengehalten werden. So könnte auch die Einführung einer 4-Tage-Woche eine Option sein, analog der historischen Entwicklung zum heutigen Standard der fünf Arbeitstage. Dies setzt aber gesellschaftliche Akzeptanz, einen gleichbleibenden oder gar steigenden Output durch höhere Produktivität und eine Flexibilisierung der Arbeitstage voraus. Auch könnte dies die Schweiz in der heutigen globalisierten Welt nicht im Alleingang meistern. Zudem müssten Anpassungen an der Altersvorsorge diskutiert oder alternative Ansätze zur Sicherung der finanziellen Zukunft gefunden werden. Der Status quo ist jedenfalls aufgrund der stark veränderten Ausgangslage keine Option. Angesichts des veralteten Vorsorgesystems und der gleichzeitig massiv veränderten gesellschaftlichen Bedürfnisse werden systemische Anpassungen erfolgen müssen.

«Angesichts des veralteten Vorsorgesystems und der gleichzeitig massiv veränderten gesellschaftlichen Bedürfnisse werden

systemische Anpassungen erfolgen müssen.»

Arthur Schopenhauer sagte einst: «Es gibt eine Grenze, bis zu welcher das Nachdenken vordringen und so weit die Nacht unseres Daseins erhellen kann, wenngleich der Horizont stets dunkel bleibt.» Die Exponentialität des Zinseszinseffekts auf unser Vorsorgekapital, aber auch grundsätzliche Fragen zur Zukunft der Altersvorsorge sind uns vielfach nicht bewusst oder werden ausgeblendet. Wir müssen uns den unbequemen Fragen aber stellen, ansonsten drohen uns die Tatsachen hinter dem dunklen Horizont einzuholen.

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