(2) Der Schweizer Föderalismus als Wachstumsbremse?
Föderalistische Institutionen sollten lokale Demokratie und Bürgernähe, wirksame Mitbestimmung und dauerhafte Begrenzung staatlicher Macht gewährleisten. Möglicherweise gefährden sie aber ausgerechnet das, was sie zu schützen vorgeben.
Die Schweiz ist das meistdezentralisierte und kleinräumigste – mithin «föderalistischste» – Land der Welt. Jahrzehntelang haben Politik und Wissenschaft dieses Ideal verteidigt; es sei nicht nur demokratisch und bürgernah, sondern auch liberal und wettbewerbsfreundlich. Nun scheint die Stimmung plötzlich umzuschlagen. Föderalismus wird nicht mehr als Garant dezentraler Entscheide und bürgernaher Politik gesehen, sondern als Hindernis für wirtschaftliche Entwicklung. Die Diskussion erinnert an die Zeit nach den 1989er Revolutionen, als die Wissenschaft die Frage «Bessere Wirtschaftspolitik durch weniger Demokratie?» stellte – und nicht beantwortete. Jetzt ist es nicht die Demokratie, sondern der Föderalismus, der wirtschaftlichem Wachstum und «guter» Wirtschaftspolitik im Wege stehen soll. Die Zustimmung zur «Neuordnung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung» (NFA) vom Herbst 2004 hat die Auseinandersetzung nicht beruhigt, im Gegenteil. Nachdem der «fédéralisme à la Suisse» fast unangreifbar war, scheint er nun plötzlich in argumentativen Notstand zu geraten.
Die Suche nach passenden föderalistischen Strukturen ist älter als der Bundesstaat. Bereits Napoleon hatte sowohl Kompetenzen umverteilen wie Grenzen neu ziehen wollen. Die Bundesverfassung von 1848 schuf ein ausgeklügeltes Gleichgewicht zwischen Föderalisten und Zentralisten, das gegenüber institutionellen Reformen (Kompetenzverschiebungen, Gebietsreformen etc.) grundsätzlich offen blieb und die Diskussion bis weit ins 20. Jahrhundert beruhigte. Erst seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wird wieder über Föderalismusreformen nachgedacht. Die meisten seither publizierten Studien klingen vertraut: die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsräume in der Schweiz klaffen auseinander; die Kantone schotten sich voneinander ab; die Koordination über kantonale und kommunale Grenzen hinweg ist aufwendig, oft intransparent und undemokratisch; und eine schleichende Zentralisierung untergräbt die föderalistischen Fundamente. Die gleichen Themen wurden also schon vor 30 Jahren behandelt, nur dass die hartnäckige Wachstumsschwäche und der desolate Zustand der Staatsfinanzen eine neue Ernsthaftigkeit ins Spiel bringen.
Um es vorwegzunehmen: Föderalismus ist kein Auslaufmodell. «Decentralization» und «local empowerment» stehen oben auf den Agenden internationaler Entwicklungsorganisationen. Und dass die Schweiz mit ihren tief verankerten dezentralen Institutionen hier Vorbild ist, erstaunt nicht. Doch der Vorbildcharakter hat vielleicht den Blick dafür verstellt, dass die föderalistischen Institutionen nur mühevoll mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Schritt gehalten haben. Wodurch die wirtschaftliche Entwicklung einst gefördert wurde, vermag sie heute gebremst zu werden.
Kleinräumigkeit und Dezentralisierung garantieren der Schweiz einen der besten öffentlichen Dienste. Die räumliche Nähe von Steuerzahler und Nutzniesser staatlicher Leistungen zwingt Politik und Verwaltung, sich an die Bedürfnisse der Bevölkerung zu halten. Das Gleichgewicht zwischen direktdemokratischem Widerspruch und Abwanderung reduziert den Spielraum der Bürokratien. Der institutionelle Wettbewerb zwischen den Kantonen, vor allem der Steuerwettbewerb, erhöht die Qualität des öffentlichen Sektors und hält die Steuersätze tief. Finanzwissenschafter, die den Einfluss föderalistischer Strukturen auf die öffentlichen Finanzen untersuchen, kommen immer wieder zum gleichen Ergebnis: Dezentralisierung und Kleinräumigkeit dämpfen den Ausgabendruck. Nur: zwischen 1990 und 2002 stieg die Steuerquote in der Schweiz von 30 auf 36 Prozent, mehr als in jedem anderen europäischen OECD-Mitgliedstaat. Viel dramatischer, aber von den Finanzwissenschaftern weitgehend unbeachtet, war der Anstieg der Transfers an die Kantone (Finanzhilfen und Abgeltungen): während diese 1960 bei rund 2,5 Prozent der Bundesausgaben lagen, betrugen sie vierzig Jahre später fast 30 Prozent. Stimmt das mit dem effizienten Föderalismus also doch nicht?
Bereits in den 70er Jahren hatte der Doyen des Finanzföderalismus, der amerikanische Wirtschaftswissenschafter Wallace E. Oates, auf die Gefahren zu hoher Dezentralisierung für die Wirtschafts- und Finanzpolitik hingewiesen. Ähnlich hat sich vor kurzem die OECD geäussert. Sind die bundesstaatlichen Institutionen nicht robust genug, dann kann der Föderalismus plötzlich ins Gegenteil kippen. Die Überlegungen, die dahinter stehen, spiegeln den kommunalen und kantonalen Alltag wider: lokale Gebietskörperschaften haben gar kein ausgeprägtes Interesse an Steuerautonomie, sondern versuchen in erster Linie, ihre Ausgaben von der nächsthöheren Ebene finanziert zu bekommen. Je kleinräumiger und dezentralisierter ein Bundesstaat, desto einfacher ist dieses Abschieben. Zwar verpflichtet die schweizerische Verfassung den Bund nicht zum «baling out» überschuldeter Kantone. Doch das finanzielle Ergebnis ist dasselbe, wie wenn der Bund im politischen Prozess neue Forderungen akzeptieren muss: die Transferausgaben steigen, Aufgaben werden unnötig zentralisiert, während sich die Kantone – überspitzt formuliert – sanieren.
Die Entwicklung des Finanzföderalismus stützt die Überzentralisierungs-These. Zwischen 1960 und 2002 ist der Anteil der Bundestransfers – wie erwähnt – von 2,5 auf über 29 Prozent gestiegen. Allein zwischen 1990 und 2002 wuchs der Anteil um vier Prozentpunkte. Zehn Kantone hängen heute zu mehr als 30 Prozent am föderalen Tropf, zwei sogar zu über 50 Prozent. Die Schweiz ist heute paradoxerweise jenes Land, in dem die Gebietskörperschaften am meisten von den Zahlungen ihres Zentralstaates abhängen. Die Transfers dienen vor allem dem regionalen Ausgleich, was letztlich auf Kosten der Infrastrukturen in den wirtschaftsstarken Zentren geht und deren Wachstum bremst. Vor allem aber unterhöhlen sie die lokale und regionale Autonomie und degradieren die Kantone zu blossen Erfüllungsgehilfen. Im Schweizer Föderalismus ist also genau das passiert, was föderalistische Institutionen eigentlich verhindern sollen: schleichende Überzentralisierung und Ballung politischer Macht beim Bund. Dass andere föderalistische Länder den gleichen Weg gehen (die OECD hat diesbezügliche Untersuchungen zu Deutschland, Österreich und Mexiko gemacht), tröstet kaum über den eigenen Föderalismusverlust hinweg.
Die Entwicklung der öffentlichen Finanzen ist nur die eine Seite der Medaille, mit der sich föderalistische Institutionen beurteilen lassen. Die andere ist das Verhältnis zwischen Föderalismus und wirtschaftspolitischen Anliegen wie offenen Märkten, Wettbewerb und (individualrechtlicher) Nichtdiskriminierung. In föderalistischen Systemen sind Kompetenzen auf verschiedene Staatsebenen verteilt; sind sie bei Kantonen und Gemeinden angesiedelt, dann sind sie das eben nicht beim Bund. Wettbewerbspolitik ist in der Schweiz keine zentrale Bundeskompetenz. Kommunale und kantonale Kompetenzen stehen deshalb immer in Konflikt mit den Regeln eines Binnenmarktes. Gemeinden und Kantone können Mitbewerber diskriminieren und ihre lokalen, privaten und öffentlichen Monopole schützen. Diese Schwäche hat gerade in der fragmentierten, kleinräumigen Schweiz ihren Preis: so liegen vor allem die Netzindustrien zum Teil grotesk unter dem betrieblichen Optimum (ein schweizerisches Elektrizitätswerk hat durchschnittlich 6000 Kunden, ein britisches 1,8 Millionen); sie verfehlen die «kritische Masse», und die monopolisierten Strukturen treiben die Preise hoch.
Die Spannung zwischen Föderalismus und Binnenmarkt ist bereits in der Verfassung von 1848 angelegt. Die liberalen Freihändler des 19. Jahrhunderts waren dem föderalistischen Gefüge nie besonders wohlgesinnt, sondern wollten für die Sicherung des Wettbewerbs einen starken Bund. Mit dem räumlichen Wachstum der Wirtschaftsräume ist ihr Anliegen noch viel aktueller geworden. Dabei ist nicht das Auseinanderfallen von Gebietskörperschaften und wirtschaftlichen Einzugsgebieten das eigentliche Problem. Entscheidend ist vielmehr, dass die politischen Grenzen für die private wie die öffentliche Wirtschaft eine harte Barriere bedeuten: für den Thurgauer Installateur, der nicht in St. Gallen arbeiten darf, für den Basler Anwalt, der in Genf ein Praktikum nachholen muss, für das Zürcher Elektrizitätswerk, das keinen Strom in den Aargau liefern darf, und für den Tessiner Landwirt, der nicht in einem Zürcher Spital behandelt wird. Im Einklang mit föderalistischen Prinzipien darf eine Gemeinde ein Taxireglement erlassen, das nichtansässige Taxifahrer ausschliesst. Föderalistische Gruppenrechte können Individualrechte verletzen – ein föderalistischer Staat ist nicht per se liberal.
Nichtdiskriminierung und gegenseitige Anerkennung sind die Grundlagen eines Binnenmarktes im föderalistischen Staat. In der Schweiz stehen damit neben dem Binnenmarktgesetz auch das Steuerrecht, das Submissionswesen, die Regionalpolitik, vor allem aber die Regulierung und Öffnung der Netzindustrien zur Debatte. Zwar setzt gerade die gegenseitige Anerkennung viel Vertrauen zwischen den kantonalen Gesetzgebern voraus, doch für den föderalistischen Staat ist dieses Prinzip absolut zentral: es schafft die Voraussetzung dafür, dass Kantone ihre Kompetenzen nicht via «Harmonisierung» an den Bund abtreten müssen. Hier zeigen sich die Vorzüge dezentraler Strukturen: gilt jede kantonale Regulierung in der ganzen Schweiz, dann löst dies jenen «Wettbewerb der Institutionen» aus, der in zentralisierten Staaten weitgehend fehlt. Dass sich ein offener Binnenmarkt mit Föderalismus verträgt, zeigt Deutschland, dessen fragmentierter Binnenmarkt und dessen Netzindustrien liberalisiert wurden, ohne dass Bundesländer, Landkreise und Gemeinden für sie wichtige Kompetenzen aufgeben mussten.
Wirtschaft und Gesellschaft haben sich seit Gründung des Bundesstaates fundamental verändert. Das föderalistische, fragmentierte Regelwerk hält mit der Verflechtung wirtschaftlicher Aktivitäten nur noch bedingt mit. Der zersplitterte Binnenmarkt treibt Kosten und Preise in die Höhe und verhindert Innovationen in der privaten Wirtschaft wie bei den öffentlichen Diensten. Die mangelnde Anpassung der föderalistischen Institutionen schadet letztlich dem Föderalismus selbst. Die Zentralisierung zahlreicher Aufgaben beim Bund und die Abhängigkeit der Kantone von föderalen Transfers unterhöhlt nicht nur föderalistische Ideale, sondern läuft auch dem Prinzip einer effizienten öffentlichen Wirtschaft zuwider. Föderalismusreformen sollten deshalb zwei Richtungen folgen. Sie sollen einerseits die föderalistischen Institutionen revitalisieren und andererseits den Föderalismus mit den Prinzipien einer liberalen, auf nationale und internationale Öffnung bedachten Wirtschaftspolitik verbinden. Drei Strategien sollen nur stichwortartig vorgestellt werden.
Erstens: Reorganisation des Finanzföderalismus. Der erste Schritt hierzu ist gemacht; im Herbst 2004 ist die «Neuordnung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung» (NFA) in der Volksabstimmung angenommen worden. Die verschiedenen Verfassungsreformen stellen den Finanzföderalismus auf neue Beine und erhöhen insbesondere die Finanzautonomie der Kantone. Die Abstimmung markiert die umfassendste Föderalismusreform seit Gründung des Bundesstaates. Wichtigste Aufgabe der NFA-Reformer wird es sein, die neue Philosophie in konkrete Gesetze umzusetzen und gegen Widerstände von Partikularinteressen zu verteidigen.
Zweitens: Schaffung eines offenen Binnenmarktes. Man muss den Föderalismus nicht zerschlagen, um offene Märkte zu bekommen. Doch Wettbewerbspolitik gehört auf die nationale, wenn nicht die internationale Ebene. Für die Versöhnung von Föderalismus und offenen Märkten sind zwei Prinzipien zentral: die Nichtdiskriminierung und die gegenseitige Anerkennung bzw. die Weiterentwicklung des «Cassis-de-Dijon-Prinzips». Ein konsequentes Binnenmarktprogramm umfasst deshalb nicht nur das Binnenmarktgesetz und das kantonale Beschaffungs- und Subventionsrecht, sondern regelt auch den Zugang zu kantonalen und kommunalen Netzwerken und «klassischen» öffentlichen Diensten bis hin zu Volksschule oder Gesundheitswesen.
Drittens: Verfasste Zweckregionen. Für gewisse öffentliche Aufgaben sind die Einzugsgebiete von Kantonen und Gemeinden zu klein. Statt letztere zu fusionieren oder Kompetenzen beim Bund zu zentralisieren, lassen sich Gebietskörperschaften von der Aufgabe («Funktion») her denken, die sie zu übernehmen haben. «Verfasste Zweckregionen» («functional overlapping competing jurisdictions, FOCJ») sind demokratisch verfasste, von unten her aufgebaute Verbünde von Kantonen und Gemeinden, die eine oder mehrere öffentliche Aufgaben übernehmen. Zweckregionen weichen die starren politischen Grenzen auf und erlauben insbesondere die Nutzung von Grössenvorteilen.
Reformen sollen den Föderalismus revitalisieren, nicht abschaffen. Es ist ein Mythos zu glauben, mit Zentralisierung politischer Macht wäre etwa eine wirtschaftspolitische Reformagenda schneller vorwärts zu bringen. Zentralistische Staaten sind nicht reformorientierter als föderalistische, und Politik wird nicht besser, wenn sie auf höherer Ebene beschlossen wird. Föderalistische Strukturen können viel besser neue Ideen aufgreifen und austesten. Dieses Wissens-, Innovations- und Wettbewerbspotential liegt heute oft begraben. Föderalismusreformen können es freilegen.