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Der Schweiz geht es gut

Entgegnung auf Fabian Schnells Kritik des angeblich herrschenden Neoetatismus in der Schweiz*

Auf der einen Seite die Neoliberalen, auf der anderen Seite die Etatisten – das ist eine Geschichte, die seit 20 Jahren erzählt wird, wobei je nach Perspektive erstere oder letztere die Guten sind. Dass sie immer wieder erzählt wird, macht sie freilich nicht wahrer. Denn «Neoetatisten» haben sich genauso wenig durchgesetzt wie «Neoliberale». Blicken wir zurück.

Seit Mitte der 1990er Jahre wird die neoliberale Gesellschafts- und Wirtschaftsdiagnose in der Schweiz verkündigt. Sie lautet: die Schweiz ist krank. Sie leidet unter «Überregulierung». Gegen diese Krankheit hilft angeblich nur die neoliberale Therapie: Deregulierung von Binnen- und Aussenmarkt, Privatisierung von Staatsbetrieben, Entschlackung des «überbordenden Sozialstaates», insbesondere der Altersversicherung, Deregulierung des Arbeitsmarktes. Falls der Patient die verordnete Therapie nicht endlich schluckt, wird er böse enden – er wird massiv geschwächt und verliert seine Wettbewerbsfähigkeit.

Als gute Beispiele für erfolgreiche Therapien wurden wahlweise Chile, Neuseeland und Irland angeführt, die die verordnete neoliberale Medizin alle appliziert hatten und – angeblich – mit tigergleichen Kräften vorpreschten. Sollte die Schweiz nicht ebenfalls den «Mut zum Aufbruch» gemäss neoliberalem Rezept aufbringen, so würde sie bald einmal zum «Armenhaus Europas» verkommen. So lautete die Drohung, welche der ehemalige Chef des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), Jean-Daniel Gerber, noch im Jahre 2005 ausstiess.

Im Jahre 2011 strotzt die Schweizer Wirtschaft vor Gesundheit, und sogar die neoliberalen Untergangspropheten von einst sprechen neuerdings von einer «Erfolgsgeschichte», ja sogar von einem «Wirtschaftswunder Schweiz» (so der Titel eines neuen Buches von Gerhard Schwarz und James Breiding).

Was ist passiert? Wurden die staatliche Post, die Eisenbahn und Spitäler privatisiert, wie das neoliberale Programm forderte? Der Arbeitsmarkt radikal liberalisiert? Die staatliche Altersversicherung abgebaut? Nein. Die Deregulierungspolitik hat in der Schweiz – zum Glück – nur beschränkte Erfolge vorzuweisen.

«Mit der Reformfähigkeit der schweizerischen Politik ist es nicht weit her», klagt Fabian Schnell bitter in der letzten Ausgabe dieses Magazins. Er jammert, wie einst vor 15 Jahren die Autoren des Buches «Mut zum Aufbruch», dass die «heiligen Kühe» des
Service public in der Schweiz noch immer nicht geschlachtet seien, die AHV nicht coupiert, ja nicht einmal der BVG-Umwandlungssatz gekürzt werden konnte. Damit bestätigt Schnell, was ihm eigentlich gegen den Strich geht: der Patient hat die Medizin gar nicht
geschluckt – und es geht ihm trotzdem gut.

Die Schweiz steht seit Jahr und Tag wirtschaftlich besser da als die meisten westlichen Länder. Hohes Wachstum des Volkseinkommens pro Kopf, tiefste Staatsverschuldung, vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit, tiefe Inflation, viel Innovation (Anzahl Patente), hohe Renditen. Dies alles ist übrigens nachzulesen im bereits erwähnten Buch von Schwarz und Breiding.

War der Patient also vielleicht gar nie krank? Oder hat er eine andere Medizin geschluckt? Die Antwort lautet: die neoliberale
Diagnose war falsch, die verordnete Therapie ebenso.

Die wahren Probleme
In der ersten Hälfte der 1990er Jahre steckte die Schweizer Wirtschaft effektiv in einer tiefen Krise:
– Die internationale Rezession traf die Schweiz hart, wobei sie sich mit einer hausgemachten Krise kombinierte: in den 1980er Jahren war eine Immobilienblase angeschwollen, die 1991 platzte und bei den Banken und in der Bauwirtschaft Löcher aufriss, die –
gemessen am Bruttoinlandprodukt der Schweiz – so gross gewesen sein dürften wie jene in den USA in den Jahren 2007 ff.
– Die Industrie erwies sich in dieser Zeit als lethargisch und wenig kompetitiv: weder bezüglich Innovation noch bezüglich Produktivität war sie auf der Höhe der Zeit.
– Schliesslich zeigten sich die Folgen der falschen Migrationspolitik, die jahrzehntelang auf fremdenpolizeilich kontingentierte billige Arbeitskräfte gesetzt hatte.
– Und obendrein verlängerte die Schweizerische Nationalbank mit einer falschen Währungs- und Zinspolitik, die den Franken zu stark hielt, die Krise.

Dies waren die Hauptkrankheiten der Schweizer Wirtschaft in den 1990er Jahren. Die Diagnose der Neoliberalen lag also völlig daneben: nicht die Überregulierung oder ein Zuviel an Staat war die Ursache der Probleme, sondern die falschen wirtschaftspolitischen Regulierungen und Anreize bezüglich Bau- und Hypothekarmarkt, bezüglich Immigration, bezüglich Förderung innovativer Industrieproduktion, bezüglich Währungspolitik. Wenn die Schwei–zer Wirtschaft nach der Jahrtausendwende wieder in Schwung kam und ab 2005 beinahe abhob, ist dies wesentlich der Überwindung dieser Probleme zu verdanken.

Die wahren Lösungen
Arbeiter, Angestellte, Ingenieure, Unternehmensleitungen haben die Industrie und das Baugewerbe aus dem Tal der Tränen der 1990er Jahre herausgeschafft und hochkompetitive Betriebe mit innovativen Produkten hervorgebracht. Sie taten dies, nachdem
viele bereits ein Kreuz über die Zukunft der Schweizer Industrie gemacht hatten.

In der Einwanderungspolitik wurden die Weichen umgestellt in Richtung Personenfreizügigkeit, was keineswegs einfach eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes bedeutete, sondern mit den flankierenden Massnahmen einer Neuregulierung gleichkommt. Die Abkehr von der jahrzehntelang auf kurzfristige Zufuhr von Billigarbeitskräften ausgerichteten «Fremdarbeiterpolitik» war
arbeitsmarktlich der Erfolgsfaktor – und nicht etwa die marginalen, vom Neoliberalismus beförderten Liberalisierungen.

Als wichtige stabilisierende Faktoren haben sich in den Rezessionen von 2003 und 2008 zudem die Sozialversicherungen erwiesen, die Altersrenten und die Arbeitslosenversicherung. Sie haben die Binnenkaufkraft gestützt und – als soziales Auffangnetz – die Risikobereitschaft der Arbeitnehmer.

Schliesslich hat die Schweizerische Nationalbank die Lehren aus den Fehlern der 1990er Jahre gezogen.

Dies waren die grösseren Änderungen, die die wirtschaftliche Genesung ermöglicht haben. Die vergleichsweise marginalen «Liberalisierungen», wie beispielsweise der Abbau von Schwellen im Binnenmarkt, einzelne Teilprivatisierungen, teilweise verlängerte Ladenöffnungszeiten oder Nachtarbeit, haben demgegenüber bei der Wende vom Trend Richtung «Armenhaus» zum «Wirtschaftswunder Schweiz» kaum eine Rolle gespielt. Entsprechendes Selbstlob der Seco-Verantwortlichen Gerber und Brunetti ist deshalb unglaubwürdig. Denn der Staatsabbau war in der Schweiz minimal; «das neoliberale Zeitalter hat gar nie stattgefunden», wie Fabian Schnell treffend schreibt. Zum Glück, kann man da nur sagen. Denn die neoliberale Diagnose ist so falsch wie die neoliberale Therapie. Die uns damals vorgeführten Musterknaben wie Irland sind heute das Armenhaus Europas.

Was ist die Moral von der Geschicht’? Ideologische Scheingefechte bringen nichts. Die Auseinandersetzung Deregulierung versus Regulierung ist so steril wie die Kritik am angeblich herrschenden Etatismus. Statt das neoliberale Medizinbuch zu repetieren, analysieren wir besser ganz konkret die realen Probleme und Stärken, ziehen Schussfolgerungen daraus und streiten uns über die realen Alternativen. Dieser Beitrag wäre ein Anfang dazu.

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